Vom Radar verschwunden

von Gerd Wiegel
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 182 - Januar / Februar 2020

#Haftbefehl

Der Haftbefehl gegen den mehrfach vorbestraften Neonazi lag bereits seit Monaten vor, wurde jedoch aufgrund eines Widerspruchs des Beschuldigten noch nicht vollstreckt. So tauchte die Polizei bei der nächsten Durchsuchung – diesmal ging es um Sprengstoff – ohne richterliche Anordnung auf. Der Fund hätte ohnehin für eine Festnahme gereicht, aber noch vor dessen Entdeckung machte sich der gewaltbereite und seit Jahren polizeibekannte Neonazi ungehindert mit dem Auto davon und tauchte offiziell erst 13 Jahre später in einem ausgebrannten Wohnmobil in Eisenach wieder auf. Sein Name: Uwe Böhnhardt.


Erst mit der Selbstenttarnung des »Nationalsozialistischen Untergrund« (NSU) erlangte das Thema der offenen Haftbefehle gegen Angehörige der extremen Rechten bundesweite Aufmerksamkeit. Denn so wie Böhnhardt sich der Vollstreckung durch Abtauchen entzog, machten und machen es offenbar viele andere. Als die Linksfraktion im Bundestag vor Jahren erstmals dazu fragte, gab die Bundesregierung mit Stand vom 4. Januar 2012 an, es lägen gegen 160 Personen aus der Szene solche Haftbefehle vor, wobei es sich bei 50 Personen um Delikte handele, denen mindestens eine politisch rechts motivierte Tat zugrunde läge. Im Zuge des NSU-Skandals sorgte diese Zahl für gehörige Aufregung, denn niemand konnte und wollte ausschließen, dass sich hierunter mutmaßliche Rechtsterroristen befinden, die ähnliche Taten wie das Kerntrio begehen könnten. Das hat sich bis heute nicht geändert.

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Neonazi gesucht

Ungehindert nach Kambodscha?
Im September 2019 porträtiert Der Tagesspiegel das Leben eines solchen Täters – weit weg von der Bundesrepublik. Doch wie konnte Christopher F. überhaupt am anderen Ende der Welt untertauchen? Der extrem rechte Intensivtäter wird 2016 vom Amtsgericht Dippoldiswalde wegen Gewaltdelikten gegen einen Afghanen zu einem Jahr Gefängnis ohne Bewährung verurteilt. Nach seiner vorzeitigen Haftentlassung verschwindet der Mann von der Bildfläche und meldet sich nicht mehr wie vorgeschrieben regelmäßig bei der Polizei. Die Bewährung wird vom Gericht kassiert, doch der ausgestellte »Vollstreckungshaftbefehl« kann nicht umgesetzt werden, denn F. hatte sich bereits abgesetzt. In Kambodscha nimmt ihn die Polizei im November 2018 fest. Wohlgemerkt nicht wegen internationaler Fahndungsbemühungen deutscher Behörden, sondern aufgrund eines brutalen Raubes, bei dem er aufflog.


F. ist kein Einzelfall. Ende März letzten Jahres hielten sich nach Auskunft der Bundesregierung 44 gesuchte Neonazis im Ausland auf. 12 davon im deutschsprachigen Raum, also in Österreich (8) und der Schweiz (4), der Rest verteilte sich auf 20 weitere Länder – von Polen über Thailand bis nach Litauen. Immer wieder sorgt die Zahl der offenen Haftbefehle gegen Neonazis für Aufregung, vor allem dann, wenn es sich um politische Gewalttäter handelt. In Zeiten einer nicht nur verbalen Enthemmung der rechten Szene, in der rechtsterroristische Gruppen und Täter rassistische Morde und die Liquidierung von politischen Gegnern ankündigen und auch umsetzen, ist jeder abgetauchte gewaltbereite Neonazi eine potenzielle Gefahr. Und diese Gefahr nimmt seit Jahren zu, wie ein Blick auf die Zahlen zeigt.

