Sie wollen regieren

von Jan Rettig
Magazin »der rechte rand« Ausgabe 179 - Juli / August 2019

#Europaparlament

der rechte rand Antifa Magazin
Matteo Salvini, Jörg Meuthen und Marine Le Pen im Mai 2019 in Mailand



Anfang April kündigte Matteo Salvini (»Lega«) die größte Fraktion im neuen Europaparlament (EP) an, denn man sei ja schließlich nicht angetreten, um zu verlieren. Ganz im Gegenteil: »Wir wollen regieren!« war seine Losung. Die erste Aufregung um die Wahlergebnisse hat sich gelegt, die Rechten sind nicht durchmarschiert, werden nicht die Größten sein, werden nicht Europa abschaffen. Dabei war die im Vorfeld häufig anzutreffende, sprachliche Verkürzung zu »Europawahl« sachlich so falsch, wie sie politisch richtig so einige Befürchtungen auf den Punkt brachte: als stünde Europa selbst zur Wahl. Die unablässig heraufbeschworene Bedrohung der EU durch das nationalistisch-identitäre Konzept eines »Europa der Vaterländer« wollte dabei vor allem drei Dinge verkennen: Erstens kann das EP allein das EU-Gefüge nicht einschneidend verändern, geschweige denn abschaffen. Zweitens wollen Teile der extremen Rechten auch mit- und nicht nur kaputtmachen. Und drittens wurde das merkantile Projekt EU inklusive seiner selektiven Abschottung gegen Unerwünschte ganz ohne die extreme Rechte erbaut.



Fraktionsgründung
Mitte Juni wurde die extrem rechte Fraktion »Identity and Democracy« (ID) nun offiziell vorgestellt. Ihr werden vorerst »Lega«, »Alternative für Deutschland« (AfD), »Rassemblement National« (RN), »Vlaams Belang« (VB), »Freiheitliche Partei Österreich« (FPÖ), »Dansk Folkeparti« (DF), »Perrussuomalaiset« (PS), »Eesti Konservatiivne Rahvaerakond« (EKRE) sowie die tschechische »Svoboda a P?ímá Demokracie« (SPD) und damit 73 der insgesamt etwa 150 extrem rechten europäischen Parlamentarier*innen angehören. Als fünftgrößte Fraktion sind sie weit hinter ihren Erwartungen zurück geblieben, und doch ein ganzes Stück vorangekommen. Erst knapp ein Jahr nach Beginn der letzten Legislaturperiode reichte es für das erforderliche Länderquorum zur Bildung der Fraktion »Europe of Nations and Freedom« (ENF). Die vertrug sich dann aber erstaunlich gut, selbst das ewige Thema Südtirol bot zuletzt keinen Anlass mehr für großen Streit. Jetzt bildet sie den Kern für das neue Projekt, welches durch die Übertritte der skandinavischen Delegationen von der Fraktion »European Conservatives and Reformists« (ECR) und die Aufnahme der EKRE tatsächlich einen breiteren Sammlungscharakter hat. Und nicht zu vergessen, einige regieren schon: in Italien und Estland, und bis vor kurzem noch – und nicht auszuschließen ab Herbst vielleicht wieder – in Österreich. Die PS ist im März als zweitstärkste Partei ins finnische Parlament gewählt worden, zumindest prinzipiell waren Koalitionsgespräche seitens des sozialdemokratischen Siegers nicht ausgeschlossen. Dieses nationale Potential wird nun durch eine mit noch mehr Ressourcen und Rechten ausgestattete EP-Fraktion maßgeblich flankiert.

