»Wenn uns die Erfahrung nicht gelehrt hätte«
von Line Fuchs, Anthea Fischer
und Paul Sammler
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 184 - Mai / Juni 2020
#ErlangerDoppelmord
Am 19. Dezember 1980 wurden Shlomo Lewin und Frida Poeschke in Erlangen ermordet. Uwe Behrendt, ein Mitglied der »Wehrsportgruppe Hoffmann«, erschoss sie aus antisemitischen Motiven. Anhand des Attentats lassen sich Kontinuitäten im Umgang mit rechtem Terror in der BRD aufzeigen.
Shlomo Lewin wurde 1911 in Jerusalem geboren und wuchs in Deutschland auf. Dort lebte und arbeitete er, bis die NS-Verfolgung ihn zur Flucht zwang. Im damaligen Palästina schloss er sich der zionistischen Untergrundorganisation »Hagana« an und lebte nach der Staatsgründung in Israel. 1960 kehrte er nach Deutschland zurück, unter anderem um dort jüdisches Leben wieder aufzubauen. Er war als Rabbiner, Verleger und Vorsitzender der israelitischen Kultusgemeinde Nürnberg tätig. Frida Poeschke, Lewins 1923 in Langenzenn (Bayern) geborene Lebenspartnerin, setzte sich gemeinsam mit ihm für christlich-jüdische Zusammenarbeit ein. Diesen Bemühungen, wie auch der geplanten Gründung einer jüdischen Gemeinde in Erlangen (sie entstand erst 1997) wurde durch den Mord ein jähes Ende gesetzt. Uwe Behrendt, rechter Burschenschafter und vor seiner Mitgliedschaft in der »Wehrsportgruppe Hoffmann« (WSG) im »Hochschulring Tübinger Studenten« organisiert, wurde für das antisemitische Attentat nie verurteilt. WSG-Chef Karl-Heinz Hoffmann half ihm die Tatkleidung zu vernichten und unterstützte ihn bei seiner Flucht in den Libanon. Dort war Behrendt in der »WSG-Ausland« tätig, bis er 1981 Selbstmord begangen haben soll. Obwohl es sich bei dem Attentat um einen der ersten antisemitischen Morde in Deutschland nach 1945 handelt, ist er heute weitgehend in Vergessenheit geraten. Viele Kontextualisierungen der jüngsten rechtsterroristischen Anschläge konzentrieren sich auf Kontinuitäten seit dem Mauerfall. Dass diese wesentlich weiter zurückreichen, zeigt der Komplex um den Erlanger Doppelmord.
Warnungen und Verharmlosungen
Nach ihrer Gründung 1973 durch Karl-Heinz Hoffmann, wuchs die WSG auf rund 400 Mitglieder an und es entstanden mehrere regionale Ableger. Damit wurde sie zu einer der größten paramilitärischen Neonazi-Organisationen in der BRD. Diese Entwicklung wurde von Antifaschist*innen mit zunehmender Sorge beobachtet und kritisch begleitet. Linke Journalist*innen und Aktivist*innen recherchierten und dokumentierten nicht nur langfristig und intensiv die Aktivitäten und die Vernetzung der WSG, sondern versuchten auch Hoffmanns Strategie der öffentlichen Selbstverharmlosung entgegenzuwirken, indem sie das gewonnene Material politisch einordneten. Auf Grundlage dieser Arbeit brachten Abgeordnete der SPD ab 1974 wiederholt Anfragen zur WSG in verschiedenen Landtagen und im Bundestag ein. Wie auch außerparlamentarische linke Gruppen forderten sie bereits früh ein Verbot der Organisation. Unter anderem verband die Nürnberger »Antifaschistische Aktionseinheit gegen die Wehrsportgruppe Hoffmann« die Recherche- und Aufklärungsarbeit, die sie mit Hilfe von Broschüren leistete, außerdem mit Straßenprotesten gegen die Umtriebe der WSG. Immer wieder betonte auch Shlomo Lewin öffentlich die Gefahr, die von Antisemitismus und rechten Strukturen ausging. So warnte er schon 1977 in der italienischen Zeitung »OGGI« vor