»Bedeutung über den Gerichtssaal hinaus«

Interview
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 184 - Mai / Juni 2020

#NSU-Prozess

Mehmet Daimagüler hat im NSU-Prozess Angehörige von Ismail Yasar und Abdurrahim Özüdogru in der Nebenklage vertreten und ist seitdem als Anwalt in zahlreichen Prozessen mit rassistischem, antisemitischem und extrem rechtem Kontext tätig. Für »der rechte rand« hat Nina Rink mit ihm über seine Erfahrungen gesprochen.

Antifa Magazin der rechte rand
@privat

drr: Was hat dich persönlich dazu bewegt, das Mandat im NSU-Prozess anzunehmen?
Mehmet Daimagüler: Weil auch ich Teil der vielen Schweiger war. Ich hatte auch in den Jahren zuvor von den Morden gelesen und nichts unternommen. Ich bin nicht zu den Demos gegangen in Kassel oder Dortmund. Das empfinde ich auch als persönliches Versagen. Dabei war ich mir immer sicher, dass es rassistische Taten sind. Ich war damals seit vielen Jahren politisch aktiv, hatte früh angefangen, im Bundestag zu arbeiten, war dann im Bundesvorstand der FDP. Ich wollte in der Politik Karriere machen und deswegen auch nicht anecken. Über Rassismus zu sprechen bringt keine Stimmen, es kostet Stimmen. Es war eine Mischung aus ein bisschen Furcht und viel Opportunismus, die mich zum Schweigen bewegte. Dafür schäme ich mich heute.

Wie hast du dich entschieden?
Nach der Selbstenttarnung des NSU war mir klar, dass ich mich entscheiden muss: Will ich Teil des allgemeinen großen Bullshits sein oder meiner Verantwortung gegenüber der Community gerecht werden? Also auch Menschen wie meinen Eltern, meinen Geschwistern. Leuten, die keine Chance auf gute Bildung hatten. Ich habe dann beschlossen, das zu machen. Und je mehr ich gemacht habe, desto mehr Mandate kamen aus dieser Richtung. Ich hatte dann das erste Mal das Gefühl, dass ich etwas mache, was wirklich Sinn macht.

Mehmet: »In gewisser Weise bin ich auch radikaler geworden. Und ich muss sagen, damit kann ich sehr gut leben. Ich hab das Gefühl, dass ich auf meine alten Tage noch ein anständiger Antifaschist werden könnte!

Nina: Dafür ist es ja nie zu spät...«

Das heißt, deine Haltung hat sich mit diesem Mandat auch nochmal stark verändert?
Mein ganzes Leben hat sich verändert! Freundschaften sind zerbrochen, ich bin aus meiner Kanzlei ausgeschieden, weil ein Teil der Partner das richtig blöd fand, dass ich diese »Nazi-Sachen« mache. Das hat mich schon überrascht. Aus meiner Wohnung musste ich auch raus, weil da Morddrohungen auftauchten. Auf der anderen Seite habe ich viele andere Menschen kennengelernt und neue Freunde gefunden. In gewisser Weise bin ich auch radikaler geworden. Und ich muss sagen, damit kann ich sehr gut leben. Ich hab das Gefühl, dass ich auf meine alten Tage noch ein anständiger Antifaschist werden könnte!

Dafür ist es ja nie zu spät. Du hast gerade von der Verantwortung gesprochen – was meinst du damit?
Grundsätzlich kann man als Anwalt hingehen und sich auf das Formale beschränken: Akteneinsicht, den Mandanten darüber aufklären, was drin steht und die ein oder andere Anfrage an Staatsanwaltschaft oder Gericht stellen – und dann sagen: Schönen Dank und auf Wiedersehen! Oder man sagt, dieses Mandat hat Bedeutung. Über deine Arbeit hinaus. Nicht nur für die Mandanten, denen Schlimmes widerfahren ist, sondern über den Gerichtssaal hinaus, für die Gesellschaft.

Wie sieht die Rolle der Nebenklage in solchen Prozessen aus?
Wir hatten die Realität, dass sich die Aufgabe der Nebenklageanwälte darin erschöpft, neben den Mandanten zu sitzen, betroffen zu gucken, hin und wieder deren Hand zu tätscheln und vor allem: ganz, ganz ergriffen zu nicken, wenn der Herr Staatsanwalt oder der Herr Richter was sagte. Und jetzt haben wir plötzlich politisch denkende Nebenklagevertreter. Im Kontext von Hasskriminalität und Terrorismus sind überdurchschnittlich viele Migranten betroffen. Jetzt haben wir zudem auch migrantisch geprägte Anwälte, die sich nicht nur die Rolle der Angeklagten anschauen, sondern auch Fragen stellen. Fragen, die beispielsweise die Rolle des Staates hinterfragen.

