Meine Freiheit über alles

von Nadine Frei und Ulrike Nack
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 191 - August 2021

#Corona

Antifa Magazin der rechte rand
Bürger*innen bei einer Kundgebung in Hannover von »Querdenken« gegen eine angebliche Zwangsimpfung
© Mark Mühlhaus / attenzione

Das Protest-Milieu gegen die coronabedingten Maßnahmen zu verstehen, ist eine Herausforderung. Nicht nur bürgerliche Medien, Politik und Wissenschaften tun sich schwer mit der Eigenbeschreibung der »Querdenker*innen« als bürgerliche Mitte. Auch manche Linke sind oft allzu schnell bereit, die »Querdenker*innen« als Faschist*innen zu bezeichnen. Wir wollen in diesem Artikel einen Blick auf das Milieu werfen und dabei die Schwierigkeiten der gängigen Erklärungsmuster aufzeigen. Wir wenden uns gegen die Erzählung, dass die »Corona-Proteste« von Rechts unterlaufen oder in­strumentalisiert werden. Vielmehr stellen sie seit ihrem Beginn die oft verdrängten Aspekte der politischen »Mitte« zur Schau. Gerade aber jene verdrängten Aspekte gilt es aufzuzeigen und ihnen im Sinne einer emanzipatorischen Politik entgegenzustehen.

Sozioökonomische und parteipolitische Einordnung

Mittlerweile gibt es einige wissenschaftliche Untersuchungen zu den »Corona-Protesten«, wobei wir uns hier auf die Basler Studie von 2020, die Berliner Studie von 2021 und unsere eigene Forschung beschränken werden.
Für die Untersuchung wurde in einem Forschungsprojekt der Universität Basel eine Online-Befragung in offenen Telegram-Chat-Gruppen gepostet, die der Bewegung gegen die Corona-Maßnahmen zugeordnet werden können. Die Auswertung der Befragung hat gezeigt, dass die Mehrheit der Studienteilnehmer*innen zur Mittelschicht gehört. Ihr Durchschnittsalter beträgt 47 Jahre, mehr als drei Viertel sind über 38 Jahre alt. 31 Prozent haben das Abitur und 34 Prozent verfügen über einen Studienabschluss. Im Vergleich zu den 9,6 Prozent der Gesamtbevölkerung, gibt es mit 25 Prozent einen hohen Anteil Selbständiger. Die Studie hält einen Drift nach Rechts fest. Bei der letzten Bundestagswahl haben 18 Prozent der Studienteilnehmer*innen die Partei Die Linke und 23 Prozent Bündnis 90/Die Grünen gewählt. Der »Alternative für Deutschland« (AfD) haben 15 Prozent ihre Stimme gegeben. 27 Prozent gaben an, die AfD bei der Bundestagswahl im September 2021 wählen zu wollen. Besonders auffallend in Bezug auf das Wahlverhalten ist der Umstand, dass 61 Prozent der Befragten dazu tendieren, nicht-etablierten Kleinstparteien ihre Stimme zu geben.

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In der repräsentativen Studie des Wissenschaftszentrums Berlin wiederum wurde quer durch die deutsche Bevölkerung nach der Einstellung zu den »Corona-Protesten« gefragt. Es wird aufgezeigt, dass sie ein erhebliches und relativ stabiles Mobilisierungspotenzial aufweist. So äußert jede fünfte befragte Person ein »großes oder gar sehr großes Verständnis« für die »Corona-Proteste«. Jede zehnte Person sei bereit, an diesen teilzunehmen. Die Zustimmung ist über den Zeitverlauf der Studie von Juni bis November 2020 ähnlich groß. Gleichzeitig hat jedoch die Ablehnung der Proteste stark zugenommen. Die Mehrheit der Befürworter*innen verortet sich selbst in der politischen Mitte. Zudem stellt die Studie heraus, dass wirtschaftliche Sorgen nicht das ausschlaggebende Protestmotiv darstellen, sondern »befürchtete Freiheitseinschränkungen«.

