Staatsschutzsenat liefert Schlussstrichurteil

von Björn Elberling und Alexander Hoffmann
Magazin »der rechte rand« Ausgabe 174 - September / Oktober 2018

#NSU

Der Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts München hat sein Urteil im NSU-Prozess gesprochen und er hat das geliefert, was von ihm zu erwarten war. Lebenslang mit Feststellung der besonderen Schwere der Schuld für Beate Zschäpe als überlebendes Mitglied der angeblich »isolierten Gruppe« und für die übrigen vier angeklagten Unterstützer so niedrige Urteile, dass die Kernaussage deutlicher nicht sein kann: Diese seien weit weg gewesen vom eigentlichen »Nationalsozialistischen Untergrund« (NSU), es habe keine Einbindung in ein militantes Netzwerk gegeben und es existierten in Deutschland keine militanten beziehungsweise terroristischen Neonazi-Netzwerke.

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Demonstration in Berlin »Kein Schlussstrich – Das Problem heißt Rassismus« anlässlich der Urteilsverkündung im Münchner NSU-Prozess. © Christian Ditsch

Eine höhere Bestrafung hätte diese Aussage in Frage gestellt. Ralf Wohlleben, früher aktiv in der »Nationaldemokratischen Partei Deutschlands« (NPD) und wichtige Persönlichkeit innerhalb der »Freien Kameradschaften«, wurde für die Lieferung der ?eská wegen Beihilfe zu den mit ihr begangenen Morden zu zehn Jahren Haft verurteilt. Es wurde gerade nicht darauf abgestellt, dass er eine Zentralfigur des UnterstützerInnennetzwerkes, aber auch in der militanten Neonaziszene war. Denn eine enge Verbindung zwischen der organisierten, »legalen« Szene und dem NSU hätte die viel kritisierte These der Bundesanwaltschaft (BAW) von der isolierten Dreiergruppe, die sogar eine Einzeltäterthese ist, in Frage gestellt.

Ähnlich ist die Verurteilung des Angeklagten André Eminger zu bewerten, der lediglich eine Strafe von zweieinhalb Jahren wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung erhielt. Dass das Gericht ausgerechnet dem bis heute überzeugten Nationalsozialisten Eminger – der Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos auch über den Tod hinaus die Treue hält – unterstellte, er habe nicht gewusst, welche Straftaten diese mit den von ihm gemieteten Autos begehen, ist abstrus. Umso mehr als das Gericht im Herbst 2017 nach dem Plädoyer der BAW Untersuchungshaft angeordnet, also einen dringenden Tatverdacht für alle angeklagten Straftaten bejaht hatte. Irgendwann muss dem Senat klar geworden sein, dass Eminger bei einer Verurteilung, wie sie der Bundesanwalt gefordert hatte, in der Öffentlichkeit logischerweise als viertes Mitglied des NSU gesehen werden würde. Dies hätte grundlegende Zweifel an der von offizieller Seite weiterhin vertretenen Einzeltäterthese ausgelöst.
Die Verurteilung von Carsten Schulze unter Anwendung von Jugendstrafrecht und Holger Gerlach zu jeweils drei Jahren Haft bewegen sich dagegen im strafrechtlichen Rahmen. Wobei Letzterer wohl ebenso von den sehr oberflächlichen Ermittlungen zu seiner Rolle im NSU-Netzwerk profitierte, denn der Senat blieb auch bei ihm unter den von der BAW geforderten fünf Jahren.