Alles halb so gefährlich?
Waren es 2012 noch 160 Personen aus der Szene, die polizeilich gesucht wurden, ging die Zahl seither kontinuierlich nach oben: Im September 2017 wurde mit 501 Untergetauchten ein vorläufiger Höhepunkt erreicht. Ende März 2019 lag die Zahl immer noch bei 497 Neonazis, gegen die aufgrund von teils mehreren Urteilen insgesamt 657 offene Haftbefehle ausstanden. Von ihnen wurden 105 wegen einer rechtsmotivierten Tat gesucht und ebenso viele wegen Gewaltdelikten – darunter wiederum 18 Verurteilungen, auf die beide Kriterien zutreffen. Für die Gefährdungseinschätzung sind diese 105 Gewalttätigen und insbesondere jene aus dem Bereich »Politische motivierte Kriminalität (PMK) – rechts« von Bedeutung.


Der oben erwähnte Christopher F. gehört zur letzten Kategorie und auch Böhnhardt wäre hier zu verorten gewesen. Ohne das Bild der »tickenden Zeitbomben« überzustrapazieren, stellt sich natürlich die Frage, wie es sein kann, dass sich solche Täter der Vollstreckung des Haftbefehls schlichtweg entziehen konnten und immer noch können? Die detaillierte Rekonstruktion der kriminellen Karriere im Fall Böhnhardt zeigt das, was Antifaschist*innen zurecht oft befürchten: Entpolitisierung von Straf- und Gewalttaten; Entkontextualisierung aus einem ideologischen Zusammenhang, in den sich Taten und Täter*innen stellen; Verharmlosung und Bagatellisierung als jugendlicher Leichtsinn. Im ersten NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages bezeichnete ein Ermittler aus Thüringen die Sprengstoff­elaborate des Trios als Silvesterknaller und gab sogar zu, dass man es damals eher harmlos eingeschätzt hätte. Vor dem Hintergrund der tödlichen rechten Pogromwelle zu Beginn der 1990er Jahre war das damals schon eine fahrlässige Verharmlosung.

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Nach dem NSU sollte sich alles ändern und manches hat sich auch gewandelt. Dennoch werden rechte Intensivtäter von den Sicherheits- und Ermittlungsbehörden immer noch nicht so in den Blick genommen, wie es die Folgerungen aus dem NSU nahe legen müssten. Oder der Inlandsgeheimdienst hat möglicherweise eigene Interessen und sorgt dafür, dass jemand mit oder ohne Haftbefehl vom Radar verschwinden kann. Jedenfalls war der als höchstgefährlicher Neonazi eingestufte, mutmasslich an der Tötung des CDU-Politikers Walter Lübcke beteiligte, Stefan Ernst offiziell nicht mehr im Fokus der Behörden als er zuschlug.


Viel leiser von der Bildfläche verschwunden ist Ralf »Manole« Marschner. Er galt in der Vergangenheit als einer der Strippenzieher in der Zwickauer »Blood & Honour«-Szene um den NSU und er war V-Mann des Bundesamtes für Verfassungsschutz (s. drr Nr. 150). Bis heute wird gegen ihn im sogenannten »Neunerverfahren« als einem von neun weiteren Verdächtigen wegen Unterstützung des Kern­trios ermittelt. Im Sommer 2007 setzte er sich in die Schweiz ab, nur wenige Wochen nach dem letzten NSU-Mord in Heilbronn. Alles nur Zufall? Der seit 2012 offene Haftbefehl gegen ihn lautet bis heute lediglich auf Insolvenzverschleppung. Ein Beispiel dafür, dass hinter scheinbar unpolitischen Taten knallharte Neonazis stehen.

Nur kleine Fische?
Offiziell gehen die Behörden bei der Fahndung nach vielen Gesuchten mit unterschiedlichen Abstufungen vor, wobei höchste Fahndungspriorität Terrorismusdelikte haben, gefolgt von Gewalttaten mit oder ohne Bezug zur Politisch Motivierten Kriminalität (PMK) und sonstigen Delikten. Da Haftbefehle täglich ausgestellt und vollstreckt werden, handelt es sich um eine schwankende Statistik. Deshalb ist die Frage, seit wann die jeweiligen Haftbefehle bestehen, nicht unwichtig – sagt doch die Dauer eines offenen Haftbefehls etwas zum Aufwand aus, mit denen sich die gesuchten Neonazis der Festnahme entziehen: Von den 657 Haftbefehlen aus dem März 2019 ergingen 488 seit 2018, 34 waren älter als vier Jahre. Bei den PMK-Gewalttätern sind 13 von 18 Haftbefehlen aus 2019 beziehungsweise 2018 und keiner älter als 2015.