Unsere eigenen ethnografischen Beobachtungen der »Corona-Proteste« – zum Beispiel am 4. Oktober 2020 in Konstanz und am 7. November 2020 in Leipzig – ließen viele Demonstrationsteilnehmer*innen aus einem alternativen Milieu mit deutlichen Bezügen zur Friedensbewegung erkennen. Wir konnten eine hohe Beteiligung von Frauen und einen relativ hohen Altersdurchschnitt im Vergleich zu anderen politischen Protesten feststellen. Bei der Demonstration in Konstanz waren kaum Personen anwesend, die der extremen Rechten zugeordnet werden können. In Leipzig hingegen hat sich bewahrheitet, was im Vorfeld schon angekündigt wurde: Zahlreiche Gruppen der organisierten Rechten waren unter den Teilnehmenden, suchten die gewalttätige Auseinandersetzung mit der Polizei und attackierten Medienvertreter*innen. Unsere eigenen Beobachtungen und Recherchen bestärken den Eindruck, dass sich die »Corona-Proteste« in Ost- und Westdeutschland dahingehend unterscheiden, dass sie in Ostdeutschland stärker von der extremen Rechten und der (ehemaligen) PEGIDA-Klientel geprägt sind. In ihrer Gesamtheit handelt es sich allerdings um ein »bundesweites Phänomen mit tendenziell stärker westdeutscher Prägung«, wie Matthias Quent und Christoph Richter in dem Buch »Fehlender Mindestabstand« schreiben.

Radikalisierung

An der öffentlichen Wahrnehmung ist nicht vorbeigegangen, dass sich das Auftreten der »Corona-Proteste« verändert hat. Von Beginn wurden Auflagen wie Abstandswahrung und Maskenpflicht ignoriert, im weiteren zeitlichen Verlauf kam es bei den Protesten zu Gewalttaten. Zudem gab es verschiedene Anschläge und Angriffe. So ist ein Brandanschlag auf ein Gebäude des Robert-Koch-Instituts in Berlin dem »Querdenken«-Milieu zuzuordnen ebenso wie die Blockade einer ICE-Strecke in Bayern und verschiedene Angriffe auf Impfzentren. In Leipzig, Kassel, Stuttgart, Dresden und Berlin wurden Journalist*innen angegriffen und Polizeiketten durchbrochen. In Berlin wurde außerdem versucht, in den Bundestag zu gelangen. Vor allem dieses Ereignis warf in der breiten Öffentlichkeit die Frage nach der Radikalisierung der »Corona-Proteste« auf. Auch wenn selten spezifiziert wird, was mit Radikalisierung gemeint ist, scheint damit im Allgemeinen die Bereitschaft verbunden zu sein, gegen Medien und Staat gewalttätig vorzugehen, verbal von den Grundwerten der bundesdeutschen Verfassung abzurücken und den deutschen Staat als Feind zu betrachten. In diesem Fall wird Radikalisierung häufig als Resultat der Instrumentalisierung oder Unterwanderung von Rechts gesehen. Dieser könne entgegengewirkt werden, wenn sich die »Corona-Proteste« klar von Rechts abgrenzten. So wird von Heike Kleffner und Matthias Meisner in »Fehlender Mindestabstand« moniert, dass die »bürgerliche Mitte den notwendigen Mindestabstand (nach Rechts)« nicht einhalte.

Diese Forderung sehen wir als problematisch, denn damit wird die sogenannte Mitte weiter mythisiert. Im gängigen Narrativ wird diese als eigentlich harmlos und unschuldig imaginiert, wohingegen die radikale Rechte das eigentliche Problem und die alleinig Schuldige darstellt. Zweifellos besteht ein großes Problem der »Corona-Proteste« darin, dass Teile der extremen Rechten beinahe unwidersprochen ihre faschistische Weltanschauung auf die Straße tragen können – das zeigt sich einmal mehr beispielhaft auf dem sächsischen Land. Dennoch sehen wir das eigentliche und nicht zu unterschätzende Problem in der »immanenten Radikalisierung«.

