Antisemitismus in Europa

Das Interview mit Dr. Gideon Botsch führte Felix M. Steiner.
Magazin »der rechte rand« Ausgabe 176 - Januar / Februar 2019

#Interview

Ende 2018 sorgte eine Studie der Europäischen Agentur für Grundrechte zum Antisemitismus in Europa für große Aufmerksamkeit. Sie belegt vor allem gestiegene Bedrohungsgefühle unter europäischen Jüdinnen und Juden und ein gesteigertes Nachdenken über Auswanderung. Im Interview ordnet Politikwissenschaftler Dr. Gideon Botsch vom Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien e. V. der Uni Potsdam die Ergebnisse ein.

drr: Herr Botsch, neun von zehn europäischen Juden geben an, der Antisemitismus in Europa habe in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen, so ein Ergebnis der Studie der Europäischen Agentur für Grundrechte (Fundamental Rights Agency – FRA). Wie ordnen Sie diese Ergebnisse ein?
Botsch: Die Ergebnisse dieser Studie – deren Daten für Deutschland einer meiner Kollegen am Moses Mendelssohn Zentrum erhoben hat – haben uns nicht wirklich überrascht. Wir kennen ja die Daten einer Vorläuferstudie der FRA von 2012 sowie einer Befragung von Jüdinnen und Juden in Deutschland, die im Auftrag des zweiten Expertenarbeitskreises zum Antisemitismus durchgeführt wurden, aber auch die Stimmung in den jüdischen Communities.

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Antisemitismus in Europa

Vergleicht man die Ergebnisse mit der FRA-Studie von 2012, muss man von einem starken Anstieg des Antisemitismus in Europa sprechen …
Zumindest muss man einen starken Anstieg der Wahrnehmung von Antisemitismus unter Jüdinnen und Juden in Europa konstatieren. Es gibt ja immer wieder Versuche, das Problem kleinzureden oder Vorgänge, die Jüdinnen und Juden selbst als bedrohlich oder feindselig einschätzen, als »nicht antisemitisch« wegzudefinieren. Denken Sie nur an die Boykott-Kampagne oder andere Anfeindungen gegen Israel als jüdischen Staat. Die Studie zeigt deutlich, wie bedroht und angegriffen sich die jüdische Minderheit in Europa fühlt. Und dieses Bedrohungsgefühl, das durch reale Anfeindungen – bis hin zu Morden – immer wieder Nahrung erhält, dürfen die europäischen Gesellschaften nicht akzeptieren. Sie bleiben aufgefordert, einen Zustand herzustellen, in dem sich alle Minderheiten – eben auch Jüdinnen und Juden– sicher und anerkannt fühlen können.

In Deutschland gaben die Befragten an, besonders häufig belästigt oder beleidigt worden zu sein. Ist Antisemitismus in Deutschland ein größeres Problem als in anderen europäischen Ländern?
Das kommt auf die Dimensionen an, nach denen Sie fragen. Da ist zum einen die ungeheure Wucht der Vergangenheit, die kein Jude, keine Jüdin in Deutschland einfach ausblenden kann. Insgesamt liegt Deutschland in manchen Bereichen im europäischen Mittelfeld – etwa was registrierte Straftaten angeht, oder auch bei antisemitischen Einstellungen. Im Feld der unmittelbaren Anfeindungen zählt Deutschland, der FRA-Studie zu Folge, zur Spitzengruppe in Europa. Außerdem meinen hierzulande im Vergleich zur Studie von 2012 besonders viele Jüdinnen und Juden, dass der Antisemitismus zugenommen hat.

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… laut der Studie hat immerhin fast jede/r zweite jüdische Deutsche schon an Auswanderung gedacht …
Das ist schlimm genug; aus Deutschland gibt es allerdings seit Längerem nur geringe jüdische Auswanderungsraten. Dramatisch ist die Situation in Frankreich, der größten jüdischen Minderheit in Europa, von wo in den letzten fünf Jahren etwa fünf Prozent ausgewandert sind.

Was sind aus Ihrer Sicht die Gründe, warum die Angaben in den verschiedenen europäischen Ländern doch sehr unterschiedliche Ergebnisse zu Tage fördern?
Die Dimensionen von Antisemitismus stellen sich in den Ländern sehr unterschiedlich dar. Die Kulturen sind auch sehr unterschiedlich – sowohl der jüdischen Communities, als auch der jeweiligen Mehrheitsgesellschaften. Überraschend sind die Wahrnehmungen der Jüdinnen und Juden in Ungarn, die vergleichsweise wenig Antisemitismus in ihrem Land wahrnehmen. Allgemein kann man erkennen, dass in den früheren Ländern des Ostblocks, wie Polen und Ungarn, Antisemitismus eher in nationalistischen und rechtsextremen Kontexten wahrgenommen wird, in den älteren Demokratien Westeuropas eher in muslimischen oder aber linken Kontexten. Deutschland lässt sich wegen seiner spezifischen Geschichte in einem solchen Vergleich schwer verorten.