Hast du ein Beispiel?
Wir haben im NSU-Verfahren einen Polizeibeamten, der Fotos vorstellt aus der Wohnung von dem Ermordeten Özüdogru; dutzende Fotos, die nicht nur das Atelier zeigen, wo der Mann getötet wurde, sondern die Wohnung. Der Mann lebte in Trennung, die Wohnung war nicht aufgeräumt und der Polizeibeamte kommentierte das: »Im Schlafzimmer sieht es noch schlimmer aus als im Wohnzimmer«, solche Sachen. Da habe ich irgendwann nachgefragt: Herr Vorsitzender, warum werden jetzt diese Fotos gezeigt? Das mag klein erscheinen, ist aber wahnsinnig wichtig. Nicht nur für die Witwe oder die Tochter, die daneben sitzen, sondern für alle. Um zu zeigen: Die Art und Weise, wie ihr hier über das Opfer sprecht, ist nicht in Ordnung! Und da ist eine Nebenklage wichtig, die alles andere als handzahm ist, sondern nach den bedeutenden Dingen fragt. Und im NSU-Prozess waren die bedeutenden Dinge: Warum hat eigentlich die Polizei so einseitig drastisch ermittelt? Warum hat der Staat sein Aufklärungsversprechen nicht umgesetzt? Warum schonen sie die Geheimdienste?

Wie ist die Reaktion auf diese Art politischer Nebenklagevertretung?
Die Reaktion des Staates auf diese Art von Fragen war unter anderem eine Neuregelung des Nebenklagerechts, bei der gebündelt werden darf. Jetzt kann der Richter sagen: Wir haben 20 Betroffene dieser Taten, aber alle haben das gleiche Interesse. Da reicht ein Anwalt. Das ist jetzt Gesetz! Bei der Gruppenbildung melden sich dann zehn Anwälte und dann sagt der Richter: Nehmen wir mal Herrn Rechtsanwalt oder Frau Rechtsanwalt Y, weil die Nebenkläger haben ja die gleichen Interessen – auch wenn die noch nie mit einem Nebenkläger gesprochen haben und nicht wissen, was deren Interesse ist, aber egal – und nimmt sich den zahmsten Nebenklagevertreter, den es gibt, der nämlich das alte Nebenklagerollenmodell vertritt.

Das heißt, das ist eher ein Rückschritt …
Natürlich. Das ist auch eine soziale Frage. Man kann auch fünf Anwälte nehmen, wenn man bezahlen kann. Die, die Kohle haben, können in Zukunft weiter machen. Die, die keine Kohle haben, können gucken, wo sie bleiben. Und das sind in der Regel Menschen, die besonders häufig von Hasskriminalität betroffen sind: Obdachlose, Punks, junge Leute, Schwule, Lesben, Migranten natürlich. Als Opfer einer Straftat kann nur ihr Anwalt Akteneinsicht nehmen. Und welcher Obdachlose oder Flüchtling hat einen Anwalt? Die Kombination aus Identität, Herkunft, Glaube und Armut macht diese Menschen besonders verletzlich. Der Rechtsstaat sollte gerade die Verletzlichen schützen. Aber es ist so, dass gerade die besonders im Stich gelassen werden.

Wenn Angehörige von Opfern rechter Gewalt, wie beispielsweise im NSU-Prozess, als Nebenkläger*innen auftreten und dich als Anwalt nehmen – was erhoffen sie sich?
Ich kann es nicht generell sagen. Ich kann nur für meine Mandantinnen in verschiedenen Verfahren sprechen: Die wollen wissen, was war. Und dazu gehört auch, wie es zu den Taten kommen konnte. Dazu kommen die Fragen nach Helfershelfern, ob die Polizei einen vernünftigen Job gemacht hat. Dass ein Mandant sagt: Ich will möglichst harte Strafen! Das höre ich fast nie. Ich wundere mich selber manchmal. Ernsthaft, du sitzt diesem Typen gegenüber, der deinen Vater umgebracht hat und gehst mit dieser Wut und diesem Hass um. Da habe ich großen Respekt und Achtung vor diesem Menschen, der da ruhig sitzen bleibt und eben nicht nach Rache ruft.