Gegenüber der Gesamtzahl von bundesweit unglaublichen 186.000 offenen Haftbefehlen erscheinen die zur Fahndung ausgeschriebenen Neonazis zwar nur wenige zu sein. Angesichts dessen könnte man sich dazu hinreißen lassen, keine Notwendigkeit für einen erhöhten Fahndungsaufwand gegen »normal« Straffällige – wie Unterhaltsverweigerer oder Steuerhinterzieher – aus der Szene zu sehen. Doch schon der Fall von Marschner führt diese Annahme ad absurdum, die noch weniger auf die Gewalttäter unter ihnen zutrifft. Denn schon die NSU-Morde und Raubüberfälle haben gezeigt, dass für rechten Terror ein paar Untergetauchte, unterstützt von einem Netzwerk in der Legalität, genügen. Im Zuge der rechtsterroristischen Anschläge in Halle und auf Walter Lübcke hat es zahlreiche Vorschläge zur Verbesserung der Arbeit der Sicherheitsbehörden im Bereich extreme Rechte gegeben. Einer davon soll den »personenbezogenen Gefährderansatz« stärker gewichten und die potenzielle Bedrohung stärker in den Blick nehmen. Das würde auf die 18 mit Haftbefehl gesuchten rechten Gewalttäter sicherlich anzuwenden sein. Aber es darf nicht vergessen werden, dass aus bürgerrechtlicher Sicht gegen diese Form der Gefahrenprävention zurecht starke Bedenken bestehen, weil diese schnell zu einer generellen Ausweitung von repressiven Maßnahmen führen kann, wie es in Bayern mit der augenscheinlich verfassungswidrigen Präventivhaft bereits Realität ist.

Wahrnehmungsprobleme?
Außerdem drängt sich bei den Zahlen der »Gefährderstatistik« wie so oft der Verdacht auf, dass die Sicherheitsbehörden das tatsächliche Ausmaß der Bedrohung nur lückenhaft kartieren. Im Oktober 2019 zählte das Bundeskriminalamt lediglich 43 potentielle rechtsterroristische Gewalttäter. Ob aus Absicht oder Inkompetenz sei an dieser Stelle dahingestellt. Fakt ist jedoch: Die der Tötung von Walter Lübcke Verdächtigen und der Attentäter von Halle waren nicht darunter – und die NSU-Terroristen hätte man wohl ebenso vergeblich in einer solchen Akte gesucht. Auch der Umstand, dass den Behörden über 12.700 Personen in der rechten Szene als gewaltbereit gelten, mag zu der niedrigen zweistelligen Zahl von Gefährdern nicht recht passen.


Zurück zu den Haftbefehlen. Im Fall Uwe Böhnhardt wurde seinerzeit von einigen ermittelnden Beamt*innen in Thüringen das Problem weniger im fehlenden polizeilichen Verfolgungsdruck gesehen, als vielmehr in einer von ihnen wahrgenommenen schützenden Hand, die sie in der Verfassungsschutz-Behörde zu erkennen glaubten. Zwar konnte trotz zahlreicher Indizien eine Mitwisserschaft von Geheimdienstmitarbeitern bis heute nicht abschließend bewiesen werden, sehr wohl aber wurde, nicht nur in den Untersuchungsausschüssen zum NSU-Komplex, der Schutz, den straffällige, gesuchte und auch einsitzende Neonazis durch die Ämter gefunden haben, immer wieder belegt. Ralf »Manole« Marschner zumindest soll vor zwei Jahren sogar in Karlsruhe ein Fußballspiel besucht haben und danach wieder unbehelligt von der Polizei in die Schweiz ausgereist sein. Dort musste er auf eine persönliche Bande nicht verzichten: Sein V-Mann-Führer hielt bis mindestens Mai 2013 Kontakt zu ihm, vielleicht auch länger.