Was ist Faschismus?

von Natascha Strobl
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 200 - Januar | Februar 2023

#Theorie

Faschismus ist einer jener Begriffe, die gleichzeitig zu oft und zu sparsam benutzt werden. Dabei droht nicht nur eine Beliebigkeit des Begriffes, sondern sogar seine Verkehrung ins Gegenteil. Der Versuch einer Annäherung.

Vor kurzem saß ich in einer politischen Talkshow eines privaten Fernsehsenders. Mein Gegenüber war einer der renommiertesten Meinungsforscher Österreichs. Es ging um alles und nichts und vor allem um das Kuriositätenkabinett der österreichischen Innenpolitik. Meine Rolle war es, auf den wachsenden Faschismus aufmerksam zu machen. Plötzlich wirft dieser Meinungsforscher ein, es gebe ja auch einen »Faschismus von links«. Ich verlor die Fassung (was ich nicht hätte tun sollen). Diese unhaltbaren Thesen kannte ich sonst nur von der extremen Rechten, die diese Verwischungen bewusst einsetzt, um den Faschismusbegriff unbrauchbar zu machen.

Faschismus
Zitat: Natascha Strobl

Die Sicht auf die faschistische Ideologie
Dabei ist es so wichtig wie nie, einen praktikablen Faschismusbegriff zu besitzen und mit ihm zu operieren. Es ist 100 Jahre her, dass Benito Mussolini mit den Schwarzhemden den Marsch auf Rom inszenierte. Der Aufstieg des italienischen Faschismus lehrt viel über allgemeine, auch in anderen historischen Kontexten zu beobachtende Dynamiken. Dabei ist es selbstverständlich wichtig, nicht zu abstrakt und beliebig zu werden. Die Kunst besteht also darin, keine zu restriktive Definition zu finden, die Faschismus exklusiv als spezifisch historisches Phänomen betrachtet.

Auch in konservativen Kreisen finden sich diese Narrative, die Faschismus spezifisch oder synonym mit dem Nationalsozialismus (NS) oder gar nur mit dem italienischen Faschismus sehen. Das ist ein Irrtum. Der einzigartige Zivilisationsbruch der Shoah und des Holocausts ist unvergleichlich. Der Aufstieg des Nationalsozialismus ist es nicht. Es ist auch kein historischer Zufall, dass es in Europa zu dieser Zeit viele autoritäre bis (proto)faschistische Versuche gab, von Rumänien bis England und von Schweden bis Italien. Nicht überall kamen sie an die Macht und nicht überall hatten sie an der Macht große staatliche Ressourcen. Dazu kamen nationale Spezifika wie der rabiate, jahrhundertelang tradierte und institutionell geförderte Antisemitismus.

 

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Faschismus ist also, auch historisch betrachtet, ein Phänomen, das zu einem spezifischen historischen Moment hegemonial beziehungsweise einflussreich wird und kein Spezifikum einer nationalen Geschichte. Seine Ausgestaltung ist es jedoch. Faschismus ist eine autoritäre Krisenbearbeitungsstrategie, sein Ordnungsversprechen wird in Krisenzeiten wirksam. Aber was ist Faschismus eigentlich? Darüber zerbrechen sich seit 100 Jahren viele kluge Geister den Kopf. Ich halte es nicht für sinnvoll, hier die gesamte Geschichte der Faschismustheorie aufzurollen. Zwei Definitionen möchte ich aber als Ausgangspunkt für gegenwärtige Betrachtungen heranziehen. Zum einen die bekannte Kurzformel von Roger Griffin von Faschismus als »palingenetischen Ultranationalismus«. Diese kondensierte Sicht auf die faschistische Ideologie macht deutlich, worin der entscheidende Unterschied zu konservativer Ideologie besteht. Palingenese meint die Idee der Wiederauferstehung beziehungsweise Wiedergeburt eines »Volkes«, einer »Nation«, einer »Kultur«. Sozialdarwinismus, Rassismus, Antisemitismus und so weiter finden sich auch in anderen Ideologien. Der Unterschied besteht in der zentralen Position der Palingenese für den Faschismus, wohingegen der traditionelle Konservatismus in der Reaktion verharrt – und damit historisch auch mit monarchistischen Bestrebungen kompatibel ist. Diese Definition erlaubt einen engen und spezifischen Blick auf eine eigenständige faschistische Ideologie, die sonst diffus bleibt.

Der Ultranationalismus ist ebenfalls spezifisch, weil er verdeutlicht, dass Volk und Nation im Mittelpunkt faschistischen Denkens stehen (und nicht etwa Monarchie, Religion oder Dynastie wie in reaktionären Ideologien). Das große Aber ist allerdings, dass die Abgrenzungen in der Praxis nie so klar sind. Zum einen, weil faschistische Parteien und Bewegungen ein Amalgam aus vielen Gruppen waren. Zum anderen, weil die konkrete faschistische Herrschaft nicht aus reiner Ideologie, sondern manchmal aus Machterhalt oder pragmatischen Überlegungen heraus gehandelt hat. Und dann gibt es auch jene historischen Phänomene, die von den faschistischen Idealtypen Italien und Deutschland abweichen wie etwa der Austrofaschismus mit seinen ständischen Ordnungsidealen. Ist das noch radikaler Konservatismus oder schon Faschismus? Eine scharfe Abgrenzung zwischen Konservatismus und Faschismus ist ideologisch und phänomenologisch nicht möglich. Denn in Krisenzeiten formieren sich auch im Konservatismus Kräfte, die nicht mehr bewahren, sondern die Gegenwart überwinden wollen. Das ist eine Faschisierung des Konservatismus, ein radikalisierter Konservatismus, der auch gegenwärtig zu beobachten ist, etwa bei den Republikaner*innen in den USA, aber vor allem in Ungarn bei Viktor Orbán und der FIDESZ. Trotzdem sollte der palingenetische Ultranationalismus für die Beurteilung faschistischer Ideologie eine wichtige Richtschnur sein.

