Von Reykjavik bis Wladiwostok

von Volkmar Wölk
Magazin »der rechte rand« Ausgabe 176 - Januar / Februar 2019

#NeueRechte

Die verspätete Entdeckung des Jean Thiriart durch die deutsche »Neue Rechte«

Als »Minenhund für künftig Zumutbares« wird er auf dem neu-rechten Blog »Sezession« charakterisiert. Man mag darüber streiten, ob die bisherigen Texte des Studenten und »Identitären« Till-Lucas Wessels für den Blog und die gleichnamige Zeitschrift eine Zumutung darstellen oder ob sie eher belanglos sind. Unbestreitbar ist, dass der »Minenhund«, der mit hohem Risiko gefährliches Gelände erkundet, nicht zur ersten Garde der »Neuen Rechten« gehört. Nicht einmal der deutschen.

Rechte Europa-Konzepte
Nun ist Wessels mit seiner ersten eigenständigen Veröffentlichung hervorgetreten, einem Bändchen in der Reihe »kaplaken« des Verlags »Antaios«: »europaradikal«. Die eigenwillige Schreibweise soll wohl andeuten, dass der Inhalt anders ist als in diesem Umfeld üblich. In der Tat werden »Konzepte einer europäischen Zukunft« – so der Untertitel – in der deutschen extremen Rechten selten debattiert. Das Thema »Europa« verengt sich in diesem Spektrum meist auf die Kritik an der EU, auf das Beschwören eines »Europas der Vaterländer«, Rückgriffe auf das »Mitteleuropakonzept« wie bei Karlheinz Weißmann oder Bernard Willms, und begnügt sich in der Regel mit dem Ausspielen von Nation gegen Europa.
Jetzt aber, die Wahlen zum Europaparlament vor der Tür und die EU in einer tiefen Krise, ertönt der Ruf: »europaradikal«. Auf die Fragen unserer Epoche, laut Wessels die soziale Frage, die demographische Entwicklung, die »wachsende Macht der Großkonzerne«, die zunehmende Vereinzelung durch die »globalisierten Verwertungsmechanismen«, das »gesellschaftliche Solidaritätsvakuum, könne es nur eine Antwort geben: Europa. Wessels stellt sich der Aufgabe, aufzuzeigen, »auf welche Denker und Konzepte unseres eigenen Lagers wir zurückgreifen können«. Der Nationalstaat sei nicht mehr als die »momentane, sich allmählich abstreifende Organisationshülle« der bürgerlichen Gesellschaft. Das »Europa der Vaterländer« sei nicht mehr als »Beschwichtigungsgeraune«, die »nationale Souveränität« ein »Vergangenheitspostulat«.

»Konservative Revolution«
Einen ersten Teil, der Darstellung des Status Quo gewidmet, folgen das »Repertoire von rechts« und die Frage »Was tun?«. Bei der Präsentation der rechten Konzepte verweist Wessels darauf, dass »im Angesicht des virulent werdenden Amerikanismus« zunehmend auf Vertreter der »Konservativen Revolution«, wie Ernst Niekisch, Ernst von Salomon und Otto Strasser, zurückgegriffen worden sei, die »für eine Annäherung an die Sowjetunion« eingetreten seien. An diese hätten dann auf europäischer Ebene »eurasische Denker«, wie der Belgier Jean Thiriart und dessen italienischer Schüler Carlo Terracciano, angeknüpft. »Gemein war beiden«, fasst Wessels zusammen, »die Ablehnung des überholten Nationalstaates und das Bekenntnis zu einem (…) eurasischen Machtblock.«
Jean Thiriart, ein 1922 geborener belgischer Optikunternehmer, ist in der deutschen extremen Rechten nahezu unbekannt. Lediglich seine Bücher »Eine Weltmacht von 400 Millionen Menschen: Europa« und »Das Vierte Reich: Europa« erschienen in deutscher Übersetzung. Der dort vertretene »paneuropäische, gross-europäische Nationalismus«, so einer seiner Schüler, sei geformt durch die Werke von Niccolò Machiavelli, Bertrand de Jouvenel, seinem Lieblingsautor Vilfredo Pareto, Gaetano Mosca, Robert Michel, James Burnham, José Ortega y Gasset, José Antonio Primo de Rivera, Wladimir Iljitsch Lenin und Julien Freund. Es handelt sich durchweg um Denker, die Thiriart zu der Überzeugung bringen, »dass nur ein Reich eine so große Nation wie Europa zusammenschmieden kann«.