Reaktionen auf das Urteil – falsche Erwartungen?
In Erwartung eines solchen Urteils, das BAW und Gericht noch dazu als »Schlussstrich« unter »Pannenermittlungen« verkaufen wollten, sind die antifaschistische Demonstrationen, die Prozessbeobachtung durch NSU-Watch und das Engagement vieler NebenklägerInnen und ihrer AnwältInnen zu sehen.
Als das Gerichtsverfahren 2013 begann, stellte sich für manche VertreterInnen der Nebenklage die Frage, ob sie sich dazu hergeben sollten, durch ihre Beteiligung den Prozess quasi zu legitimieren. Die Aktivitäten der engagierten Nebenklage rechtfertigten dieses Wagnis allerdings schon bald. Das Gericht konnte dazu gebracht werden, die Unterstützerszene in Sachsen, vor allem »Blood & Honour« (B&H) in Chemnitz, unter die Lupe zu nehmen und V-Leute im Umfeld des NSU beziehungsweise deren V-Mann-Führer zu vernehmen. Dabei wurde deutlich, dass das Kerntrio nach seinem »Abtauchen« aus Jena in Chemnitz sowohl persönlich als auch organisatorisch eng in die dortige Naziszene eingebunden wurde. Hier begann die Freundschaft zu Eminger und auch Zschäpe nahm in dieser Situation an zahlreichen Diskussionen mit der B&H-Ortsgruppe teil, bei denen die nähere Zukunft und die Bereitstellung von falschen Papieren besprochen wurden.

All dies machte es Gericht und BAW unmöglich, einen kurzen Prozess, einen schnellen Schlussstrich zu ziehen. Wenngleich das Gericht letztlich eine Aufklärung der Strukturen in der Zeit seit dem Umzug nach Zwickau im Jahr 2000 unmöglich machte und die Nebenklage an die Grenzen ihrer Möglichkeiten kam, kann der Prozess insgesamt als Erfolg der Nebenklage und der kritischen Öffentlichkeit gewertet werden. Die mediale und gesellschaftspolitische Sichtweise auf den NSU ist heute maßgeblich von den Thesen der antifaschistischen Aufklärung bestimmt.

Die kritische Arbeit zum NSU war deshalb erfolgreich, weil sie ein eindeutiges Verhältnis zum Staat hatte. Von Beginn an war klar, dass der politische Widersacher in diesem Prozess vor allem der Bundesanwalt mit seinen Schlussstrichambitionen war. Das stete Aufzeigen des institutionellem Rassismus, des Versagens und der Verantwortlichkeit des Verfassungsschutzes sowie die Aufdeckung der militanten Neonazi-Netzwerke konnten den Blick immer wieder auf die gesellschaftlichen Grundprobleme lenken, die den eigentlichen Kern der Auseinandersetzung mit dem NSU ausmachen. Das Engagement vieler in und um den Prozess ging also von der alten Prämisse aus, dass Antifaschismus Handarbeit bleibt, dass auf den Staat – trotz Aufklärungsversprechen der Bundeskanzlerin und strategischen Eingeständnissen der Behörden – kein Verlass ist.

Nach dem Prozess – NSU abgeschlossen oder Dauerthema?
In der gegenwärtigen antifaschistischen Arbeit wird der NSU-Rechtsterror noch längere Zeit Thema sein: die Untersuchungsausschüsse, das irgendwann erscheinende schriftliche Urteil und die erwartbare Einstellung der Strafverfahren gegen neun weitere UnterstützerInnen werden Aufmerksamkeit erregen. Fraglich ist jedoch, in welcher Form eine kontinuierliche Einbeziehung des Themas in die politische Auseinandersetzung möglich ist. Bei der Beantwortung dieser Frage könnte ein Blick in die Vergangenheit hilfreich sein.

Der NSU entstand nach den nationalistisch-chauvinistischen und rassistischen Ausschreitungen der 1990er Jahre, die letztlich abebbten, weil die faktische Abschaffung des Asylrechts – ein lang gehegter Wunschtraum der etablierten Westparteien – der militanten Neonazi-Szene die offen zur Schau gestellte Zustimmung erheblicher Bevölkerungsteile wegbrechen ließ. Verstärkt durch das NPD-Verbotsverfahren und zunehmende Repression gegen die extrem rechte Szene.

