Wer ist die Welle?
von Carsten Neumann
Magazin »der rechte rand« Ausgabe 182 - Januar / Februar 2020 online only
#Netflix
Die Gewalt fängt an,
wenn Eltern
ihre folgsamen Kinder beherrschen,
und wenn Päpste und Lehrer und Eltern
Selbstbeherrschung verlangen.
Die Gewalt herrscht dort wo der Staat sagt:
„Um die Gewalt zu bekämpfen
darf es keine Gewalt mehr geben
außer meiner Gewalt!“
Die Gewalt herrscht
wo irgendwer oder irgend etwas
zu hoch ist oder zu heilig,
um noch kritisiert zu werden.
Erich Fried
Filme, und heutzutage besonders Serien, spiegeln mit hoher Reaktionsgeschwindigkeit die zeitgeschichtlichen Widersprüche. Diese Spiegelungen werden verzerrt durch die herrschende Meinung, wenn sie geschrieben werden, ohne sich die künstlerische Freiheit zu nehmen für eine andere Gesellschaft zu kämpfen. Diese Zerrbilder des Bestehenden legitimieren die falschen Zustände, statt sie zu kritisieren oder etwas anderes an ihre Stelle zu setzen. Das Spiegelbild entwickelt so eine fiktionale Realität, welche die zukünftigen Aktionen zur Sicherung der Herrschaft zu einer Reaktion auf eine nie existierende Realität umdeutet. Aus der Möglichkeit der Emanzipation durch eine Erzählung, also der Erweiterung des Machbaren durch die Idee der Freiheit, wird so eine reaktionäre Propagandalüge, die einer weitere Unterdrückung, dem Autoritarismus oder gar dem Faschismus den Weg ebnet. Doch was hat dies mit der aktuellen Netflix-Serie und dem gerade eben angebrochenen Jahr 2020 zu tun?
Gleich zu Anfang von „Wir sind die Welle“ lernen wir die Hauptcharaktere des spontaneistischen, militanten Armes einer Bewegung kennen, die womöglich an Fridays for future oder Extinction Rebellion erinnern soll. Männlich, weiblich, bäuerlich, städtisch, provinziell, mondän, bürgerlich, kriminell. Held oder Loser – eben sehr divers oder einfach nur dualistisch. Statt sich jetzt um die Charaktere, Dialoge, den Spannungsbogen oder schauspielerische Leistungen wie die übliche Filmkritik zu kümmern, gilt der Blick jetzt ganz kriminologisch, nur dem Modus operandi der Widerständigen.
Ein erster Anschlag auf einen Menschen erfolgt, indem einem Politiker, unschwer als AfD-Kandidat zu erkennen, seine Wasserflasche auf der Bühne, mit einer Droge versetzt, gereicht wird. Der sich daraufhin selbst entlarvt, indem er ins Publikum lallt, was viele AfD-Wähler*innen denken und sagen und wie ihre Poltiker*innen twittern. Darin liegt im Film etwas Aufklärerisches. Leider ist dies schon mehrere Jahre Realität in den Parlamenten, Kommentarspalten und auf den Bildschirmen. Wir alle sind daran gewöhnt, dass AfD-Politiker*innen und -Wähler*innen dazu aufrufen, Menschen zu erschießen, sie ertrinken zu lassen und missliebige Personen zu deportieren. Ganz ohne linke Terrorist*innen, die sie mittels Mittelchen im Trinkwasser entlarven müssten. Es reicht, ihnen ein Smartphone oder ein Mikrofon zu reichen.
In einer weiteren Szene greift der Sohn der insolventen Ökobauernfamilie unter die Jacke. Spannung! Wird er jetzt, ganz wie erwartet, die Knarre ziehen und den bösen Kapitalisten über den Haufen schießen? Sich selbst und seiner Familie, ja der Welt Gerechtigkeit bringen? Doch sein Genosse fällt ihm in den Arm. Es gab auch nie eine Pistole. Nur einen roten Farbbeutel für ein blutloses veganes Attentat. Die wahrscheinlich realistischste Szene des Films. Denn es gibt sie nicht, diese Mordversuche durch Ökos an den Zerstörern unserer sozialen und ökologischen Lebensgrundlagen. Es gibt keine Antifa, die Faschisten betäubt und entführt.