Diese Radikalisierung geht von der sogenannten politischen Mitte aus und findet in der Protestbewegung ihren Ausdruck. Sie zeigt sich vor allem in der Art und Weise, wie »Querdenker*innen« die staatlichen Corona-Maßnahmen kritisieren. Ihre Kritik, häufig formuliert mit der Warnung einer drohenden Diktatur, berechtige sie zum Widerstand gegen den Staat und gegen die Gesellschaft. Insbesondere ihre Bezugnahme auf Kinder und auf das Impfen ist, wie wir zeigen wollen, entlarvend.

Die Kinder und das Impfen

Die Thematisierung der coronabedingten Maßnahmen und ihre Auswirkungen auf Kinder ist zu einem zentralen Thema innerhalb der »Corona-Proteste« geworden. Die Bezugnahme auf das vermeintliche Kindeswohl variiert in ihrer Ausgestaltung: Mütter verteidigen ihren »gesellschaftlich zugeschriebenen Hoheitsbereich« (Frei/Nack in »Frauen und Corona-Proteste«) der Kindessorge gegen staatliche Eingriffe. Anthroposophisch gefestigte Pädagog*innen behaupten die Schädigung der kindlichen Entwicklung durch die getroffenen Maßnahmen. Es scheint, dass auch etliche Bürger*innen ihrem autoritären Charakter freien Lauf lassen, indem sie mit Verweis auf das Kindeswohl jeder Aggression und jedem Strafbedürfnis nachkommen.

Typisch, aber nicht immer an das Kindeswohl gekoppelt, ist die unter »Querdenker*innen« breit geteilte Ablehnung von Impfungen. In dieser Ablehnung kommen unterschiedliche Weltanschauungen zusammen, wobei sie sich durch einen ausgeprägten Bezug auf die Natur, auf gefühlsbetonte Gemeinschaften, auf Spiritualität und »ganzheitliches« Denken auszeichnen. Gerade das anthroposophische Milieu hebt die Stärke des Immunsystems, naturgegebene (Selbst-)Heilungskräfte und die Reinheit des Körpers hervor. Demgegenüber seien Impfungen unnatürlich und künstlich. Die Impfablehnung entspringt aber nicht ausschließlich anthroposophischen und esoterischen Kreisen, sondern findet sich auch häufig bei Männern, denen weniger eine »Skepsis als eine Überschätzung der eigenen gesundheitlichen Resilienz« eigen ist, schreibt Yasemin El-Menouar in ihrer Studie »Zwischen individueller Freiheit und Gemeinwohl«.

Die immanente Radikalisierung zeigt sich in dieser Themensetzung dergestalt, dass Werte der Moderne einseitig und reaktionär interpretiert und in ihrer Einseitigkeit absolut gesetzt werden: Die Mutter übt ihre Mutterrolle aus, indem sie das Kind vor jedem fremden Zugriff schützt. Das anthroposophische und esoterische Milieu lässt die Romantik wieder auferstehen und bedient in seinem ganzheitlichen Weltbild die vermeintliche Kehrseite der Aufklärung. Der sich selbst überschätzende Mann beruft sich auf eine Freiheitsvorstellung, die rein negativ als Schutz vor allem Äußeren gedacht wird. Das Äußere, vor deren Einwirkung man sich schützen muss, mag vielleicht zunächst der Staat sein, aber es sind immer auch die anderen Menschen. Diese sollen in der – in ihrer Negativität überhöhten – Freiheitsvorstellung gar keine Rolle spielen. So betrachten die Querdenker*innen es als rechtens, ihre Freiheit nicht zum Schutz anderer einzuschränken. Einmal alles Positive und Solidarische vom modernen Begriff der Freiheit abgekoppelt, liegt die Radikalität im Wert der Freiheit selbst – als Selbstzweck.

Für die von uns sehr knapp beschriebene immanente Radikalisierung braucht es keine radikale Rechte, keine Reichsflaggen, keine NS-Verherrlichung. Es reicht, wenn die politische Mitte sich auf ihre geteilten Werte beruft und der Einseitigkeit des Denkens nachgibt. So können sich ihre Vertreter*innen als wahre »Retter*innen« von Freiheit und Demokratie stilisieren. Sie sind die zu Unrecht Marginalisierten, berechtigt zum Widerstand gegen Staat und Gesellschaft. Das macht nicht gleich alle zu Faschist*innen. Aber es zeigt, dass sie alles andere als harmlos sind.