Was macht die Aufklärung so schwer?
Üblicherweise erwarten diese Menschen vom Strafverfahren genau das, was das Gesetz verspricht, nämlich Aufklärung aller Umstände, die zur Tat geführt haben. Deswegen ärgert mich das auch, wenn dann Journalisten oder Verfahrensbeteiligte behaupten, dass die Punkte, die im NSU-Kontext von der Nebenklage eingebracht wurden, von einem Strafverfahren nicht gedeckt werden können. Blödsinn! Das sind alles Fragen, die in ein Strafverfahren gehören. Aber am Ende geht es darum, welche Story in der kollektiven Erinnerung der Gesellschaft überlebt. Das staatliche Narrativ ist wie ein schlechtes Theaterstück in drei Akten. Erster Akt: Pleiten, Pech und Pannen sorgten dafür, dass die NSU-Mordserie nicht aufgeklärt werden konnte. Da ist viel Schlimmes passiert, aber so ist es halt. Zweiter Akt: Wir haben alles aufgeklärt. Dritter Akt: Weil wir alles so toll aufgeklärt haben, kann es nie wieder passieren. Und alles drei ist einfach totaler Blödsinn.

Weil?
Das ist nicht »Pleiten, Pech und Pannen«, sondern eine rassistische Mordserie, die nicht aufgeklärt wurde und von der ein Großteil nicht verhindert wurde, weil die Polizei rassistisch ermittelt hat. Punkt. Rassismus ist das Gegenteil von »Pleiten, Pech und Pannen«, sondern hat was mit Vorsatz und Strukturen zu tun. Und nein, wir haben nicht aufgeklärt, wesentliche Fragen blieben unbeantwortet: Die Frage nach der Größe des Netzwerkes, nach der Rolle von V-Leuten, nach dem Ausmaß des institutionellen Rassismus, nach Konsequenzen der Ermittlungsarbeit. Wenn es dann heißt, das kann nicht mehr vorkommen, ist das eine große Frechheit. Woher wissen wir, ob das nicht gerade wieder passiert? Jeden Tag sterben Menschen und manchmal erfahren wir nie oder erst nach Jahren, warum sie sterben mussten. Und diesem Staatsnarrativ versuchen Kolleg*innen von mir sich entgegenzustellen. Im NSU-Verfahren wurde mir und einigen anderen vorgeworfen, wir würden das Verfahren politisieren. Da geht es um Straftaten, die sind bedeutend für Staat und Gesellschaft. Das ist ein per se politisches Verfahren! Ich würde sogar noch weiter gehen und sagen: Jedes Verfahren ist politisch.

Und hast du nach dem NSU-Verfahren das Gefühl, dass es einen Lerneffekt gab?
Ich sehe gegenläufige Entwicklungen. Wir haben vom Staat gehört: »Der Rechtsextremismus ist eine große Gefahr, die müssen wir ernst nehmen.« Ich hatte ehrlich gesagt das Gefühl, dass erst Angehörige der Mehrheitsgesellschaft sterben mussten, insbesondere in staatlichen Funktionen, bevor was passiert. Beispiel: Die Reichsbürgerbewegung wurde nie ernst genommen, obwohl sie sich offen antisemitisch, ausländerfeindlich, fremdenfeindlich und rassistisch äußerte. Das änderte sich erst, als ein Polizeibeamter erschossen wurde. Wir haben vom Bundesamt für Verfassungsschutz, auch nach dem NSU, keine Signale gesehen, dass sie jetzt das Thema Rechtsextremismus ernst nehmen. Im Nachhinein fragt man sich natürlich, wie sollten sie auch, mit einem Präsidenten wie Maaßen? Das änderte sich nach der Ermordung von Walter Lübcke. Das hat, glaube ich, bei den Sicherheitskräften schon dazu beigetragen, dass man das jetzt ernster nimmt. Ich finde auch, dass die Bundesanwaltschaft das ernster zu nehmen scheint. Die Anklagen gegen »Revolution Chemnitz«, »Old School Society«, »Gruppe Freital«, die haben es in sich. Auch die Urteile haben es in sich, aber das war überfällig. Aber je weiter man runtergeht in der juristischen Hierarchie, umso weniger sehe ich was von diesem Lerneffekt. Da wird nach wie vor gerade bei der Ermittlungsarbeit der hasskriminelle Aspekt einer Tat ignoriert, heruntergespielt, bestritten, obwohl die Hinweise evident sind.