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Europa retten!?
Die extreme Rechte will natürlich nicht einfach dieses Europa, also die Europäische Union wie sie ist, regieren. Sie wollen die EU »an Haupt und Gliedern reformieren«. Darin haben die Parteien der neuen Fraktion auch ihre größte Gemeinsamkeit. Was die AfD in ihrem Programm zur EP-Wahl als regressives Reformprogramm bietet, findet sich so oder sehr ähnlich bei allen wieder: Rückbau sämtlicher EU-Institutionen und -Verwaltungen, mehr Volksabstimmungen, Abschaffung beziehungsweise Degradierung des EPs und des Europäischen Gerichtshofs, dafür eine Stärkung der zwischenstaatlichen Kooperation via Europäischem Rat sowie die Ablehnung der sogenannten Transfer-, Banken- und Sozialunion. Das zweite gemeinsame Mantra ist die Bedrohung durch die Immigration und den Islam, würde beides nicht bald eingedämmt, drohe nämlich ein »Zivilisationsabbruch historischen Ausmaßes« (AfD-Programm 2019). Salvini auf einer Wahlkampfveranstaltung im Mai: »Entweder wir retten Europa oder Europa stirbt und wir bekommen ein islamisches Kalifat.« Mit 34 Prozent der Stimmen und 28 EP-Mandaten wurde die »Lega« überdies für ihre reale Abschottungspolitik belohnt. Diskursiv bedienten sämtliche Parteien aus der ID-Runde die Ressentiments gegen Geflüchtete und Immigrant*innen. Jeweils verschieden kombiniert mit weiteren Heidenängsten vor Terror, Globalisierung, Multi-Kulti und Heimatlosigkeit ergoss sich europaweit eine alarmistische, hasserfüllte Agitation gegen alles Andersdenkende und Andere. Aber die Rettung des Abendlandes, das eigene Europa der Vaterländer, Völker und Nationen entpuppt sich bei genauerer Betrachtung trotz aller mystifizierten Traditionen doch vor allem als handfeste Wirtschafts- und Interessengemeinschaft. Wie diese Interessen zusammenpassen, wird sich zeigen müssen. Auf die Nachfrage eines Journalisten bei der Vorstellung der ID-Fraktion, wie denn die gemeinsame Position zur Schulden- beziehungsweise nationalen Budgetpolitik sei, blieb der neue Fraktionsvorsitzende Marco Zanni (»Lega«) zu Recht einsilbig. Als die italienische Regierung unter Quasi-Führung der »Lega« im letzten Jahr die europäischen Defizitregelungen zu missachten begann, wurde sie von höchster Stelle der AfD noch als »Spinner« bezeichnet. Während also einige eine Flexibilisierung anstreben, beharren andere auf strikter Haushaltsdisziplin, wenig überraschend je nachdem, wie die eigene Volkswirtschaft im Euroraum so dasteht. Diese sachlich-inhaltlichen Bruchlinien übersetzen sich formal auch in verschiedene Machtpositionen. Denn »Lega« und EKRE haben über das EP hinaus auch Einfluss auf die Verhandlungen in der Kommission und diversen Ministerräten. Sollten ihre Positionen von denen der anderen Fraktionsmitglieder abweichen, kann zwar im EP immer noch unterschiedlich abgestimmt werden. Was aber bisher üblich war und querelenfrei ablief, könnte unter diesen Bedingungen durchaus für politischen Streit sorgen. Zumindest aber vertreten alle Beteiligten das Verlassen, beziehungsweise Auflösen der EU nicht (mehr) an erster Stelle. Stattdessen dominiert ein dezidierter Mitgestaltungswille, sicher einer der Gründe, warum sich Nigel Farage mit seiner »Brexit Party« bisher der ID verweigert. Sein erst Anfang 2019 in den Wirren der Brexitverhandlungen gestartetes UKIP-Nachfolgeprojekt stellt nun mit 29 MEPs neben CDU/CSU die größte Parteidelegation im EP überhaupt. Eine Teilnahme an der ID würde die Uneinigkeit in der Frage nach den EU-Sanktionen gegen Russland weiter verschärfen. Das Spektrum der Forderungen reicht so schon von Aufhebung (»Lega«, AfD und RN), über einen pragmatisch-ökonomischen Umgang (PS) bis zur Ablehnung jeder Annäherung an Russland (DF, EKRE). Letzteres sieht aus nahe liegenden historischen Gründen auch die polnische »Prawo i Sprawiedliwo??« (PiS) so und erklärt trotz aller Skepsis die EU-Mitgliedschaft aus Sicherheitserwägungen gar zum »Gebot des polnischen Patriotismus« (Jaroslaw Kaczynski) und hält weiter an ihrer ECR-Fraktion fest. Dort wurden jüngst die spanische »Vox« und die »Fratelli d‘Italia« aufgenommen. Der größte Coup für die ID wäre ohnehin die schon lange angebahnte Partnerschaft mit dem von der Europäischen Volkspartei auf Probe verstoßenen ungarischen »Fidesz«. Während die Positionen zur EU und Immigration nahezu deckungsgleich sind, würde das Spektrum des Antisemitismus aber erheblich erweitert. Der findet sich zwar auch bei vielen in der ID wieder, so plumpe und offen antisemitische Kampagnen, wie die gegen George Soros, würden derzeit aber die wenigsten wagen. Die ID jedenfalls hält allen diesen Parteien die Türen offen und geht sowieso von übergreifenden Kooperationen aus. Kein Wunschtraum in einem deutlich fragmentierteren EP, in welchem die Suche nach Mehrheiten ganz neue Einflussmöglichkeiten aufmacht. Ob jetzt erstmals Posten in Ausschüssen oder Legislativprozessen rausspringen, ist noch nicht ausgemacht. Allein an den Parlamentsmandaten hängen schon genug Finanzen, Infrastruktur und weitere Jobs, die der kollektiven Sache sowie den individuellen Karrieren dienlich sind.



