Im Gewand des Rechts

von Jonathan Schramm
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 199 - November | Dezember 2022

#Palandt

Rechtliche Argumente erzielen Überzeugungskraft. Am Beispiel des Verlags C.H. Beck und seiner Geschichte wird beleuchtet, was hinter »dem Recht« eigentlich steht und gefragt: Wie damit umgehen? Der Anschein des Rechts ist nämlich trügerisch – auf unterschiedliche Weise.

Antifa Magazin der rechte rand

In Bibliotheken, deutschen Gerichten sowie auf Schreibtischen deutscher Anwaltskanzleien und Behörden lag und liegt seit Jahrzehnten das wichtigste Nachschlagewerk für Jurist*innen: Das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB). Es wird täglich für das Erstellen von anwaltlichen Schriftsätzen, Gutachten und Urteilen herangezogen. Jahrelang ehrte der Verlag C.H. Beck, der das Werk verlegt, dort den Präsidenten des NS-Reichsjustizprüfungsamtes auf seine ganz eigene Weise: Der Kommentar war 72 Auflagen von 1939 bis 2021 ununterbrochen nach ihm benannt, Otto Palandt.
Derjenige, der die Idee für dieses Nachschlagewerk hatte und es begründete, war zu diesem Zeitpunkt schon lange tot. Der Jurist und Verleger Otto Liebmann war in der Weimarer Republik unter anderem als Herausgeber renommierter Fachzeitschriften und der, unter Jurist*innen angesehenen »Liebmannschen Kurzkommentare«, bekannt geworden. Besonders erfolgreich war sein Nachschlagewerk zum BGB.
Nachdem die Nationalsozialist*innen die Macht erlangt hatten, stand der Jude Liebmann zunehmend unter Druck und wurde dazu gedrängt, seinen Verlag 1933 an Heinrich Beck, Vater des heutigen Verlagseigners, zu »verkaufen«. Die Übernahme – offiziell mittels einvernehmlichen Ankaufs – lohnte sich für den Verlag. Dieser konnte durch die Übernahme sein Sortiment an juristischen Nachschlagewerken erweitern. Als besonders profitabel erwies sich der, nun unter dem neuen Namen »Palandt« herausgegebene, Beck’sche Kurzkommentar zum BGB. Liebmann starb 1942 verarmt in Berlin, zwei seiner Kinder 1943 nach Deportationen durch die Nationalsozialist*innen. Sein Sohn musste nach Ecuador fliehen.

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Liebmann ist heute nahezu unbekannt. Den Namen Palandt kennen hingegen viele. Dass letzterer nicht nur neuer Namensgeber des 1939 umbenannten und nazifizierten Kommentars, sondern auch für die Gleichschaltung der juristischen Ausbildung zuständig war, wissen dagegen wenige. Dabei muss man nicht lange recherchieren, um Zitate von ihm zu finden wie »Junge Juristen müssten lernen, Volksschädlinge zu bekämpfen und die Verbindung von Blut und Boden, von Rasse und Volkstum begreifen.«


Will man so einen Mann, der die juristische Ausbildung auf NS-Linie brachte und Frauen wie Juden und Jüdinnen aus der Justiz warf, wirklich auf ähnliche Weise ehren, wie man das heute mit Hans Litten (Anwalt und Gegner des NS-Regimes, gestorben im KZ Dachau) oder Fritz Bauer (Staatsanwalt, der NS-Verbrecher vor Gericht brachte) durch die Benennung von Straßen oder Instituten tut? Auch wenn der NS-Jurist wenig zu den mit der ersten Nachkriegsauflage 1949 überarbeiteten Inhalten zu passen schien, hielt der Verlag auch nach 1945 an ihm als Namensgeber fest. Gerade in einer Zeit, in der die Aufarbeitung des NS-Unrechts von grundlegender Bedeutung gewesen wäre, blieb es dabei – vielleicht auch wegen der eigenen (Verlags-)Geschichte: System vergeht, Palandt und Verlag besteht.
Erst 2021 und damit fünf Jahre nach Gründung der Initiative ­»Palandt umbenennen« war der auf den Verlag durch die Öffentlichkeit ausgeübte Druck so groß – unter anderem mehrere Bundesjustizminister und Justizsenatoren setzten sich für eine Umbenennung ein –, dass man sich endlich für eine Umbenennung entschied. Viele Jahre hatte die Initiative da schon für die Umbenennung gekämpft. Wieder und wieder wies sie darauf hin, dass eine ehrliche Erinnerungskultur nur durch Ehrung der Opfer und nicht der Täter*innen zu erreichen sei. Immer wieder bemühte der Verlag das Argument, die Marke habe sich vom Namensgeber gelöst und man wolle an die NS-Justiz erinnern. Ja, was denn nun? Mittlerweile hat man sich zwar für einen neuen Namen entschieden (Grüneberg als einer der heutigen Kommentatoren) – damit aber auch für das Vergessen und gegen das Erinnern.


Hinter dem neuen Namen wird die Geschichte des Werks versteckt. So entsteht eine trügerische Neutralität, mit der die Chance vertan wurde zu zeigen, dass Recht für Unrecht missbraucht werden kann und wurde. Diese Ambivalenz hätte Liebmann auf dem Einband in die juristischen Bibliotheken, Gerichte und Kanzleien von heute getragen. Indes wurde die Möglichkeit verpasst, der vielfach vergessenen Opfer der NS-Herrschaft zu gedenken und ihnen ehemals genommene Sichtbarkeit – wie im Fall Liebmann – zurückzugeben.