Welche Kontextfaktoren machen Sie für diese antisemitischen Bedrohungsgefühle verantwortlich?
Vor allem drei: das Erstarken des Nationalismus in Europa; die neue Verbreitung von Verschwörungsmythen vor allem im Internet; die Präsenz von israelbezogenem Antisemitismus. Die neuen, in immer mehr Gesellschaften vorherrschenden Kulturen der Dominanz gegenüber Minderheiten und die fast schon lustvolle Verbreitung von Hass und Vorurteilen wirken sich insgesamt negativ auf die jüdische Minderheit aus.

Ein weiteres Thema, welches durch die Studie öffentlich weiter in den Fokus gerückt wurde, sind antisemitische Übergriffe mit islamistischem Hintergrund. Jeder dritte Übergriff wurde den Befragten nach in diesem Kontext begangen. Wie bewerten Sie diese Angaben?
Moment, in dieser Aussage sind mehrere Fehlinterpretationen enthalten. Was die Studie abfragt, sind feindselige Äußerungen und Haltungen, die sich oftmals unterhalb der Schwelle der Strafbarkeit bewegen können und die zu einem bedeutenden Teil im Internet auftreten. Die Studie spricht hier von »harassments«, was mit »Übergriff« nicht gut übersetzt ist.
Die Befragten wurden auch gebeten, Angaben zu den UrheberInnen zu machen; in über 30 Prozent der Fälle konnten die Befragten das nicht, und in fast ebenso vielen Fällen werden Personen mit einem muslimischen Hintergrund benannt, gefolgt von solchen, bei denen eine linke politische Einstellung vermutet wird. Es geht also nicht um Islamismus.
In Deutschland erfasst die unabhängige Meldestelle RIAS derartiges beleidigendes Verhalten, allerdings vorläufig auf Berlin beschränkt. Wenn wir demnächst ein RIAS-Meldesystem in Brandenburg etablieren, werden wir sicherlich ein abweichendes Lagebild erhalten.
Anders verhält es sich mit der Kriminalstatistik, die Straftaten erfasst: Es ist unzulässig, diese mit den Ergebnissen der FRA-Studie unmittelbar in Beziehung zu setzen. Hier machen so genannte Propagandadelikte den größeren Anteil aus, die eben nach wie vor sehr oft einen eindeutig rechtsextremen Hintergrund erkennen lassen – Schmierereien, gestohlene Stolpersteine etc. Die Kriminalstatistik muss allerdings in der Tat präzisiert werden. Immer noch ist es so: Wo keine Angaben zu den TäterInnen gemacht werden können, werden Taten in der Regel als »Politisch motivierte Kriminalität – rechts« eingestuft. Das ist kein so sehr großer Anteil der entsprechenden Fälle, aber eine Korrektur der Einstufungskriterien ist dringend erforderlich – und dürfte bald erfolgen.

#AfD
»Antisemitismus der Vernunft«

von Igor Netz
Magazin “der rechte rand” Ausgabe 167 – Juli 2017

Vor allem extrem rechte Parteien nutzen solche Ergebnisse ja, um von ihrer eigenen antisemitischen Ideologie abzulenken und wiederum gegen MigrantInnen Stimmung zu machen.
Das hat zwei Funktionen: Antisemitismus wird externalisiert, als »Import« dargestellt. In Deutschland ist damit der Wunsch verbunden, die deutsche Geschichte von einem Makel zu befreien. Im vorliegenden Fall werden antisemitische Straf- und Gewalttaten von rechts bagatellisiert. Gleichzeitig wird zu den ohnehin bestehenden Stereotypen und Vorurteilen gegen ZuwandererInnen das Motiv des fanatischen Antisemiten oder Israelhassers addiert. Ähnliches geschieht ja auch, wenn zutiefst sexistische Bewegungen sich als die Verteidiger von Frauen gerieren und Migranten pauschal als Frauenfeinde diskriminieren.

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Europa Ausgabe – Die radikale Rechte vor der Wahl

Die Empörung über die Ergebnisse war europaweit groß. Doch was können nun hilfreiche Maßnahmen sein, um diesen Tendenzen zu begegnen?
Sehr unwohl ist mir bei den vielfältigen Versuchen, den Antisemitismus für andere Zwecke zu instrumentalisieren. Die Abwehr von Antisemitismus muss indes als Querschnittsthema anerkannt werden. Und sie darf sich nicht nur auf diffuse Alltagsphänomene konzentrieren: Organisierte antisemitische Netzwerke, die entsprechende Inhalte verbreiten, sollten benannt und konkret bekämpft werden. Dabei sind rechtsextreme und neonazistische Akteure, neben islamistischen, immer noch zentral.

Vielen Dank für das Interview!

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Nazis Raus – *… aus den Köpfen, dem Bundestag, dem EU-Parlament und den Zeitungskiosken, raus aus den Betrieben, den Landtagen, der Schule, oh ja den Schulen, den Universitäten, Italien, Österreich und nicht vergessen, raus aus der Schweiz, aus der Familie, aus der Kirche und ganz wichtig, aus dem Internet … * sind erweiterbare Vorschläge ** uns doch egal wo die dann sind – sind sie überall raus, können sie nirgends mehr sein