Gedächtnis für eine Bewegung

Interview: Sven Kames mit Engagierten aus Berlin, Bielefeld, Göttingen und München
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 190 - Mai / Juni 2021

#Archive

Seit Jahrzehnten sammeln antifaschistische Archive in der Bundesrepublik alles über, gegen und von der extremen Rechten – oft leise und unspektakulär im Hintergrund, aber nichtsdestotrotz mit gewaltigem Output. Durch die größtenteils ehrenamtlich geleistete Arbeit ist ein riesiger Wissensschatz entstanden, der Grundlage für antifaschistische, journalistische und wissenschaftliche Analysen zum Thema ist. Sven Kames sprach für der rechte rand mit Engagierten aus Berlin, Bielefeld, Göttingen und München über die Entstehung, die Gegenwart und die Zukunft antifaschistischer Archive.

Antifa Magazin der rechte rand

drr: Bitte erzählt von eurer Arbeit bei der Antifaschistischen Informations-, Dokumentations- und Archivstelle (a.i.d.a.) in München. Wie kam es zu eurer Gründung? Was macht ein antifaschistisches Archiv aus? Und braucht es solche Archive eigentlich heutzutage noch, wo doch so viele Informationen jederzeit abrufbar im Internet stehen?
Marcus Buschmüller: In der antifaschistischen Arbeit im München der 1980er Jahre hatten sich Papierberge mit Materialien angesammelt, die nach ihrer direkten Verwertung kaum jemand mehr angefasst hat. Wir wollten dieses Material langfristig sichern und der Öffentlichkeit zur Verfügung stellen, weil wir wussten, dass es einen hohen Wert hat. Um das zu bewerkstelligen, haben wir im Jahr 1990 eine klassische, deutsche Form der Organisierung gewählt und einen Verein gegründet. Wir sammeln, wir bereiten auf, wir bieten an, was aus der extremen Rechten geäußert wird. Jenseits der jüngeren digitalen Praktiken leisten wir klassische Archivarbeit mit dem Medium Papier im Zentrum. Bei uns kann man recherchieren, kramen, sich einen Überblick verschaffen. Für die Auseinandersetzung zum Thema ist es wichtig zu wissen, wie die extreme Rechte in früheren Jahrzehnten agiert hat. Denn nicht alles, was jetzt als sensationelle Neuheit Schlagzeilen macht, ist wirklich neu. Bei uns wird das nachvollziehbar.


a.i.d.a

Robert Andreasch: Ein Punkt, der uns von Bibliotheken und von staatlichen Archiven unterscheidet, ist unsere Spezialisierung. Wir haben die Bücher zum Thema geballt gesammelt, auch die graue Literatur sowie Broschüren. Und die Primärmaterialien, die wir anbieten können, die ganze extrem rechte Publizistik, sind in anderen Einrichtungen schlichtweg nicht vorhanden. Ganz zu schweigen von kleinteiligen und flüchtigen Erzeugnissen wie Flugblättern oder Plakaten.

Nora Wolf: Es stimmt schlicht nicht, dass alles im Internet steht. Und was da zu finden ist, beruht ja zu nicht geringen Teilen auf unserer Vorarbeit. In den Auseinandersetzungen zum NSU wurde deutlich sichtbar, wie wichtig die Aufbewahrung und die Aufbereitung von Materialien zur extremen Rechten sind. In den verschiedenen antifaschistischen Archiven gab es jede Menge Wissen zu den Neonazis des NSU und zu ihrem Umfeld. Wir konnten Hintergründe aufzeigen und Zusammenhänge verifizieren. Auf Facebook zu schauen, was die Rechten schreiben, hat seinen Wert, aber das kann ein Quellen­studium und ein Wissen um relevante Akteur*innen nicht ersetzen. Wir helfen auch, Rechtssicherheit für die journalistische Arbeit herzustellen. Mit soliden Belegen aus Primärquellen lassen sich Aussagen über einzelne extreme Rechte handfest nachweisen, im Zweifelsfall dann auch gerichtsfest.

