Deutsche Geschichte

von Christian v. Ditfurth
Magazin »der rechte rand« Ausgabe 182 - Januar / Februar 2020 online only

#Rezension

Die staatsoffizielle NS-Vergangenheitsaufarbeitung ist ein Geschäft. Gewinn und Verlust. Als die Behörden und Parteien der BRD noch durchsetzt waren mit Ex-Nazis, entstanden mit jeder Enthüllung Verluste. Jeder in der Öffentlichkeit enttarnte Nazi schädigte Westdeutschlands Ansehen. Imageverluste aber sind teuer. Noch heute weigern sich Menschen, vor allem Jüdinnen und Juden, Volkswagen zu fahren oder ihre Wäsche in Miele-Geräte zu stecken.

Das BRD-Wirtschaftswunder ist unbegreiflich ohne die Verdrängung der Nazischuld. Schuld waren laut westdeutscher Rechtsprechung Hitler, Himmler und Heydrich. Der Rest waren Mitläufer, Irregeleitete oder Opfer des Befehlsnotstands. Denen konnte man Mercedes-Autos und Siemens-Radios abkaufen. Zumal sich die Nazi-Antikommunisten schnurstracks in demokratische Antikommunisten verwandelten. Der Hauptfeind blieb, die Methoden änderten sich.

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© KAS/ACDP CC-BY-SA 3.0

Die NS-Vergangenheitsaufarbeitung ist auch eine biologische Frage. Seit es keine Ex-Nazis in den Ämtern mehr gibt, übertreffen sich die deutschen Behörden bei der Aufklärung ihrer braunen Wurzeln. Der Bundesgerichtshof rügte sich selbst, ebenso das Justizministerium, das Außenministerium (in dem es nach dem Krieg mehr NSDAP-Mitglieder gab als vor 1945), der Bundesnachrichtendienst, das Bundeskriminalamt, Landeskriminalämter (das in Nordrhein-Westfalen stellte gerade verblüfft fest, dass seine ersten vier Chefs allesamt tief im Sumpf des Reichssicherheitshauptamts steckten).

Verluste sind nun nicht mehr zu befürchten. Die letzten Nazi-Opas landen vor Gericht, seit sich mit dem Fall Demjanjuk die Rechtsprechung in NS-Verfahren grundlegend änderte. Die Massenmörder an den Schreibtischen, in den Lagern und hinter den Fronten aber waren längst friedlich weggestorben, sofern sie keine »Exzesstäter« waren, also nicht mehr auf dem Kerbholz hatten als die Erfüllung ihrer Vernichtungsaufgaben.

Dann aber übernahm die deutsche Justiz einen ukrainischen Hiwi aus den USA, der gleich zu »Iwan dem Schrecklichen« mutierte. Seine Chefs hatten sich, wenn sie überhaupt gefragt wurden, auf den Befehlsnotstand herausgeredet, den es für sie jedoch nie gab. Eine der wirkungsvollsten deutschen Lügen. Aber vielleicht gab es diesen Notstand für einen ukrainischen Hilfswilligen? Die deutsche NS-Vergangenheitsaufarbeitung ist eine monströse Heuchelei.

»Iwan der Schreckliche« war unbezahlbar. Ein PR-Geschenk für das Deutschland der Sonntagsredner. Weltweit fand die deutsche Justiz Bewunderung. Die Deutschen, so schien es, meinten es ernst. So spät noch nach dem Krieg! Dabei ist die Erklärung für diesen Mut so einfach wie erbärmlich. Vorher hatten höchste Gerichte geurteilt, dass nach 1945 nicht Unrecht sein könne, was davor Recht gewesen sei. Sogar der NS-Volksgerichtshof, diese Serienmordfabrik, galt westdeutschen Richtern als »ordentliches Gericht«, dessen Mitglieder bald ordentlich Karriere machten in der BRD. (Man betrachte die Videoausschnitte der Verhandlungen des Volksgerichtshofs gegen die Verschwörer des 20. Juli, wo die Justiztäter selbst beweisen, dass sie in Richterroben verkleidete Massenmörder waren.)

Nun sind sie weg. Geblieben sind ein paar NS-Greise, an denen man sich moralisch abarbeiten kann. Eine Vergangenheitsaufarbeitung dieser Art verspricht nur noch Gewinne: an Ansehen und Einnahmen.

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Insgesamt starben in Bergen-Belsen etwa 50.000 KZ-Häftlinge und 20.000 Kriegsgefangene.
© Mark Mühlhaus / attenzione

Wo Vergangenheitsaufarbeitung aber ein Verlustgeschäft ist, verdrückt sich das offizielle Deutschland in den Schluchten des Holocaust-Denkmals in Berlin. Den Völkermord an den Herero und Nama 1904 bis 1908 will die Bundesregierung wegverhandeln, nachdem der Bundestag heldenhaft den Völkermord der Türken an den Armenier*innen 1915/16 verurteilte. Wo Vergangenheitsaufarbeitung nichts abwirft außer Verlusten, wandelt sich alle Moralpriesterei in Gefeilsche. So war es bei den Zwangsarbeitern und Zwangsarbeiterinnen, die das Pech hatten, nicht als Kunden westdeutscher Exporte in Frage zu kommen. Aus diesem Grund haben die Sonntagsredner auch die Nachfahren der mehr als drei Millionen ermordeten sowjetischen Kriegsgefangenen vergessen, die zweitgrößte Gruppe unter den NS-Opfern. Von Reparationen für Griechen*innen und Italiener*innen ganz zu schweigen.