Wenig Widerhall
In Deutschland fanden weder die Bücher noch Thiriarts europaweite Organisation mit Sektionen in elf Ländern nennenswerten Widerhall. Nur wenige Mitstreiter scharten sich um den Mitarbeiter der Zeitschrift »Mut«, Hans-Joachim Kunze, und um Wulf Riedell. Organisatorische Kontakte der deutschen Sektion bestanden vor allem zum »Bund Heimattreuer Jugend« (BHJ), wobei der Hannoveraner Klaus Jahn, der einen Versandbuchhandel für neofaschistische Literatur leitete und Standortführer des BHJ war, als offizieller Verbindungsmann fungierte. 1968 suchte Jahn mit einer Anzeige in der »National-Zeitung« »ganze Kerle (bis 40 Jahre)« für ein »Hilfskorps Arabien des BHJ«. Ebenfalls in Hannover ansässig war Walter Löwen, Inhaber des »Moorburg-Verlags«, der 1961 seinen »Bund der Europäer« in Thiriarts Gruppe einbrachte und bei der Gründungsversammlung am 1. Oktober in Köln Vorsitzender des deutschen Ablegers wurde. Bereits 1963 gab es Differenzen und Löwen spaltete sich mit anderen Kritikern Thiriarts ab. Bis auf wenige Rednerauftritte Thiriarts in Norddeutschland kam es zu keinen nennenswerten Aktivitäten.

Die Europa-Ausgabe @derrechterand zum kostenlosen download

Verhaftet
Eine gewisse Aufmerksamkeit erregten seine Aktivitäten in der Bundesrepublik lediglich, als der rechte Nachrichtendienst »Studien von Zeitfragen« 1962 vermeldete, Thiriart sei bei seiner Rückkehr von einem Faschistentreffen in Venedig verhaftet worden: »Pressemeldungen zufolge wurde ihm vorgeworfen, er habe illegal Waffen für die Truppen Tshombes nach Katanga geliefert.
Thiriart stand im Zentrum sowohl der Einigungsbemühungen des europäischen Neofaschismus als auch der militanten Unternehmungen der damaligen Zeit, besonders bei der Unterstützung der französischen »Organisation Armée Secrète« (OAS), die mit Waffengewalt und Attentaten die Unabhängigkeit Algeriens von Frankreich verhindern wollte. Es war nur natürlich, dass sich Thiriart der OAS verbunden fühlte, denn am Beginn seiner eigenen Nachkriegsaktivitäten hatte der Widerstand gegen die Eigenständigkeit der damaligen belgischen Kolonie Kongo gestanden. Von seinem Militanzkult jener Tage mochte sich auch der späte Thiriart nicht distanzieren. 1987 erklärt er in einem Interview: »Mir haben 500 Mann SA oder Rote Garden gefehlt. Ich verfügte bestenfalls über 50 wirkliche Kämpfer. Uns sind einige bemerkenswerte offensive Kommandounternehmen gelungen.« Mit dieser Zahl könne man zwar nach Art der Fallschirmspringer eine Übermacht terrorisieren, jedoch nicht auf Dauer standhalten.