Das Antifaschistische Pressearchiv und Bildungszentrum (Apabiz) ist vermutlich das bekannteste solcher Archive in der Bundesrepublik. Wo liegen eure Wurzeln und wie hat sich eure Arbeit entwickelt?
Patrick Schwarz: Wir hatten anfangs, zu Beginn der 1990er Jahre, einen starken Fokus auf Berlin und auf das Land Brandenburg und die Vernetzung der dortigen rechten Strukturen. Sonst ähnelt unsere Geschichte der Münchener. Von der Konzentration auf militante Neonazis in der Region haben sich unsere Arbeit und unsere Sammelschwerpunkte erweitert, auch dank Materialsammlungen, die uns antifaschistische Gruppen und engagierte Einzelpersonen überlassen haben. Die »Braunzone«, der Rechtskonservatismus, Projekte wie die »Junge Freiheit« haben uns beschäftigt und wir haben dazu Expertise entwickelt und in die Öffentlichkeit gebracht. Die Bildungsarbeit hat sich zudem zu einem unserer Schwerpunkte entwickelt. Bildungsangebote gegen Rechts gab es in den 1990er Jahren noch viel weniger als heute. Wir haben verschiedene Vorträge entwickelt und gehalten, die auf unserer Expertise fußten. Wir haben gemerkt: Da ist ein Bedarf, wir haben etwas beizutragen und haben so auch Selbstbewusstsein entwickeln können. Das war ein Prozess, der sich über Jahrzehnte erstreckt hat: von kleinen lokalen Recherchen zur jetzigen ausdifferenzierten Sammlung und dem Bildungsbereich.


Apabiz

Das Antifaschistische Bildungszentrum und Archiv Göttingen (ABAG) ist im Vergleich viel jünger.
Micky Caulfield: Wir haben uns 2018 als Verein gegründet. Aber auch unser Bestand umfasst einen viel weiter zurückreichenden Zeitraum. Der Grundstock unserer Sammlung kam von Privatpersonen, die uns große Mengen ihrer Materialien überließen. Wir wollen diesen Bestand für die Zukunft sichern, um die Kontinuitäten der extrem Rechten und der antifaschistischen Kämpfe dagegen sichtbar zu machen. Unser Schwerpunkt liegt auf der Region Südniedersachsen, wobei wir sowohl rechte Primärquellen als auch Literatur über die überregionale extreme Rechte sammeln. In Göttingen und Umland gab es immer eine gut vernetzte extrem rechte Szene, deren Wirken auch fruchtbare Konsequenzen in der Region nach sich zog. Das zeigen wir auf. Und wir dokumentieren das aktuelle Geschehen, indem wir eine Chronologie über extrem rechte Vorfälle führen und so Zahlen und Analysen für Interessierte zur Verfügung stellen.


ABAG

Wie entstand das Archiv in Bielefeld beim Verein Argumente und Kultur gegen rechts?
Jan Raabe: Etwas anders, weil wir uns weniger auf lokale Verhältnisse bezogen haben. Wir haben bei Argumente und Kultur seit 1993 zu bestimmten Themenfeldern gearbeitet, etwa zu rechten Jugendkulturen, zu Vertriebenen, zum Neuheidentum oder zu Burschenschaften. Dabei haben wir uns immer sehr stark auf Primärquellen gestützt, weil wir das für wichtig halten. So haben wir Materialien zu bestimmten Themenfeldern gesammelt, systematisiert und in einem Archiv zusammengefasst. Was wir so herangeschafft haben, ist in unserem Verständnis nicht unser Privatbesitz, sondern politisches Material, das einer antifaschistischen Expertise zur Verfügung zu stehen hat.

