Der Sonderfall?
von Florian Weis
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 207 - März | April 2024
#Großbritannien
Rechtsruck und Brexit, aber keine dauerhaft starke rechte Partei.
Lange schien zu gelten: Deutschland ist eine Ausnahme in Europa, wenn es um den scheinbar unaufhaltsamen Aufstieg rechtspopulistischer bis hin zu faschistischen Parteien ging. Eine – in diesem Falle gute – historische Tabuisierung sowie die Dummheit der hiesigen extremen Rechten waren wesentliche Gründe dafür. Dann kam die »Alternative für Deutschland« (AfD) auf und vollzog in vielen Schritten den Weg hin zu einer Partei, in der aggressive Faschist*innen immer stärker wurden. So blieb Spanien übrig, bis »Vox« ein nationaler Faktor wurde, wenngleich die Partei 2023 einen leichten Rückschlag erlebte. Spätestens seit dem 10. März 2024, fast genau fünfzig Jahre nach dem Sturz der rechten Diktatur durch die Nelkenrevolution, ist nun auch Portugal keine löbliche Ausnahme mehr in Europa.
Bleiben also nur noch das Vereinigte Königreich und Irland als Ausnahmen von der schlechten neuen europäischen Normalität? In beiden Ländern werden spätestens im Januar oder Februar 2025 die nationalen Parlamente gewählt. Auf den ersten Blick scheint es so, dass es bei der Sondersituation bleiben wird. Bei genauerem Hinsehen fällt das Urteil jedoch weniger eindeutig aus. Die Gründe dafür sind zum einen das strikte britische Mehrheitswahlrecht, zum anderen der Brexit und die tiefgreifenden politischen Verschiebungen, die er bewirkt hat. Bei Wahlen für das Unterhaus konnte, von einer Ausnahme abgesehen, keine rechtspopulistische oder gar offen faschistische Partei Mandate gewinnen. Die wesentliche Ausnahme war 2015 die »United Kingdom Independence Party« (UKIP), die spektakuläre 13 Prozent der Stimmen errang, aufgrund des Wahlrechts aber nur einen Sitz bekam. Weder Oswald Mosleys »Schwarzhemden« vor und nach dem Zweiten Weltkrieg noch die »National Front« (NF) in den 1970er und 1980er Jahren, noch die »British National Party« (BNP) in den Folgejahrzehnten, allesamt mehr oder weniger unverhohlen faschistische Parteien, konnten bei regulären Wahlen Unterhaussitze gewinnen. Allerdings stellten sowohl Mosleys Formationen als auch die NF aufgrund ihrer intensiven Straßengewalt eine große Bedrohung für Linke, Jüdinnen und Juden, Schwarze und andere Minderheiten dar. Rechtspopulistische Einzelkandidat*innen oder solche am rechten Rand der Konservativen konnten insbesondere bei Nachwahlen kurzzeitig erfolgreich sein, doch ein nationaler Durchbruch gelang nie.
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Brexit-Kampagne als Gamechanger
Auch wenn die UKIP 2015 nur einen Sitz errang, versetzte ihr Anteil von einem Achtel aller Stimmen die konservative Führung um den damaligen Premierminister und heutigen Außenminister David Cameron in Panik. Um die UKIP einzudämmen, hatte Cameron vor den Wahlen 2015 ein Referendum über einen modifizierten Verbleib oder den Austritt aus der EU versprochen. Sein dreifaches Kalkül, der UKIP den Wind aus den Segeln zu nehmen, die EU zu Zugeständnissen an Großbritannien zu zwingen und anschließend ein Referendum zu gewinnen, scheiterte spektakulär: 52 Prozent der Brit*innen stimmten bei einer vergleichsweise hohen Wahlbeteiligung von 72 Prozent für den Austritt aus der EU. Die UKIP verlor bei der nächsten Wahl fast alle Wähler*innen, nachdem ihr schillernder Anführer und zeitweiliger Europaabgeordnete Nigel Farage sie verlassen hatte, aber der Schaden war unwiderruflich angerichtet. Und Farage hatte Gefallen an seiner Rolle als rechter Provokateur und Treiber der Konservativen gefunden. 2019 errang seine damalige Brexit-Partei bei den – angesichts des bevorstehenden Austritts aus der EU weitgehend sinnfreien – Europawahlen in Großbritannien 30 Prozent der Stimmen bei einer geringen Wahlbeteiligung von 37 Prozent. Kurz danach wurde Boris Johnson Premierminister und gewann die Unterhauswahlen im Dezember 2019 deutlich mit rund 44 Prozent der Stimmen. Er folgte in wesentlichen Teilen der Agenda von Farage und vollzog den Brexit. Die »Brexit Party« wurde zur »Reform Party«, deren führende Figur wiederum Farage ist, wobei sie in diesem Jahr durch den vorherigen stellvertretenden Vorsitzenden der Konservativen, Lee Anderson, spektakulären Zuwachs erfuhr. Programmatisch ist die »Reform Party« wie alle Projekte von Farage bewusst vage und schillernd angelegt, hat aber einen national-populistischen Kern. Sie verbindet wirtschaftsliberale Elemente wie etwa Steuersenkungen und Freihandelsabkommen mit einer Verteidigung des staatlichen Gesundheitsdienstes NHS, Einwanderungsfeindlichkeit mit Forderungen nach mehr direkter Demokratie, Bekämpfung von Corona-Schutzmaßnahmen mit Forderungen nach niedrigeren Energiepreisen. Alle Farage-Parteien sind keine faschistischen Formationen, aber populistische Ressentimentsparteien.
Trumpisierung der Konservativen
Der vielleicht wichtigste innenpolitische Effekt der Brexit-Kampagne ist die Verwandlung der konservativen Partei in einer – wenn auch nicht ganz so konsequent unwiderruflichen – Weise wie diejenige der Republikaner in den USA. Rishi Sunak mag als Premierminister zumindest im Auftreten an einen klassischen britischen Konservativen erinnern, was für seine schrillen Vorgänger*innen, Boris Johnson und Liz Truss, schwerlich gelten kann. Doch die von Sunak geführte Partei hat sich in den letzten acht Jahren sowohl von einem traditionellen politischen Konservativismus entfernt als auch von den konservativen Revolutionär*innen um Margaret Thatcher und der Zeit unter David Cameron. Sunak hat eine gesellschaftliche Modernisierung und Diversifizierung der Partei – der Frauenanteil an der Spitze der Konservativen hat sich ebenso stark erhöht wie derjenige von Minister*innen aus »ethnischen« Minderheiten – umgesetzt. Parallel dazu wurde eine verheerende Austeritätspolitik vorangetrieben. Schrille Kulturkämpfer*innen wie Priti Patel und Suelle Braverman stehen nicht nur für eine rigorose Anti-Migrationspolitik (»Ruanda-Plan«), sondern auch für eine stetige Eskalation der Formen politischen Auseinandersetzung. Ob sich die Partei nach einer wahrscheinlichen Niederlage bei den bevorstehenden Wahlen weiter in Richtung der Trump-Republikaner radikalisiert, oder ob sie einen seriöseren Reformprozess einleitet, bleibt abzuwarten. Die Gefahr der dauerhaften Trumpisierung ist groß – ein Erbe der Brexit-Kampagne, das den fatalen Austritt aus der EU überdauert hat.