Reaktionäres in der Mitte der Gesellschaft

von Frieda Schilling
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 195 - März / April 2022

#Österreich

In Österreich erweisen sich konservative Traditionslinien bis heute als robust. Gleichzeitig zeigten gerade die letzten Jahre einen Aufschwung reaktionärer Politiken, die sich wiederum keineswegs auf einen vermeintlich rechten Rand beschränken, sondern sowohl ihren Ursprung als auch ihr Ziel in der »Mitte« der Gesellschaft haben.

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… zu reaktionären Erneuerungen

Im parteipolitischen Konservatismus zeigt sich somit gegenwärtig ein weitaus offensiverer reaktionärer Richtungswechsel – nicht zuletzt, um von rechts gewinnen zu können. Mit der Modernisierung durch den, mittlerweile ehemaligen, Bundeskanzler Sebastian Kurz ab 2017 wurde der Volkspartei nicht nur ein neues, verjüngtes Image verpasst, sondern ermöglichte ebenfalls einen gewissen Bruch mit manchen verstaubten Traditionslinien.

In ihrer relativ kurzen Amtszeit schafften es die beiden Parteien, auf unterschiedlichen politischen Ebenen Erreichtes schrittweise abzubauen. So wurde mit der Begründung, dass »2015 sich nicht wiederholen dürfe«, vor allem die Asyl- und Migrationspolitik verschärft. Im Zuge der Reform der »Sozialhilfe Neu« wurden etwa der Unterstützungsbetrag für anerkannte Flüchtlinge sowie Asylbeantragende herabgesetzt sowie zusätzlich an die jeweiligen Deutschkenntnisse als Voraussetzung geknüpft. »Pushbacks« und Abschiebungen stehen ebenso nach wie vor auf der Tagesordnung. Die Rechte von Arbeitnehmer*innen erfuhren Einschnitte, so wurde 2018 der 12-Stunden-Arbeitstag wieder eingeführt – 100 Jahre nach seiner Abschaffung. Die Wirtschaft erhielt im Gegenzug unter anderem eine Senkung der Unternehmenssteuer. Das Mietrecht wurde zugunsten von Investor*innen reformiert, im Sozialversicherungssystem kam es zu finanziellen Kürzungen.

 

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Das Geschichtsverständnis zurückdrehen

Die COVID-19-Pandemie beziehungsweise die »Corona-Proteste« offenbarten in Österreich zusätzlich die standhafte Resilienz gegen die Lernfähigkeit über die eigene Geschichte. Tiefsitzender Antisemitismus sowie Relativierungen des Nationalsozialismus wurden nicht nur wieder in breiten Massen sag- und tragbar, sondern eröffneten manchen Politiker*innen und ihren Parteien die rhetorische Basis, nach der man sich schon länger zu sehnen schien.

Der derzeitige Obmann der FPÖ, Herbert Kickl, setzte beispielsweise unlängst in einem Interview mit dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk Impfgegner*innen mit Verfolgten des Holocausts gleich, um im Nachhinein zu betonen, dass es ihm damit eigentlich »um eine Kritik am Nationalsozialismus« ginge. Kickls Rhetorik ist dabei zum einen Teil der gegenwärtigen Strategie der FPÖ geschuldet, durch die Pandemie, also vor allem im Kampf gegen die Maßnahmen sowie die mittlerweile umgesetzte, landesweite Impfpflicht, wieder Wähler*innenstimmen generieren zu können. Und das scheinbar auch erfolgreich: Nach aktuellen Umfragen liegt die FPÖ derzeit wieder bei 20 Prozent, nachdem sie nach der »Ibiza-Affäre« und darauffolgenden Neuwahlen fast 10 Prozent verloren hatte und dadurch zurück in die Opposition fiel. Zum anderen ist die Forderung nach einem »Zurück zur Freiheit« dabei nicht nur der Ruf nach einer Zeit vor Corona, sondern verspricht nicht zuletzt im Subtext den freiheitlichen Grundkonsens des Reaktionären. Wenngleich sich Teile der Partei mittlerweile vom offenkundigen Bekenntnis zum Deutschnationalismus trennten und auf die Beschwörung eines »österreichischen Patriotismus« setzen, so eint sie in ihren »Einzelfällen« eine beständige Verharmlosung der NS-Geschichte.

Und auch hier beschränkt sich die Verharmlosung der eigenen Täter*innenschaft nicht auf die rechtsradikale Partei, sondern findet sich durchaus in der ÖVP wieder: Der derzeitige Außenminister verglich unlängst die Situation in der Ukraine mit der Österreichs von 1938 mit den Worten: »Wir haben doch 1938 am eigenen Leib erlebt, wie es ist, wenn man allein gelassen wird.« Der mittlerweile wieder abbestellte Leiter des Kärntner Verfassungsschutzes war mit Begrüßungsreden auf einer geschichtsrevisionistischen »Gedenkveranstaltung« zu Gefallenen der Waffen-SS vertreten und in der Gemeinde, wo der amtierende Innenminister zuletzt Bürgermeister war, steht bis heute ein Museum zu Ehren des Austrofaschisten Engelbert Dollfuß.

 

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Reaktionäres aus der Mitte

Und wenn der damalige ÖVP-Obmann und Bundeskanzler Kurz zuweilen in Interviews feststellte, dass seine Forderungen »vor 3 Jahren noch als rechtsradikal abgetan wurden«, dann implizierte er damit nicht nur die Salonfähigkeit von rechten bis extrem rechten Politiken in die Mitte hinein. Es ist ebenso bezeichnend für die Verschärfungen innerhalb eines gesamtgesellschaftlichen Diskurses und des politischen Alltags, nicht länger nur das Bestehende bewahren und »verteidigen« zu wollen, sondern schrittweise das Rad zurückzudrehen. Das passiert nicht zuletzt mit der (nationalistischen) Argumentation, einem »Wir« – also den Privilegierten – die Privilegien zurückzuholen, die ihnen vermeintlich durch »die Anderen« genommen wurden. Mittels strategischer Verdrehungen und der Anrufung von Affekten werden also einerseits spezifische Menschenfeindlichkeiten wieder artikulierbar und schließlich politisch umsetzbar gemacht, andererseits ermöglichen sie insbesondere in Zeiten von akuten Krisen die Nutzung jener sozialen und ökonomischen Unsicherheiten, die in Teilen den Boden für reaktionäre Politiken und ihre gesellschaftliche Akzeptanz darstellen. Dementsprechend ist es notwendig, das reaktionäre Potenzial nicht nur im Rechtsradikalismus zu erkennen, sondern in der Fortsetzung seines Ursprungs – also der gesellschaftlichen »Mitte« und ihrem inhärenten Konservatismus.