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Was müsste sich da ändern, hast du da konkrete Forderungen?
Tausend Sachen. Wir müssen uns eingestehen, dass wir Gesetze haben, die Rassismus einen Rahmen geben oder sogar fördern. Das ganze Thema institutioneller Rassismus.
Dann beim Personal. In sensiblen Bereichen müsste man schauen, wer eigentlich Beamter wird. Sensible Bereiche sind für mich: Polizei, Justiz und Schule. Danach brauchen wir eine intensive Aus- und Weiterbildung in Sachen Grund- und Menschenrechte. Alle drei, vier Jahre muss ein Beamter zum Schießtraining – ich finde, dass er ebenso oft zum Demokratie- und Menschenrechtstraining muss.
Und: Rassistische Beamte müssen ausgeschlossen werden. Die Beamten, die beim Erdogan-Staatsbesuch in Berlin aus Sachsen zur Sicherung eingesetzt waren und sich mit Uwe Böhnhardt eintrugen – wieso sind die noch Beamte? Und immer heißt es: ein Einzelfall. Das sind verdammt viele Einzelfälle! Wir haben ein strukturelles Problem. Solche Typen gehören rausgeschmissen und dann heißt es: »Die Gesetze geben das nicht her.« Dann ändert die fucking Gesetze!

Was müsste sich gesellschaftlich ändern?
Positiv ist: Das Thema NSU ist nach fast neun Jahren noch präsent. Ich war allein im letzten Jahr auf etwa 90 Veranstaltungen als Redner. Ich sehe großes Interesse bei jungen Leuten, an Schulen, bei der Antifa. Leider hängt das Engagement häufig nur an wenigen Menschen. Ich würde erwarten, dass man diesen Menschen, diesen Initiativen auch strukturell hilft. Wir haben tolle Initiativen, Opferberatungsstellen, Vereine und so weiter, die hangeln sich von Projekt zu Projekt. Die bräuchten viel mehr Förderung. Die AfD bekommt in den nächsten vier bis fünf Jahren fast eine halbe Milliarde Euro aus Staatsmitteln. Das muss man sich mal vorstellen! Wenn ich einen Zustand habe, wo der Staat seine Feinde finanziert, erwarte ich, dass man zumindest zum gleichen Anteil die Verteidiger von Menschenrechten finanziert. Warum nicht eine Bundesstiftung, ausgestattet mit ein paar Milliarden Euro? Stattdessen entzieht der Staat Vereinen wie dem VVN/BdA die Gemeinnützigkeit. Da fasst man sich doch an den Kopf!

Wenn wir jetzt auf zukünftige Prozesse schauen – und du sagtest ja, die Wirkung solcher Verfahren geht über den Gerichtsaal hinaus – was wäre denn eine wünschenswerte Wirkung?
Wenn die Leute kapieren würden, dass, wenn irgendwo ein jüdischer Mensch, ein Trans*mensch oder ein Migrant umgebracht wird, das kein x-beliebiger Mord ist, sondern hier Menschen stellvertretend für ein Gesellschaftsbild der Vielfalt umgebracht werden. Und dass uns das alle was angeht.
Aber was mich hoffnungsvoll stimmt: Ich sehe, dass wir eine engagierte Prozessbegleitung haben. Ich denke an NSU-Watch, die haben Maßstäbe gesetzt, wie man mit so einem Verfahren umgeht. Der persönliche Einsatz, aber auch die Wirkung ist großartig! Und das Verständnis, dass man dem Staat auf die Finger schauen muss. Dass man aber auch Solidarität üben kann, nur durch die bloße Präsenz. Zu sehen, dass im Saal auch Menschen sitzen, die solidarisch sind, ist wahnsinnig wichtig. Nicht nur für die Anwälte, sondern vor allem für die Angehörigen der Opfer. Und dass sich daraus eine Idee entwickelt, dass man auch jenseits des großen Politischen selber persönlich etwas tun kann: Aufstehen und zu einer Verhandlung gehen. Das hat eine große Wirkung – auch auf Richter oder Staatsanwälte, die sich sonst schon mal im Ton vergreifen. Dass man da anfängt: Dass man solidarisch ist und das Maul aufmacht.

Gibt es noch eine Sache, die dir am Schluss wichtig ist zu sagen?
Eine Sache, die mir wichtig ist: Wenn wir über Hassverbrechen und Rassismus sprechen, dürfen wir uns nicht auf Terrorismus beschränken. Dann spielen wir denjenigen in die Hände, die das Problem des Rassismus klein halten wollen. Reduzieren wollen auf ein paar Skinheads, ein Konzept aus den 1980ern. Was den Vorteil hat, dass man sich nicht mit dem eigenen Rassismus beschäftigen muss. Dem Rassismus, der gesellschaftlich und sozial akzeptiert ist und den wir jeden Tag hören und sehen und spüren.

Vielen Dank für das Interview!