Rechte Kontinuitäten auf juristischen Kommentardeckeln
Stattdessen bringen sie weiterhin gutes Geld: Gesetzeskommentare mit Namen ehemaliger NS-Juristen auf dem Einband. Sei es Alfred Hartmann (Umsatzsteuergesetz, 2020), der im Reichsfinanzministerium für die finanzielle Verfolgung der Jüdinnen und Juden verantwortlich war; Fritz Lademann (Einkommenssteuergesetz, 2022), der dasselbe in Danzig tat, oder Wolfgang Hefermehl (Recht des Zahlungsverkehrs, 24. Auflage 2020), der im Reichsjustizministerium für die »Lösung der Judenfrage auf wirtschaftlichem Gebiet« zuständig war. Alles unter dem Deckmantel dessen, was damals »Recht« war.


Mit diesen Kontinuitäten im Gepäck riskiert die Gruppe der Jurist*innen ohne Not, Vertrauen zu verlieren. Warum nennen wir unsere Nachschlagewerke noch so, wenn wir so (hoffentlich) nicht mehr sein wollen? »Furchtlose Juristen« von damals im Widerstand gegen den Nationalsozialismus als unsere modernen Namensgeber*innen gäbe es.


Wer macht Recht?
Nicht nur auf, auch zwischen den Deckeln schützt das Recht oft trügerisch vor den Blicken auf dahinter Stehende(s). Der Verlag hat mit seiner monopolähnlichen Stellung auf dem Markt juristischer Fachliteratur große Macht. Durch Auswahl der unter Vertrag genommenen Autor*innen nimmt er Einfluss auf Inhalte seiner scheinbar objektiven und von den Verfasser*innen unabhängigen Nachschlagewerke, ohne dass dieser Prozess transparent wäre. Auch hier entscheidet er allein über Sicht- und Unsichtbarkeit.


Zwar betont der Verlag, keinen inhaltlichen Einfluss zu nehmen. Jedoch verfestigt er, auch durch seine passive Haltung – bewusst oder unbewusst – gesellschaftliche Strukturen.
So sind alle aktuellen Autoren des »Grüneberg« weiße Cis-Männer. Die gesellschaftliche Diversität wird nicht abgebildet, wobei dieses Beispiel exemplarisch für viele Werke des Verlags mit ähnlich homogener Autor*innenschaft steht. Im Recht kommt hinzu, dass Inhalte dieser Nachschlagewerke indirekt auch die Rechtspraxis prägen. Begründungen juristischer Entscheidungen beziehen sich oft auf die Ausführungen in Nachschlagewerken, welche damit konkret die Leben vieler Menschen beeinflussen können.


Ähnliches ist zu befürchten, wenn Autoren wie Hans-Georg Maaßen größtenteils unwidersprochen das Grundrecht auf Asyl in solchen Nachschlagewerken kommentieren und seine Ausführungen damit zu scheinbar objektiven – von den Gerichten herangezogenen – Maßstäben werden. Alternative Veröffentlichungsformate mit ähnlicher Reichweite für nicht vom Verlag auserwählter Jurist*innen fehlen oder werden nur langsam – zum Beispiel durch die Initiative »Open ReWi« – entwickelt. Wichtigster Türsteher des juristischen Meinungsdiskurses ist daher auch heute noch der eine Verlag aus München mit den vielen Nachschlagewerken.


Hinter den Vorhang schauen – auch und gerade im Recht
Wie den Deckmantel des Rechts also entkleiden? Seit 2021 fordert der neu gefasste § 5a Deutsches Richtergesetz vom Studium der Rechtswissenschaft, dass »(…) die Vermittlung der Pflichtfächer (…) auch in Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Unrecht und dem Unrecht der SED-Diktatur« zu erfolgen habe. Damit ist ein erster Schritt getan, dem jetzt praktische Umsetzungsschritte folgen müssen und der über die historische Beschäftigung hinaus helfen kann, Strukturen hinter dem Recht besser erkennen und analysieren zu können.
Das Recht ist Mittel zur Macht für diejenigen, die es für sich zu nutzen wissen. Ebenso kann es aber auch Mittel zur Gerechtigkeit sein, wenn ihm in einem Rechtsstaat jede*r in gleichem Maße unterworfen ist.


Es erscheint daher wichtig, sich – auch und gerade als Nicht-Jurist*in – nicht von jenen täuschen zu lassen, die sich auf das scheinbar objektive Recht berufen. Aufmerksam bleiben sollte man für die dahinter stehenden Menschen, Ideologien, Motive und Strukturen und dabei kritisch nachdenken über viele weitere Themen wie zum Beispiel die sozial eher homogene Gruppe der im Recht tätigen Personen. Es geht darum, Recht und seine Akteur*innen nicht als gegebenes, sondern zu hinterfragendes Faktum zu erkennen.
Es gilt, was der frühere Justizminister Gustav Radbruch, 1933 auf Grundlage des Gesetzes (!) zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums aus dem Staatsdienst entlassen, in seinem Buch zur Rechtsphilosophie 1932 schrieb: »Es ist eine Notwendigkeit des juristischen Berufes, sich zugleich seiner Hoheit und seiner tiefen Fragwürdigkeit in jedem Augenblick bewusst zu sein.«

Jonathan Schramm ist Jurist und Mitglied der Initiative »Palandt umbenannt – Initiative für eine kritische Erinnerungskultur in der Rechtswissenschaft« (ehemals: Palandt umbenennen). Weitere Informationen unter palandtumbenannt.de.