Ein Europa der Europäer?
Der ultranationalistische Souveränismus der ID-Parteien entbehrt nicht einer gewissen Ambivalenz. Einerseits trennt er natürlich alle voneinander, andererseits passiert in seinem Namen überall das Gleiche: In den Gesellschaften vorhandene, mobilisierende Leidenschaften (Robert Paxton) werden gezielt angesprochen und zugespitzt; ökonomische wie kulturelle Ressentiments gegen alles Fremde, Wünsche und Bedürfnisse nach Einfachheit, mehr Reinheit, mehr Abgeschlossenheit, mehr wie früher und nicht zuletzt nach mehr Führer. In dieser Hinsicht kann der nationalistische Bezugsrahmen auch mal ganz sinnbildlich in den Hintergrund treten wie etwa auf einer Massenveranstaltung kurz vor den EP-Wahlen in Mailand, auf der sämtliche neue und alte Freund*innen Salvinis Wahlkampf betrieben und Kampfparolen ausgaben: »Prima l‘Italia!« (Italien zuerst!) hieß es groß hinter dem Redner*innenpult. Obwohl es um Europa ging und obwohl ein ganzer Haufen ‹fremdländischer Nationalist*innen› da sprechen durfte. Das ist mitnichten die Überwindung aller Widersprüche einer schwarzen Internationalen. Seit einiger Zeit schon wird aber vermehrt wieder an einer rechten Europakonzeption gearbeitet, die sowohl die einzelne als auch die gemeinsame Identität betont, im Zweifel aber die Nation hinter sich lässt. Das schließt an extrem rechte Zwischen- und Nachkriegsströmungen wie den Eurofaschismus an und findet sich heute in Teilen der so genannten »Neuen Rechten« wieder. Vielleicht unfreiwillig blies der PS-Vorsitzende Jussi Halla-aho bei besagter Vorstellung der Fraktion in dieses Horn, indem er feststellte, sie seien in der Tat nicht anti-, sondern proeuropäisch. Und wenn auch der Parlamentarismus nicht zum Kerngeschäft der extremen Rechten gehört, so hat sie sich doch taktisch zunächst soweit mit ihm arrangiert, dass sie seine Klaviatur schon auf vielen Ebenen zu spielen weiß. Inwieweit ihr das jetzt auch auf europäischer Ebene gelingt, bleibt abzuwarten und zu beobachten. Den nach den Wahlen häufiger zu hörenden Erleichterungsseufzern sei aber schon und noch einmal entgegnet: Im Unterschied zu 2015 umfasst die ID-Fraktion heute bereits mehr als doppelt so viele Abgeordnete, verfügt in ihren Reihen über zwei Regierungsparteien und hält noch einiges an Wachstumspotential bereit. Kein wirklicher Anlass zum Aufatmen also.