Luckes AfD: Sammlung ohne Leitplanken

von Sebastian Friedrich
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 200 - Januar / Februar 2023

#Entwicklung

Zwar unterscheidet sich die heutige völkisch-nationalistische »Alternative für Deutschland« von der, die einst neoliberale Volkswirte um Bernd Lucke gegründet haben. Doch die Partei war von Anfang an als Sammlungspartei konzipiert. Lucke selbst hat die weitere Öffnung nach rechts forciert.

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Bernd Lucke mit selbst gemachtem AfD-Poloshirt 2013 in Hannover @ Mark Mühlhaus / attenzione

Zur Zeit ihrer Gründung wurde die »Alternative für Deutschland«
(AfD) als Partei von in die Jahre gekommenen Volkswirtschafts­professor*innen wahrgenommen. Tatsächlich zählten zu den ersten Mitgliedern viele mit Professorentitel, die vor allem der Euro-Politik der Bundesregierung kritisch gegenüberstanden. Dennoch greift es zu kurz, die Gründung der Partei auf die Eurokritik zu verengen. Vielmehr war sie eine Sammlungspartei mit zwei unterschiedlichen Strömungen: Zu den neoliberalen Eurokritiker*innen gesellten sich rechtskonservative Kulturkämpfer*innen. Beide fanden zusammen, weil es in ihren jeweiligen ursprünglichen Lagern zu Spaltungen kam.

Nationalneoliberale gegen die Regierung
Bereits ab 2010 haben sich vermehrt national gesinnte neoliberale Volkswirt*innen organisiert, um Einfluss auf den damaligen Euro-Kurs der Bundesregierung zu nehmen. So entstand etwa im Februar 2011 eine Stellungnahme gegen den Plan der europäischen Finanzminister*innen, einen dauerhaften »Europäischen Stabilitätsmechanismus« (ESM) einzurichten und den Euro-Rettungsschirm auszudehnen. Volkswirt*innen und Teile aus mittelständischen Kapitalfraktionen richteten sich gegen eine Vergemeinschaftung der Schulden, die zu diesem Zeitpunkt vor allem in Bezug auf Griechenland im Gespräch war.
Es folgten mehrere Aufsätze von Bernd Lucke und Kolleg*innen in großen Tageszeitungen, um Einfluss auf die damalige liberalkonservative Bundesregierung zu nehmen. Innerhalb der schwarz-gelben Koalition wurde zu diesem Zeitpunkt die Forderung einer flexiblen Währungsunion und der damit zusammenhängende mögliche Rauswurf Griechenlands aus dem Euro-Raum diskutiert. Kurz gesagt, es standen sich im liberalkonservativen Lager zwei unterschiedliche Europakonzepte gegenüber. Eines, das gemeinsam mit dem exportorientierten Kapital auf eine Vertiefung der europäischen Integration in wirtschaftlicher Hinsicht setzte, und eines, das mit mittelständischen Kapitalfraktionen stärker die nationalstaatliche Souveränität betonte und der EU und dem Euro kritisch gegenüberstand. Neoliberale versus Nationalneoliberale.

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Die Hoffnungen der nationalneoliberalen Volkswirt*innen, die Bundesregierung würde ihren Empfehlungen folgen, erfüllten sich nicht. Am 29. Juni 2012 stimmte der Bundestag dem ESM zu. Die legendären Worte Wolfgang Schäubles wenige Wochen später »It will not happen that there will be a Staatsbankrott in Greece« und damit das Bekenntnis, dass Griechenland nicht aus der Währungsgemeinschaft ausgeschlossen werden würde, markierten die Vollendung der neuen EZB-Zinsstrategie und ein Scheitern der nationalneoliberalen Fraktion um Lucke. Diese entschied sich spätestens zu diesem Zeitpunkt, eine Alternative zu Union und FDP ins Leben zu rufen. Bereits kurz zuvor gründeten sie den »Verein zur Unterstützung Wahlalternative 2013«, aus dem später die AfD hervorgehen sollte. Neben Nationalneoliberalen waren Rechtskonservative Teil des Bündnisses, die im traditionellen konservativen Lager keine Perspektive mehr sahen.

Die Spaltung der Konservativen
Das Auseinanderbrechen des Konservatismus hatte sich bereits in den Jahren zuvor angedeutet. Die Spaltung verlief zwischen gesellschaftspolitisch reaktionären auf der einen und modernisierten Konservativen auf der anderen Seite. Die Mehrheit in der Union stand dabei für Letztere. Diese hatte die Entwicklungen der Gesellschaft der vergangenen Jahrzehnte weitgehend akzeptiert: dass Deutschland ein Einwanderungsland geworden war, dass eine Mehrheit der Gesellschaft sich für Gleichberechtigung der Geschlechter aussprach, dass gleichgeschlechtliche Liebe auch von der Mehrheitsgesellschaft zumindest mehr oder weniger als Normalität anerkannt wurde.