Faschismus als politisches Verhalten
Die zweite Definition, die ich nur zur Diskussion stellen möchte, ist jene von Robert Paxton aus »Anatomie des Faschismus«: »Fascism may be defined as a form of political behavior marked by obsessive preoccupation with community decline, humiliation, or victim-hood and by compensatory cults of unity, energy, and purity, in which a mass-based party of committed nationalist militants, working in uneasy but effective collaboration with traditional elites, abandons democratic liberties and pursues with redemptive violence and without ethical or legal restraints goals of internal cleansing and external expansion.«

Das Spannende bei Paxton ist, dass er Faschismus nicht als Ideologie, sondern als politisches Verhalten kategorisiert und viele wichtige Punkte wie Dekadenz, Reinheit und die Massenbasis anspricht. Sein wichtigster Punkt ist meines Erachtens die Feststellung, Faschismus sei erlösende Gewalt ohne ethische oder rechtliche Begrenzung. Gewalt ist ein Wert an sich im Faschismus. Das ist ein Unterschied zu anderen politischen Ideologien, die Gewalt rationalisieren und beschönigen, sie gesellschaftlich ritualisieren und mit strengen Codes belegen. Hannah Arendts »Mob« ist der Akteur dieser unbändigen Gewalt. Diese Definitionen erfassen den volatilen, spontanen und rauschhaften Charakter faschistischer Praxis, der im Kontrast, aber nicht im Widerspruch zu den religiös-steifen Ritualen faschistischer Herrschaft oder seinem Totenkult steht.

Faschismus ist ein Phänomen, das als Reaktion auf eine krisenhafte und als dekadent empfundene Gegenwart entsteht und ein autoritäres Ordnungsversprechen mit unbändiger Gewalt durchsetzt, um so eine ideelle Wiedergeburt von Volk, Nation oder Kultur voranzutreiben. Um so eine neue »reine« Gemeinschaft zu erschaffen, müssen jene ausgeschlossen werden, die als Verursacher*innen der Dekadenz und als Störelemente einer neu herzustellenden Ordnung identifiziert werden.

Faschismus ist also vieles: eine Ideologie, eine Herrschaftsform, eine Bewegungsform. Entgegen der eigenen Intuition ist er dabei aber wandlungs- und anpassungsfähig, sowohl was nationale Spezifika, materielle und historische Umstände sowie zeitgenössische »Moden« angeht. Es ist mir wichtig, die Volatilität und die Dynamik des Faschismus zu beschreiben, ohne dabei in Beliebigkeit zu verfallen. Nicht alles, was man nicht mag, ist Faschismus. Nicht jeder Antisemit und Rassist ist gleichzeitig Faschist. Faschismus ist nicht der sprachliche Maximalismus für alles, was doof ist. Das öffnet der gezielten Verwischungstaktik Tür und Tor. Dann ist jedes autoritäre Projekt oder jede Form der politischen Gewaltanwendung gleich faschistisch, so wie es dieser Meinungsforscher (aus Ignoranz, Geltungsdrang oder Kalkül) in der Talkshow behauptet hat.

Das klassenübergreifende Projekt
Faschismus ist aber nicht nur politischer Nihilismus, sondern hat spezifische definitorische Elemente, die nicht wegdiskutierbar sind. Die wichtigsten Richtschnüre sind hier meines Erachtens die Palingenese und die Gewalt um der Gewalt Willen, wie oben ausgeführt. Über vieles ließe sich noch diskutieren, etwa die soziale Basis des Faschismus. Die soziale Genese des Faschismus liegt im Kleinbürger*innentum und in der Beamt*innenschaft. Ohne die Allianz mit Teilen des Großbürger*innentums und (ehemaligen) Teilen der bewaffneten Verbände wäre ein Aufstieg unmöglich. Die Massenbasis erreicht Faschismus aber erst, wenn er Teile der arbeitenden Klassen für sich gewinnt. Faschismus ist an seinem Höhepunkt also ein klassenübergreifendes Projekt mit (teilweisen) Zugeständnissen an alle Klassen, ohne die bestehende Klassenhierarchie und Besitzverhältnisse zu stören. Daher ist Faschismus auch keine Form des Sozialismus, wie Liberale und Rechte gerne behaupten. Die rassistischen, sozialen und antisemitischen Ausschlüsse gelten selbstverständlich auch innerhalb der jeweiligen Klassen. So etwa bei der Unterscheidung zwischen »schaffendem« (= nationalem) versus »raffendem« (= jüdischem) Kapital. Es ist also gar nicht so leicht, Faschismus so zu begreifen, dass er weder zu restriktiv noch zu weit gefasst wird. Umso wichtiger ist es, sich dem Phänomen gerade im Jahr 2023 anzunähern und es zu fassen zu bekommen.