Staatliches Organisationsversagen

von Maximilian Pichl
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 203 Juli | August 2023

#Hanau

Das Hanau-Attentat hat 2020 bundesweit für große Bestürzung gesorgt. Ein Untersuchungsausschuss sollte insbesondere den Polizeieinsatz aufklären. Aber das Parlament ist seiner Verantwortung nicht gerecht geworden.

Antifa Magazin der rechte rand
Am Tag nach dem Mord-Anschlag gedenken Freunde den Opfern an einem der Tatorte.
© Mark Mühlhaus / attenzione

Erst nach der hessischen Landtagswahl im Oktober diesen Jahres soll der Bericht des Untersuchungsausschusses (UA) zum rechtsterroristischen Attentat von Hanau geschrieben und veröffentlicht werden. Darauf haben sich die Regierungsfraktionen von CDU und Grünen mehrheitlich entgegen dem Protest der Opposition geeinigt. Um das Thema in der »gebotenen Tiefe behandeln« zu können, brauche es Zeit. Und man wolle es »aus der aufgeheizten und aufgeregten Wahlkampfzeit« heraushalten, so der Tenor der Regierungsfraktionen. Angehörige der Opfer wie Alja Kurtovic und die Initiative 19. Februar kritisieren diese Taktik der Zurückhaltung scharf. Tatsächlich ist es auch aus demokratischer Perspektive problematisch, wenn mit den Stimmen der Regierungsfraktionen ein solcher Bericht den Wähler*innen nicht vor der Wahl zur Verfügung gestellt wird. Denn schließlich geht es dabei auch um die Verantwortung der Landespolitik. Und so steht dieser Schritt von CDU und Grünen beispielhaft für den fehlenden Willen zur Aufklärung, der sich wie ein roter Faden durch den UA zieht.

Der Kampf um die Einsetzung des UA
Am 19. Februar 2020 tötete ein Mann an mehreren Tatorten in Hanau zehn Menschen und am Ende sich selbst. Zudem verletzte er sechs Menschen schwer. Nach dem Anschlag gab es eine große Demonstration in Hanau und zahlreiche Bundespolitiker*innen bekundeten ihr Beileid. Im Gegensatz zu anderen rechtsterroristischen Taten wie im Fall der NSU-Mordserie, des Mords an Walter Lübcke oder dem versuchten Anschlag auf die Hallenser Synagoge war aufgrund des Suizids des Täters klar, dass es keinen Strafprozess zur Aufarbeitung der Tat geben würde. Der hessische Innenminister Peter Beuth (CDU) lobte direkt nach der Tat den polizeilichen Einsatz. Aber schnell stellte sich heraus, dass die Rolle der staatlichen Behörden aufzuarbeiten ist. Von einem »vielgestaltigen Organisationsversagen der Polizei in der Tatnacht von Hanau und im Umgang mit den Betroffenen« sprach der Rechtswissenschaftler Günter Frankenberg, der auch Angehörige in einer Staatshaftungsklage gegen die Polizei als Anwalt vertreten hat.


Die Angehörigen und Überlebenden des Anschlags vernetzten und organisierten sich. Sie forderten einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss, dem sich die Regierungsfraktionen zunächst verweigerten. Doch der öffentliche Druck verhalf dazu, dass der Ausschuss eingesetzt wurde und ab dem Sommer 2021 seine Arbeit aufnahm. Von welch großer Bedeutung ein UA ist, zeigt die Funktion, die diesem grundsätzlich zugrunde liegt: Als parlamentarisches Instrument soll er der Aufklärung politischer Skandale und der Kontrolle von Behörden wie zum Beispiel Verfassungsschutz und Polizei dienen. In diesem Rahmen können Abgeordnete Zeug*innen befragen, Akten aus den Sicherheitsbehörden anfordern und selbst Einblick in geheime Schriftstücke nehmen. Die Untersuchung wird vor den Augen der Öffentlichkeit geführt, um behördliches Versagen sichtbar zu machen. Am Ende der Wahlperiode wird dem Parlament ein Abschlussbericht vorgelegt und gegebenenfalls werden Handlungsempfehlungen vorgeschlagen. Der Hanau-Untersuchungsausschuss hatte laut Aussage des Ex-Vorsitzenden Marius Weiß (SPD) 369 Aktenordner mit rund 175.000 Blatt erhalten und zu bearbeiten.

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Angehörige und Überlebende sprechen
Der UA in Hanau begann vielversprechend. Im Gegensatz zu früheren Ausschüssen sollten elf Angehörige und Überlebende zu Beginn sprechen. Sie schilderten ihre persönlichen Erlebnisse, wiesen die Abgeordneten auf Probleme beim Polizeieinsatz hin und formulierten zahlreiche offene Fragen, zu denen sie sich Antworten wünschten. Die Angehörigen und Überlebenden verbrachten auch danach Sitzungen auf der Zuschauer*innentribüne und begleiteten das Geschehen.
Trotz dieses eindrücklichen Starts ging der Ausschuss schnell zu den bekannten parlamentarischen Routinen über, wie sie in hessischen Untersuchungsausschüssen regelmäßig zu beobachten sind. Häufig waren die Sitzungen von parteipolitischem Streit geprägt. Insbesondere CDU und Grüne zeigten oft keine Bereitschaft, eine offensive Befragung von Zeug*innen vorzunehmen. Durch solche Mechanismen behindert sich ein Untersuchungsausschuss selbst und schöpft nicht das Potenzial aus, das dieses Instrument eigentlich hat. Die Initiative 19. Februar hält in einem Resümee treffend fest: »Statt lückenloser Aufklärung stehen oft parteipolitische Interessen, vor allem der Regierungsparteien, im Vordergrund.« Aber sie schildert auch, dass »immerhin in einzelnen Sitzungen wichtige Informationen oder neue Details zu offenen Fragen bekannt« wurden.