Demgegenüber standen Ansätze eines »radikalisierten Konservatismus« (Natascha Strobl) in Deutschland, wie exemplarisch die Debatte um Thilo Sarrazins Buch »Deutschland schafft sich ab« im Sommer 2010 deutlich gemacht hatte. Das Buch ist nicht nur ein Pamphlet zur Rehabilitierung der in Deutschland ins Abseits geratenen Intelligenzforschung, sondern zugleich ein erzkonservatives Plädoyer für die Stärkung der »deutschen Leitkultur«. So warnte Sarrazin vor der angeblich drohenden Vormachtstellung des Islams, einer vermeintlich um sich greifenden politischen Korrektheit sowie vor »Deutschenfeindlichkeit« und betonte gleichzeitig die Vorzüge eines elitären Bildungssystems. Sarrazin verband in seinem Buch also Themen, die rechtskonservative Kreise seit geraumer Zeit beschäftigten.

Trotz eines von linker und liberaler Seite beklagten gesellschaftspolitischen Rollbacks im Zuge der Kontroverse bedeutete deren Verlauf und ihr Ergebnis für Rechtskonservative eine faktische Niederlage, denn obwohl Sarrazin vielfach zitiert und diskutiert wurde, haben reaktionäre Positionen letztlich einen Bedeutungsverlust hinnehmen müssen. Der völkisch-nationalistische Rassismus ist im hegemonialen Diskurs zugunsten eines Rassismus der neoliberalen Leistungsgesellschaft ins Hintertreffen geraten.

Eine ähnliche Entwicklung gab es vier Jahre zuvor in der Frauen- und Familienpolitik, als im September 2006 die damalige Fernsehmoderatorin Eva Herman ihr Buch »Das Eva-Prinzip« veröffentlicht hatte. Darin plädierte sie für eine klassische Rollenverteilung: Männer seien ihrer biologischen Veranlagung nach nicht für die Kindererziehung vorgesehen, im Gegensatz zu Frauen, die sich auf ihre »natürlichen« Fähigkeiten besinnen sollten.

Zwar mobilisierte Herman ähnlich wie später Sarrazin Reaktionäre auch aus Teilen der CDU, aber die Realität sprach eine andere Sprache: Die Diskussion um das Buch fiel zusammen mit einer deutlichen Wende in der Familienpolitik der Union. Die damalige Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen sorgte während ihrer Amtszeit zwischen 2005 und 2009 durch mehrere Vorstöße für Unmut in den eigenen Reihen, da sie ein vergleichsweise modernisiertes Familienleitbild vertrat. So setzte sie etwa das gesetzliche Recht auf Krippenplätze durch.
Während sich die Mehrheit der Union, insbesondere an der Spitze, an veränderte gesellschaftliche Voraussetzungen anpasste, formierten sich am rechten Rand des etablierten Konservatismus zunehmend Diskurse um Einwanderung, Integration sowie die Rolle der Frau und sexuelle Vielfalt, die immer mehr in Opposition zur als zu links empfundenen Union unter Kanzlerin Angela Merkel standen.

Die Debatten in der zweiten Hälfte der 2000er Jahre hatten Erfolgsaussichten einer neuen Partei rechts der Union befeuert. Mitten in der Sarrazin-Debatte gab die Bild am Sonntag eine Umfrage in Auftrag, nach der sich 18 Prozent vorstellen könnten, eine »Sarrazin-Partei« zu wählen. Nur wenige Wochen zuvor schrieb der damalige Journalist und inzwischen für die AfD arbeitende Michael Klonovsky erwartungsvoll im Wochenmagazin Focus: »Nie war die Zeit für die Gründung einer konservativen Alternative günstiger als heute.«
Gegen die angeblich sozialdemokratisierte Union unter Merkel hatte sich vor Gründung der AfD eine Gruppierung namens »Berliner Kreis« gebildet. Die Rechtskonservativen vermochten es aber nicht, ihre Positionen in der Union zu stärken. Alexander Gauland und Konrad Adam waren Teil des Berliner Kreises, verließen diesen und die CDU, um sich auf die Suche nach etwas Neuem zu machen.