Eigentlich wollte Thiriart mit seiner geplanten europäischen Einheitspartei aus dieser Defensive heraus. Dazu war er bereit, ungewöhnliche Wege zu gehen. Aus der Überlegung heraus, dass Europa ein gemeinsames Interesse haben müsse, sich die billigen Rohstoffquellen des Trikonts zu erhalten, war sein »Mouvement d›Action Civique« (»Bewegung der Bürgeraktion«; MAC) entstanden. Dort arbeitete Thiriart, der als Linker begonnen hatte und dann zum Nazi-Kollaborateur geworden war, sogar mit Leuten aus der Résistance, dem Widerstand gegen die Nazi-Besatzer, zusammen. Auguste Minet wurde 1941 zum Tode verurteilt, da er abgeschossenen britischen Fliegern geholfen hatte. Anschließend saß er bis zum Kriegsende 51 Monate in Nazihaft. Raphael Matyn gehörte in der NS-Zeit zur Résistance und musste deshalb KZ-Haft erleiden. Der Oberst in Rente, Marcel Verlinden, emigrierte 1942 nach London und kämpfte im Krieg auf der Seite britischer Truppen in Afrika. Sie trafen in der Gründergruppe des MAC auf Personen wie M. Moreau, der in der NS-Wehrmacht an der Ostfront gekämpft hatte. Aus nationalistischen Erwägungen hatten sie gegen die Nazis gekämpft, nicht weil diese Faschisten waren, sondern weil sie Besatzer waren. Aus europäischen Überlegungen heraus hatte der Rest von ihnen auf Seiten der Deutschen gekämpft, da nur sie über die Fähigkeiten zu verfügen schienen, ein einheitliches europäisches Reich zu schaffen.
Zu diesen ungewöhnlichen Wegen gehört auch, dass unter dem Symbol des Keltenkreuzes und dem Wahlspruch »Europa fortis unitate« (»Ein starkes geeintes Europa«) als Ausdruck einer dritten Weltmacht als Bollwerk gegen die Supermächte USA und UdSSR nach dem Verlust der Kolonien ein Bündnis mit den Staaten der »Dritten Welt«, die ihre Unabhängigkeit erkämpft hatten, als unverzichtbare Option gilt. Nicht zuletzt zur Sicherung der Rohstoffe für Europa wollte er die Bewegung der Blockfreien stützen, eine »europäisch-arabische Symbiose« schaffen. Die Avancen fanden dort teilweise Widerhall. 1966 kam es durch Vermittlung Rumäniens Staatspräsidenten Nicolae Ceaucescus zu einem Treffen mit dem chinesischen Ministerpräsidenten Tschou en Lai, 1968 zu einer Begegnung mit dem ägyptischen Staatschef Gamal Abdel Nasser sowie dem argentinischen Diktator Juan Péron. Fast folgerichtig entstand eine Zusammenarbeit zwischen der sich antiimperialistisch gebärdenden »Jeune Europe« und palästinensischen Gruppen. Der erste Europäer, der im bewaffneten Kampf gegen Israel fällt, ist der französische Ingenieur Roger Coudroy, ein Mitglied der 1962 von Thiriart gegründeten »Jeune Europe«.
Auch wenn Thiriarts Bestrebungen zur Schaffung einer europäischen nationalbolschewistischen Einheitspartei bereits Ende der 1960er Jahre in das Reich rechter Wunschträume verwiesen wurden, blieben die damals erarbeiteten Konzepte keineswegs folgenlos. In Spanien, mit Förderung der dortigen falangistischen Regierung, bestand zwischen 1964 und 1971 eine Sektion der »Jeune Europe« aus wenigen hundert Mitgliedern. Die Nachwirkungen sind deutlich in der dortigen »Neuen Rechten« zu spüren. Und in Italien, wo »Jeune Europe« zur Blütezeit über rund 500 Aktive verfügte, gehörten Intellektuelle zur Führung, die wichtig für die Herausbildung der dortigen »Neuen Rechten« waren und es wie Claudio Mutti oder Franco Cardini bis heute sind. Nicht zuletzt im französischen »Groupement de recherche et d›études pour la civilisation européenne« (GRECE) und dessen Umfeld, so beim belgischen Ideologen Robert Steuckers, wurden Thiriarts Ideen rezipiert.

Keine Folgen
Thiriart starb am 24. November 1992. Seinen großen Traum durfte er noch verwirklichen. Im August 1992 reiste er mit einer Delegation hochrangiger Repräsentanten der »Neuen Rechten« nach Moskau. Auf dem Programm stand ein Treffen mit Igor Ligatschow, ehemaliger stellvertretender Generalsekretär der »Kommunistischen Partei der Sowjetunion«, und eine Debatte mit Gennadij Sjuganow, Vorsitzender der »Kommunistischen Partei« Russlands. Im gleichen Monat war er Autor in der ersten Ausgabe der russischen »Elemente« von Alexander Dugin mit einem Artikel über den europäischen Nationalbolschewismus der »Linie Niekisch-Stalin«. Nun also entdeckt ihn die deutsche »Neue Rechte«. Ob das dort Folgen haben wird, darf bezweifelt werden.