Was hat das mit dem Buch zu tun, das hier besprochen werden soll?
Sein Verdienst besteht darin, unseren Blick zu vertiefen. Tiefer in die Vergangenheit. Wir lernen, woher der Politik-Justiz-Komplex stammt, der sich im NS-Regime vollendete. Und nach dem zweiten Krieg nur die Gesetze der Biologie zu fürchten hatte. Die Wurzeln des Vernichtungsapparats stecken in der Niederlage der deutschen Revolution 1918/19. Als die Sozialdemokratie aus Furcht vor dem Bolschewismus und wegen längst eingeborener Staatstreue die kaiserlichen Behörden nicht antastete. Sie ließ jene Richter und Staatsanwälte weitermachen, die zuvor in Kaisers Namen Sozialdemokraten zu Gefängnis und Festungshaft verurteilt hatten. Die »Unabhängigkeit der Richter« des abgehauenen Kaisers war der SPD heilig.

Diese Justiz aber wurde sogleich zur Speerspitze der Konterrevolution. Fememörder wie die Hakenkreuzler der »Marine-Brigade Ehrhardt« oder der »Organisation Consul« (OC) galten Weimarer Richtern als tapfere nationalgesinnte junge Leute, die vielleicht ein bisschen zu ungeduldig waren. Den Weltkriegsgeneral Ludendorff sprach ein Gericht frei von seiner führenden Teilnahme am Hitler-Putsch 1923 wegen seiner »Verdienste« im Ersten Weltkrieg. Die Reichswehrgeneräle schufen und bezahlten illegale Söldnertruppen (»Schwarze Reichswehr«). Wer deren Existenz kritisierte, musste mit einen Hochverratsverfahren rechnen. Wenn er nicht gleich umgebracht wurde.

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Heinrich Hannovers und Elisabeth Hannover-Drücks Buch über die politische Justiz in der Republik von Weimar ist 1966 erschienen. Die Studie ist bis heute die beste Übersicht über die Gesinnungsjustiz von 1918 bis 1933. Es ist ein Verdienst des Metropol-Verlags, dieses so wichtige und nach wie vor brandaktuelle Buch wieder herausgebracht zu haben. Die Autor*innen enthüllen, dass die Justiz dieser Zeit nichts anderes war als die Fortsetzung der Konterrevolution mit anderen Mitteln. Sie schildern im Detail die Verstrickung von Richtern und Staatsanwälten mit faschistischen und deutschnationalen Gruppen. Diese priesen die OC-Morde an »Erfüllungspolitikern« wie Matthias Erzberger und Walther Rathenau als Heldentaten.

Die Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht im Januar 1919 galt westdeutschen Behörden 1962 als legale standrechtliche Hinrichtung. Noch im Jahr 2020 erlaubt sich die Chefin der »Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur« die Ungeheuerlichkeit, am Todestag von Liebknecht und Luxemburg an die »Verbrechen des Kommunismus« zu erinnern. Als wären die beiden Vorläufer von Stalin, Mao und Pol Pot. Diese Schmähung entstammt offensichtlich einer Mischung aus Ahnungslosigkeit und Niedertracht. Die Massenmorde an revoltierenden Arbeitern und Soldaten – oder an Leuten, die dafürgehalten wurden – folgten dem Schießbefehl des sozialdemokratischen Volksbeauftragten Gustav Noske, der sich noch in seinen Memoiren rühmte, zu Beginn der Weimarer Zeit der »Bluthund« gewesen zu sein.

Das Buch zeigt, dass die Zerstörung der Weimarer Demokratie in hohem Maß der Justiz anzulasten ist. Sie hätte Mord als Mord verurteilen müssen, Verbrechen als Verbrechen. Um Linke und Pazifisten zu unterdrücken, erfand sie gar Straftaten, wo das Strafgesetzbuch nicht reichte. Ihre »Unabhängigkeit« und Unabsetzbarkeit nutzten Richter und Staatsanwälte, um die Republik zu bekämpfen. Die Nazis mussten sich das Personal für ihre Justiz nicht suchen. Es war schon da. Und wenn die Koryphäen der Rechtspflege lang genug lebten, durften sie auch in der BRD anklagen und urteilen. Die politische Justiz der Weimarer Republik, der NS-Justizterror, die Kommunistenverfolgung durch westdeutsche Gerichte: eine deutsche Tradition, zu deren Verständnis Heinrich und Elisabeth Hannover den Grundstein gelegt haben.

Waldemar Papst, der Mörder Luxemburgs und Liebknechts, lebte ab 1955 in der Bundesrepublik. Der Bundeswehr-Oberst Achim Oster berief sich auf Papsts Verdienste bei der Ermordung Rosa Luxemburgs, um diesem die Gunst der westdeutschen Militärführung zu sichern. Der Waffenhändler und Strippenzieher starb 1970 als unbescholtener Bürger.

Ein Kommunist erhielt zur gleichen Zeit wegen angeblich verbotener politischer Betätigung Strafverschärfung vor einem westdeutschen Gericht. Weil er schon einmal in gleicher Sache straffällig geworden sei. Im Dritten Reich. Es waren schon vor dem KPD-Verbot 1956 Nazistaatsanwälte und Nazirichter, die im Namen der BRD Tausende von Kommunist*innen in Zuchthäuser und Gefängnisse steckten. Ein paar Jahre nur, nachdem diese aus den Zuchthäusern, Gefängnissen und KZ der Nazis befreit worden waren.

Deutsche Geschichte.

Heinrich Hannover / Elisabeth Hannover-Drück Politische Justiz 1918–1933 Neuauflage des Klassikers im Metropol-Verlag

Heinrich Hannover / Elisabeth Hannover-Drück: Politische Justiz 1918-1933. Metropol Verlag, Berlin 2019, 368 Seiten, 22 Euro

Christian v. Ditfurth