Die vor allem aus Westdeutschland übergestülpten Neonazistrukturen wirkten aber weiter. Die »Gesinnungsgemeinschaft der Neuen Front« förderte die Entstehung von Gruppen wie dem »Thüringer Heimatschutz« (THS) und band sie in ihre Aktivitäten ein. Es gelang dem THS, sich mit gut organisierten Aktionen zu präsentieren. Dies führte zu einem größeren Selbstbewusstsein, zu eigenen Themenstellungen und Organisationsansätzen. Auch die bereits 1992 verbotene »Nationalistische Front« hatte frühzeitig darauf gesetzt, unabhängige Strukturen in den neuen Bundesländern aufzubauen. Außerdem verbreitete sie geschickt ihren nationalrevolutionären Ansatz, der im Wechselspiel mit der Enttäuschung über die wenig heilsbringenden Auswirkungen des Kapitalismus und einer gewissen Ostalgie gut angenommen wurde. Parallel hierzu entwickelte sich eine dynamische Skinhead-Subkultur. Konzerte, Läden und Versandhandel wurden lukrativ zur Kommerzialisierung der Szene genutzt und dienten dazu, ein sehr breites jugendliches Publikum anzusprechen.

Die von den Neonazis mitgebrachte Ideologie beinhaltete den bewaffneten Kampf, der seit den 1950er-Jahren Teil der westdeutschen Aktivitäten war. Zuletzt hatten die »Deutschen Aktionsgruppen« von Manfred Roeder Anfang der 1980er Jahre mit tödlichen Anschlägen auf Geflüchtete eine militante Kampagne gegen das Asylrecht eingeleitet. Im selben Zeitraum gab die »Hepp-Kexel-Gruppe« mit Anschlägen gegen amerikanische Militäreinrichtungen der legalen Propaganda eine terroristische Seite. Bewaffnete Aktionen waren für die Neonazis wichtig, zeigten sie doch, dass die seit Ende der 1960er-Jahre stark geschrumpfte Szene immer noch handlungsfähig war. Es gab keine Trennung zwischen bewaffneter und legaler Arbeit, propagiert wurde ab den späten 1980ern ein Netzwerk kleiner voneinander unabhängiger Gruppen.

Momentaufnahme des Rechtsterrors
Die Jenaer Ortsgruppe des THS nahm diese Ideologie auf: Während der eine Teil eine Mordserie, Bombenanschläge und Banküberfälle beging, organisierten sich Wohlleben und sein Umfeld innerhalb der NPD. Sie stellten die Schnittstelle zur Musikszene dar – vor allem zu »Blood & Honour« und den »Hammerskins« – und entwickelten die Strukturen der »Freien Kameradschaften« weiter. So ist es keine Überraschung, dass zahlreiche AktivistInnen aus den Netzwerken um den NSU herum heute noch maßgeblich aktiv sind und in den vergangenen Jahren bei Aktionen gegen Geflüchtete immer wieder auftauchten.
Kurzum: Die Taten des NSU reihen sich ein in eine Jahrzehnte dauernde Geschichte des Rechtsterrors in Deutschland, die natürlich auch nach dem Ende des NSU-Prozesses nicht beendet ist.

Die antifaschistische Bewegung sieht sich derzeit damit konfrontiert, dass ein erheblicher Teil der bis weit in die »Alternative für Deutschland« hineinreichenden Ideologie vom angeblichen »Volkstod«, vom »großen Austausch« immer auch den bewaffneten Kampf als »letzte Möglichkeit des Widerstandes« beinhaltet. Entsprechende Parolen, Texte und RechtsRock-Songs stellen kein angeberisches Posiergehabe dar, sondern eine mögliche Handlungsalternative. Insoweit ist es kein Zufall, dass Anschläge auf Geflüchtetenunterkünfte in den letzten Jahren besonders dort einen Höhepunkt erreichten, wo organisierte Neonazis lokal verankert sind.

Das Thema NSU wird in der Zukunft vor allem dann wichtig sein, wenn es gelingt, anhand politischer, personeller und struktureller Kontinuitäten deutlich zu machen, dass die Netzwerke, die den NSU erst ermöglicht und ihn unterstützt haben, weiterhin existieren. In deren Wirken finden die NSU-Verbrechen ihre Fortsetzung. So lange sie weiterarbeiten können, besteht jederzeit die Gefahr neuer Morde und Anschläge.