Die Verantwortung der hessischen Behörden
Tatsächlich konnten zu einigen Fragen neue Erkenntnisse erbracht werden. Dabei ging es auch um den Tatort der Arena-Bar. Dort hatte der Attentäter drei Menschen erschossen. Einige Zeug*innen berichteten, dass der Notausgang in der Bar immer verschlossen war, vermutlich um polizeiliche Kontrollen zu erleichtern. Polizeizeug*innen bestätigten im Ausschuss, dass der Ausgang in der Tatnacht verschlossen war – mit tödlichen Folgen. Dass es an dieser Darstellung keinen Zweifel gibt, hat die Rechercheagentur Forensic Architecture, die Menschenrechtsverbrechen und die mit diesen verbundene Rolle von Staaten kritisch aufarbeitet, in der viel beachteten Ausstellung »Three Doors« aufgezeigt: Anhand einer Videoinstallation wird anschaulich dargestellt, wie die Opfer in den hinteren Teil der Bar flohen und dort dem Täter ausgeliefert waren. Wäre der Notausgang offen gewesen, hätten sie vermutlich fliehen und ihr Leben retten können. Die zuständige Staatsanwaltschaft aus Hanau hatte genau eine solche Rekonstruktion unterlassen und etwaige Ermittlungen eingestellt. Offensichtlich ein Fehler, dessen Bewertung durch den Ausschuss noch unklar ist.


Forensic Architecture spielte noch in anderer Hinsicht eine Rolle. Die Gruppe hatte in einer weiteren Rekonstruktion Video- und Audioaufnahmen eines Polizeihubschraubers aus der Tatnacht verwendet, die den chaotischen Ablauf des Einsatzes zeigen. Dabei ging es vor allem um die Frage, ob die Polizei das Haus des Täters hinreichend observiert hatte, in dem dieser zuerst seine Mutter und danach sich selbst tötete. Der Ausschuss erlaubte jedoch nicht, die Aufnahmen abzuspielen, weil sie aus dem Bereich der Generalbundesanwaltschaft stammen und damit nicht für eine öffentliche Sitzung vorgesehen seien. Zusätzlich attackierte die CDU-Regierungsfraktion Forensic Architecture und sprach von einer »unsachlichen und inkompetenten« Kritik einer »Künstlergruppe«. Dass zivilgesellschaftliche und wissenschaftliche Kritik abgewehrt wird, hat in Hessen Tradition. Schon beim NSU-Untersuchungsausschuss versuchten CDU und Grüne, die Analysen von Forensic Architecture zu delegitimieren. Mit einer solchen Vorgehensweise demonstrieren sie, dass sie die Arbeit des Untersuchungsausschusses gegen jede Einwirkung von außen abschirmen wollen, obwohl parlamentarische Untersuchungsausschüsse aus guten Gründen öffentlich geführt werden. Schließlich geht es auch darum, sich der Kritik durch Bürger*innen zu stellen.


Gegen Ende der Beweisaufnahme kam eine neue Dynamik in das Untersuchungsgeschehen. Die Frankfurter Rundschau (FR) veröffentlichte Ergebnisse eines internen Polizeiberichts, der den Aussagen von Peter Beuth und der Polizeispitze von einem tadellosen Einsatz in der Tatnacht deutlich widersprach. »Viele dramatische Pannen, Fehler und Unklarheiten« listet der Bericht auf, der auf Aussagen von 90 beteiligten Polizist*innen basiert. Außerdem wird in diesem laut FR eingeräumt, die Betreuung der Angehörigen sei »völlig unzureichend« gewesen und es habe zahlreiche Kommunikationsfehler innerhalb der Polizei gegeben. Der Verfasser des Berichts wurde anschließend im Untersuchungsausschuss befragt und revidierte die eindeutigen Wertungen, die er schriftlich getätigt hatte. Vermutlich hatte er nicht damit gerechnet, dass der Bericht an die Öffentlichkeit gelangen würde.

Bewertung des UA
Auch wenn der Bericht des Untersuchungsausschusses noch nicht vorliegt, lässt sich in Bezug auf die Beweisaufnahme ein Resümee über seine Arbeit ziehen: Die Aussagen der Angehörigen, die Akten und Rekonstruktionen unterstreichen den Vorwurf eines vielschichtigen »staatlichen Organisationsversagens«. Die Position der Landesregierung, der Polizeieinsatz sei ohne nennenswerte Fehler abgelaufen, konnte nicht aufrechterhalten werden. Zu erwarten ist jedoch, dass die Mehrheit der Abgeordneten des UA aus parteipolitischer Räson nicht zu dieser Bewertung kommen wird.
Auch am Beispiel von Hanau wird offenbar, dass es in der Regel besser ist, einen statt keinen Untersuchungsausschuss einzusetzen. Gruppen wie die Initiative 19. Februar oder NSU-Watch Hessen, welche die Sitzungen des Ausschusses dokumentierten, haben die Beweisaufnahme kritisch eingeordnet. In den Untersuchungsverfahren wurden durchaus Details bekannt, die wichtig sind, um das Gesamtgeschehen bewerten zu können. Und dennoch: Der hessische Untersuchungsausschuss zum Hanau-Attentat hat seine Möglichkeiten nicht genutzt. Dessen Ende ist nicht das Ende der Aufklärung. Die Betroffenen und Angehörigen des Attentats haben sich auf beeindruckende Weise selbst organisiert und mit Unterstützer*innen nachhaltig vernetzt. Sie haben selbstbewusst die Aufarbeitung durch die Regierung und den Ausschuss kritisiert. Ihre Forderung nach einer lückenlosen Aufklärung besteht fort.