Hoffmann und der WSG. Im selben Jahr sprach er auf einer Kundgebung gegen einen geplanten revisionistischen »Auschwitz-Kongreß« in Nürnberg, an dem neben dem Holocaustleugner Thies Christophersen unter anderem auch Hoffmann teilnehmen sollte. Noch im April 1980 mahnte Lewin in seiner Eröffnungsrede zu den »Wochen der Brüderlichkeit« in Erlangen: »Nach zwei Jahrtausenden Verleumdung und Verfolgung von Juden muß weiter daran gearbeitet werden, Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen und sich gegen neue Anfechtungen zu schützen.« Wenige Monate später wurde er ermordet. Während Antifaschist*innen und Betroffene von Beginn an auf die Gefahren hinwiesen, die von der WSG ausgingen, wurden die Aktivitäten militanter faschistischer Organisationen durch die CSU-Regierung im Landtag lange Zeit verharmlost, gebilligt und damit erst ermöglicht. Bayerische Regierungsvertreter wurden dabei nicht müde zu betonen, dass die wahre Gefahr ganz eindeutig links zu verorten sei. Folgerichtig wurde antifaschistische Recherchearbeit, wie zum Beispiel die des »Pressedienst Demokratische Initiative« oder der »Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes« (VVN), diffamiert und antifaschistischer Widerstand kriminalisiert. Der Antikommunismus der CSU erwies sich als ideologische Schnittstelle zur extremen Rechten. Diese bayerische Tradition, setzt sich aktuell in der »Extremismustheorie« und der anhaltenden Delegitimierung der VVN fort.
Diffamierung und Entpolitisierung
Obwohl ein antisemitisches Tatmotiv in Erlangen von Beginn an hätte nahe liegen müssen und Indizien am Tatort auf die unweit ansässige WSG verwiesen, wurde lange nur oberflächlich in Richtung rechter Gruppierungen ermittelt. Stattdessen konzentrierte sich das bayerische Landeskriminalamt (LKA) auf das persönliche Umfeld der Opfer und war selbst bei Lewins Beerdigung in Haifa anwesend. Umstände, die an Ermittlungen zu anderen rechten Gewalttaten erinnern. Auch nach dem rassistischen Brandanschlag in Mölln 1992 und den NSU-Morden wurde das persönliche Umfeld verdächtigt und trotz der Hinweise Betroffener Rassismus nie ernsthaft als Tatmotiv in Betracht gezogen. In der Manier einer Täter-Opfer-Umkehr wurde nach Verfehlungen und Verwerfungen Lewins gesucht, ähnlich wie beispielsweise den Opfern des NSU kriminelle Machenschaften unterstellt wurden. Dies spiegelte sich im Falle Lewins auch in der medialen Berichterstattung wider. Haltlose Gerüchte über geheimdienstliche Tätigkeiten und Spekulationen über seine angeblich »schillernde Persönlichkeit wurden abgedruckt. 1984 schließlich begann ein Prozess gegen Karl-Heinz Hoffmann, der auch eine mutmaßliche Beteiligung am Erlanger Doppelmord zum Gegenstand hatte. Trotz erheblicher Zweifel an seiner Unschuld, wurde er von der Mittäterschaft am Doppelmord freigesprochen. In seiner Vernehmung etablierte Hoffmann eine Selbsterzählung, der zufolge er weder Neonazi noch Antisemit sei. Seine Inszenierung war erfolgreich. Im Urteil des vorsitzenden Richters Rudolf Koob spielte Antisemitismus als Tatmotiv keine Rolle. Bei einem Podium zum Hoffmann-Prozess im Herbst 2019 setzte sich diese Entpolitisierung Hoffmanns fort. Sein Pflichtverteidiger Klaus-Harald Bukow porträtierte seinen ehemaligen Klienten als charismatisch und engagiert. Er habe mit seiner WSG lediglich »Faschingsspinnerei« betrieben, sei aber weder Neonazi noch Antisemit gewesen.