Und so startete das neue Jahr mit der Erzählung der „Welle“ in der Realität – einer, aus der die Fiktion entsprang. Aus dem Twitter-Account der Leipziger Polizei. Ausgerechnet Sachsen. Immer wieder Nachrichten aus dem Bundesland mit dem Naziproblem. Dabei hilft die Erzählung des gallischen Dorfes Connewitz. Dort, wo angeblich Autonome eine No-Go-Area für „Nazis und Cops“ errichtet haben, wie es ein Graffiti am Eingang des Viertels verkündet. Hier wo an Silvester eine Agitprop-Aktion zum irren Anschlag auf eine ganze Einsatzhundertschaft hochgejazzt wurde. Ein mit bemalter Pappe als Polizeiauto verkleideter Einkaufswagen wurde auf die Straße geschoben und angezündet. Eben nicht wie die Polizei schrieb: „Mitten in eine Einheit der Bereitschaftspolizei.“ Dies scheint allen Menschen bekannt zu sein, die sich mit den Ereignissen des Abends beschäftigt haben. Es scheint nur niemand darüber reden zu wollen. Warum? Weil es sich nicht eignet, um Menschen einzusperren und weil man nicht wirklich über die zunehmende Militarisierung im Auftreten und der Ausstattung der Polizei sprechen möchte. Eben der Besetzung des Dorfes durch die Römer.
Die Erzählungen der sächsischen Polizei und die von „Wir sind die Welle“ haben eine Gemeinsamkeit: Sie holen das Gespenst der RAF aus dem Schrank. Ein wohliges Gruseln, ohne jeden aktuellen Bezug. Es gibt in den angrenzenden Nachbarländern weder irgendeine Form von linker Stadtguerilla noch in diesem Land. Stattdessen gibt es hier wie dort ein immer gewalttätigeres Auftreten der Polizei. In Frankreich gab es hunderte Schwerverletzte und mehrere Tote bei den Protesten der Gilets jaunes (Gelbwesten). Und auch der G20-Gipfel schlug eine Schneise der Polizeigewalt durch die Gipfelgegner*innen in Hamburg. Jeder Mensch, der auf eben diese Gewalt hinweist, wird attackiert, als jemand, der die herbei halluzinierte, nur in der Form in den Erzählungen vorkommende Gewalt gegen Polizist*innen rechtfertigt. Hier sind sich die sich selbst „bürgerliche Mitte“ Nennenden schnell einig mit denen, die sie als „rechten Rand“ bezeichnen.
Es ist eines der Zeichen des Faschismus, dass er die Sprache der Bilder und Worte so verändert, dass es kaum noch möglich ist, politisch zu diskutieren. Definitionen und Fakten werden nicht beachtet, Argumente werden mit Propagandalügen erfolgreich angegriffen und zerstört. So „widerlegt“ wird der Widersprechende ebenso niedergetrampelt wie der nachdenklich Schweigende. Denn es gibt keinen Unterschied mehr zwischen dem Argument und dem, der es nutzt. Es verhält sich in der heutigen Zeit wie in der Tierfabel „Rhinocéros“ von Eugène Ionesco aus dem Jahr 1959: „Wer sich an das Absurde gewöhnt hat, findet sich in unserer Zeit gut zurecht.“ Der Meister des absurden Theaters hätte seine Freude an der momentanen Aufführung von Politik in Deutschland und Frankreich gehabt. Nazis, darunter einschlägig wegen Gewalttaten Vorbestrafte und ein Mitarbeiter der sächsischen Justiz, die gemeinsam zu Hunderten den Stadtteil Leipzigs mit Äxten, Schlagstöcken und Messern zeitgleich gut organisiert während einer Legida-Kundgebung überfallen haben, warten seit Jahren auf ein Gerichtsverfahren. Ein junger Mann, nicht vorbestraft, der einem Polizisten spontan an Silvester ein Bein gestellt hat, kommt in U-Haft und ist nach wenigen Tagen zu einer sechsmonatigen Haftstrafe auf Bewährungsstrafe verurteilt. Wie in der Serie „Wir sind die Welle“ sind militante Nazis ein paar Lausebengel vom Schulhof, die keine wirkliche Gefahr darstellen. Nervig zwar, doch kein wirkliches Problem, da sie immer unorganisiert und spontan handeln und ihre Anführer nicht gerade schlau sind.
Argumentiert die Polizei wie Netflix oder Netflix wie die Polizei?
Wer jetzt widerspricht, gar das Erstarken autoritärer und faschistischer Ideen in der Gesellschaft benennt, gerät zunehmend persönlich unter Druck.
„Nicht zu denken wie die anderen bringt einen in eine unangenehme Situation. Nicht zu denken wie die anderen, das heißt einfach, dass man denkt“, wie Ionesco schon im Schicksalsjahr der Autoritäten 1969 in einem Gespräch treffend feststellte.