Argumente und Kultur

 

Wie geht ihr als Papierarchive mit der Herausforderung um, dass die extreme Rechte heute so stark in digitalen Kanälen kommuniziert?
Robert Andreasch: Tagesaktuell fällt natürlich sehr viel mehr Material an. Es wird jeden einzelnen Tag unglaublich viel gepostet. Das zu handhaben, hat eine technische Dimension: Wie können wir das sinnvoll und datenschutzkonform aufbewahren? Auch Webseiten und Accounts verschwinden ja. Es gibt damit verknüpft aber auch eine analytische Ebene: Früher war es überschaubarer, was die extreme Rechte publiziert hat. Wir sind jetzt nicht nur gefragt, Methoden zu entwickeln, um das alles zu sichern, sondern auch, einen Überblick zu behalten und das Relevante vom weniger Relevanten zu unterscheiden. Warum die aktuelle Dokumentation wichtig ist, ist klar: Zigtausende gehen zurzeit bei rechten Aktionen auf die Straße, Hunderttausende äußern sich in der Öffentlichkeit des Internets entsprechend. Wer weiß, ob die Szene wieder untergründiger wird oder sich politisch umstellt. Was jetzt geäußert wird, müssen wir dringend dokumentieren, denn dieses Material wird später einmal gebraucht werden.

Marcus Buschmüller: Und die klassischen Zeitschriften gibt es weiterhin und auch die müssen wir besorgen und in die Sammlung einbringen. Die neuen Straßenproteste zu beobachten darf auch nicht vernachlässigt werden. In Bayern gab es seit 2020 an die 3.000 Corona­proteste, von denen viele unter extrem rechtem Einfluss standen. Der Umfang der Arbeit, die wir zu leisten haben, ist also explodiert – bei tendenziell gleichbleibend geringen Ressourcen, die uns zur Verfügung stehen. Eine Lösung für die Herausforderungen der Digitalisierung zu finden, steht durchaus noch aus.

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Was sind das eigentlich für Leute, die euer Archiv nutzen?
Patrick Schwarz: Anfangs hatten wir fast nur antifaschistische Initiativen, Parteijugendorganisationen, Gewerkschaften oder Einzelpersonen als Nutzer*innen. Diese spielen auch weiterhin eine wichtige Rolle. Aber die Bandbreite ist um Wissenschaft und Journalismus erweitert worden. Das ist hocherfreulich, bringt aber auch Herausforderungen mit sich. Wir waren im Umgang mit der Presse anfangs vorsichtig und mussten einen Weg finden, wie wir jenseits der politischen Projekte unser Material zu fairen Bedingungen zur Verfügung stellen können. Presseleute fragen bei uns manchmal mit der Erwartung an, blitzschnell hochbrisante und exklusive Informationen zugesteckt zu bekommen. Wir arbeiten professionell, aber eben auch ehrenamtlich – und wir müssen auch unsere Kosten reinbekommen. Darauf müssen wir immer wieder hinweisen. Aus der Wissenschaft stammt derzeit inzwischen die Mehrheit unserer Anfragen. Das reicht von Studierenden, die eine Hausarbeit schreiben wollen, bis zur Recherche für die Promotion. Diejenigen, die wissenschaftlich zum Thema arbeiten und das solide quellenbasiert tun wollen, wissen, dass es bei uns Material gibt, das woanders nicht vorliegt. Auch hier ist Digitalisierung übrigens eine Herausforderung: Nicht wenige schreiben eine Mail und wollen, dass wir dieses oder jenes mal schnell scannen und verschicken. Das geht selbstverständlich nicht, schon aus urheberrechtlichen Gründen. Das gewachsene Interesse ist toll, wir bekommen mit, woran die Wissenschaft arbeitet und manche überlassen uns Materialien für unsere Sammlung. Aber es ist für uns immer auch ein Spagat. Wir fühlen uns der antifaschistischen Bewegung weiter verbunden und wollen auch deren Arbeit dokumentieren. Und wir sehen eine unserer Aufgaben in der Unterstützung von politischen Initiativen. Wir leisten es uns aber auch, auf das hinzuweisen, was wir selbst thematisch für wichtig halten – etwa auf die Recherchen, die wir zu Antifeminismus und Lebensschutz­bewegung angestellt haben.