Gedächtnislücken
Paul Spiegel, ehemaliger Vorsitzender des »Zentralrats der Juden in Deutschland«, betonte 20 Jahre nach dem Doppelmord, dass in den jüdischen Gemeinden nicht nur Entsetzen über die Tat geherrscht habe, sondern auch darüber, dass der Aufschrei der deutschen Mehrheitsgesellschaft ausblieb. Da eine breite Solidarisierung mit den Opfern rechten Terrors nicht stattfand, geriet das Attentat zunehmend in Vergessenheit. In Erlangen versandete das öffentliche Gedenken an die Opfer nach wenigen Kranzniederlegungen in den 1980er Jahren. Erst 2010 wurde eine Freizeitfläche in »Lewin-Poeschke-Anlage« umbenannt. Doch den gesellschaftspolitischen Kontext der Tat sparte der damalige Oberbürgermeister Siegfried Balleis in seiner Einweihungsrede vollkommen aus. Am Straßenschild der Lewin-Poeschke-Anlage fehlte zunächst sogar jeglicher Hinweis darauf, wer Shlomo Lewin und Frida Poeschke waren, ehe infolge einer Kritik in der »Jüdischen Allgemeinen« eine Zusatztafel ergänzt wurde. Allerdings gab auch diese keinen Aufschluss darüber, unter welchen Umständen die Namensgeber*innen gestorben waren. Eine entsprechende Einordnung fehlt auch auf einer weiteren Gedenkplakette, die dort anlässlich des 35. Jahrestags ihrer Ermordung angebracht wurde. Ein kritisches Gedenken, in dem die politische Dimension der Tat reflektiert wird, organisieren seit etwa zehn Jahren verschiedene antifaschistische Gruppen.
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Keine Überraschungen
1977 hielt Shlomo Lewin in Nürnberg anlässlich der Proteste gegen den »Auschwitz-Kongreß« eine Rede. Darin forderte er, Nazis überall und jederzeit zu enthüllen, zu ächten und zu bekämpfen. Denn nur wenn uns die Erfahrung nicht gelehrt hätte, so Lewin, dass jeder Anfang der Organisation von Nazis – wie auch der Verbreitung ihrer Ideologie bereits eine Gefahr bedeutet – nur dann wäre man in der Lage vor diesen Anfängen die Augen zu verschließen. Anders, als Annegret Kramp-Karrenbauers Rede vom »Alarmzeichen« nach dem antisemitischen Anschlag in Halle im Oktober 2019 es suggerieren möchte, markieren die jüngsten rechten Terroranschläge jedoch keinen Anfang. Sie sind nicht, wie Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sagte, »unvorstellbar«, sondern stehen in einer langen Tradition vergangener Taten und sind die konsequente Folge von ebenso langer Verharmlosung und Schuldabwehr durch Staat und Mehrheitsgesellschaft. Einzeltaten aus ihnen zu machen heißt sie zu entpolitisieren. Um dem rechten Terror zu begegnen, müssen wir seine Geschichte kennen; zu ihr gehört auch der Mord an Shlomo Lewin und Frida Poeschke. Diese Geschichte zeigt, dass die Konsequenzen, die die emanzipatorische Linke teilweise aus dem NSU gezogen hat, lange überfällig waren. Sie zeigt, dass wir Betroffenen zuhören und Antisemitismus und Rassismus so lange als Tatmotive annehmen müssen, bis ein solcher Hintergrund sicher ausgeschlossen werden kann. Wir müssen weiterhin solidarische antifaschistische Strukturen aufbauen und kritisches Gedenken organisieren, denn auf den Staat können wir uns nicht verlassen.