Sie fanden die nationalneoliberalen Volkswirte um Bernd Lucke, die sich zeitgleich von »ihrer« liberalkonservativen Regierung abgewandt hatten. Dazu gesellte sich das kulturkämpferische Kampagnennetzwerk um Beatrix von Storch. Ausschlaggebend für dieses Bündnis dürfte die Einschätzung gewesen sein, dass weder eine neoliberale noch eine ausschließlich rechtskonservative Partei in Deutschland langfristig Chancen gehabt hätte, sich zu etablieren.

Strategische Öffnung nach rechts
Das auf dem Gründungsparteitag der AfD im April 2013 beschlossene, lediglich drei Seiten umfassende Bundestagswahlprogramm war ein weithin liberal-konservatives Papier. Entsprechend waren im Wahlkampf offen rassistische Töne selten zu hören, wenngleich sich gegen Ende der Wahlkampagne eine Öffnung gegenüber rechts abzeichnete. Bereits Ende Juli 2013 soll Lucke in einer E-Mail angesichts des eher schleppend laufenden Wahlkampfs einen »Tabubruch« angeregt haben. »Das machen wir, indem wir Herrn Sarrazin vereinnahmen. Das kann uns viel Aufmerksamkeit, Kritik der linken Presse und viel Zuspruch in der Bevölkerung einbringen», wurde Lucke in der Presse zitiert.

Die strategische Ausrichtung nach rechts dürfte die bereits zu diesem Zeitpunkt aktiven völkisch-nationalistischen Kräfte in der AfD gestützt und noch nicht Aktive motiviert haben. Die explizite Öffnung der Partei nach rechts schlug sich vor allem im Sommer 2014 in den Landtagswahlkämpfen in Thüringen, Brandenburg und Sachsen nieder, wo die AfD mit Law-and-Order und Rassismus punkten konnte. Eine Folge: Die auch in gesellschaftspolitischen Fragen liberal Gesinnten kehrten der Partei zunehmend den Rücken. Die Geister, die er rief, konnte Bernd Lucke spätestens ab Sommer 2014 nicht mehr einfangen, zu mächtig und taktisch geschickt agierte der sich schnell entwickelnde völkisch-nationalistische »Flügel« um Björn Höcke. Bei einem außerordentlichen Parteitag Anfang Juli 2015 kam es zum Showdown zwischen einer Gruppe um Bernd Lucke und der völkisch-nationalistischen Strömung, der es gelang, auch Neoliberale und Rechtskonservative für ein Anti-Lucke-Bündnis zu gewinnen. Lucke verlor die entscheidende Wahl gegen Frauke Petry, die damals mit Höcke paktierte, und gründete erfolglos eine neue Partei.

Völkisch-nationalistische Strömung gibt heute den Takt vor
Bei der AfD ging es von Anfang an um mehr als eine »Alternative« zur vorherrschenden Europolitik. Nationalneoliberale und Rechtskonservative kamen zusammen, um das Spektrum rechts von Union und FDP zu sammeln. Früh öffneten sie Türen für die extreme Rechte. Inzwischen gibt die völkisch-nationalistische Strömung den Takt in der AfD vor. Rechtskonservative und Nationalneoliberale sind weiterhin Teil der Partei, allerdings deutlich dezimiert und schwächer als zu Beginn. Die völkisch-nationalistischen Vertreter*innen wissen zugleich, dass sie zumindest mittelfristig Nationalneoliberale und Rechtskonservative besonders aus Westdeutschland brauchen, um bundesweit relevant zu sein. Gerade den geschichtsbewussten Rechtsradikalen ist klar: Wer eines Tages die Macht haben will, ist auf die opportunistischen Teile der Konservativen, des Kleinbürger*innentums und des Kapitals angewiesen.

Völkisch-nationalistische Strömung gibt heute den Takt vor
Bei der AfD ging es von Anfang an um mehr als eine »Alternative« zur vorherrschenden Europolitik. Nationalneoliberale und Rechtskonservative kamen zusammen, um das Spektrum rechts von Union und FDP zu sammeln. Früh öffneten sie Türen für die extreme Rechte. Inzwischen gibt die völkisch-nationalistische Strömung den Takt in der AfD vor. Rechtskonservative und Nationalneoliberale sind weiterhin Teil der Partei, allerdings deutlich dezimiert und schwächer als zu Beginn. Die völkisch-nationalistischen Vertreter*innen wissen zugleich, dass sie zumindest mittelfristig Nationalneoliberale und Rechtskonservative besonders aus Westdeutschland brauchen, um bundesweit relevant zu sein. Gerade den geschichtsbewussten Rechtsradikalen ist klar: Wer eines Tages die Macht haben will, ist auf die opportunistischen Teile der Konservativen, des Kleinbürger*innentums und des Kapitals angewiesen.