Bibliothek der Antifa-Archive

Was sind eure Erfolge? Gibt es Momente, wo ihr direkt sehen könnt: Oh ja, ­unsere Arbeit lohnt sich.
Jan Raabe: Wir geben in erster Linie die Möglichkeit, antifaschistische Analysen zu vertiefen und zu verbessern. Unser Material erlaubt es, längere Zusammenhänge herauszuarbeiten, also den Wandel in der extremen Rechten sichtbar zu machen. Und auch ein Gedächtnis für die antifaschistische Bewegung zu sein: Welche antifaschistischen Kampagnen waren erfolgreich, welche Bedingungen müssen erfüllt sein für eine sinnvolle Intervention. Unsere eigentlichen Erfolge liegen in dieser langfristigen Arbeit, die kaum auf einzelne Momente reduziert werden kann. Aber dennoch: Wir haben große Projekte begleitet, zu wichtigen Büchern beigetragen – das sind tolle Ergebnisse. Die Auseinandersetzungen zum RechtsRock haben wir so beispielsweise zum richtigen Zeitpunkt auf die richtige Art gefördert. Wenn unsere Informationen durchdringen, dann hat das direkte Wirkungen. In der Öffentlichkeit wurde auf der Grundlage von unserem Archivbestand beispielsweise bekannt, dass ein Tonstudiobetreiber ein Neonazi ist. Ihm sind daraufhin Aufträge von Menschen weggebrochen, die eben nicht mit einem militanten Rassisten zusammenarbeiten wollen. Wichtig war für uns auch, dass wir für die Nebenklage im NSU-Verfahren einiges beitragen konnten.

Micky Caulfield: Die Archivarbeit ist sehr intensiv, aber ich kann deutlich sagen: Es lohnt sich! Wir konnten kürzlich eine Broschüre zur extremen Rechten in Südniedersachsen erstellen, die dann auf großes Interesse gestoßen ist. Das macht dann richtig Spaß. Wir unterstützen gerne Journalist*innen, Studierende und andere Interessierte bei ihren Recherchen im Archiv. Bildungsangebote wie Vorträge oder Workshops über die extreme Rechte anzubieten, ist für uns unverzichtbar. So versuchen wir auf ihre Aktivitäten aufmerksam zu machen und eine breite Öffentlichkeit zu informieren.

Marcus Buschmüller: Mich hat sehr gefreut, dass wir zu tollen Ausstellungen beitragen konnten. So steuerten wir Exponate und Expertise bei zur Münchener Ausstellung »Angezettelt. Antisemitische und rassistische Aufkleber von 1880 bis heute« und zu »Krieg.Macht.Sinn. Krieg und Gewalt in der europäischen Erinnerung« des Ruhr-Museums in Essen. Bei solchen Gelegenheiten wird es noch einmal ganz greifbar: Es hat Sinn, den ganzen Kram aufzuheben. Aber ich will noch einmal auf die Voraussetzungen unserer Arbeit hinweisen: Wir arbeiten bei uns in München mit einer leider nur kleinen antifaschistischen Bewegung im Hintergrund. Unser Personalstamm ist gleichbleibend überschaubar, bei wachsenden Anforderungen. Im Kern leisten wir die Arbeit ehrenamtlich, wir sind auf Spenden und Beiträge von Fördermitgliedern angewiesen. Nicht zu vergessen ist, dass wir politischen Gegenwind erfahren: Vor einiger Zeit hatten wir uns insgesamt drei Jahre lang in einem Rechtsstreit mit dem bayerischen Innenministerium zu beschäftigen, weil gegen uns Linksextremismusvorwürfe vorgebracht wurden. Das ist ausgestanden, wir erfuhren auch viel Solidarität. Es raubte uns aber doch Kräfte.

Patrick Schwarz: Wir sind da in Berlin vergleichsweise privilegiert. Über eine Landesförderung haben wir für manche Aspekte unserer Arbeit wie Vernetzung und Dokumentationstätigkeit eine Finanzierung. Die Grundlage für diese Projekte aber, unser eigentliches Archiv, steht weiterhin auf ehrenamtlicher Basis. Wir brauchen nicht nur Geld, sondern auch neue Leute, um mit den Herausforderungen der Gegenwart Schritt zu halten. Es geht dabei nicht ausschließlich um den Arbeitsumfang, sondern auch um die Zusammensetzung unseres Teams. Wir sind in der Mehrheit männlich, weiß und deutsch. Zu wichtigen Entwicklungen – etwa den »Grauen Wölfen« aus der Türkei, die ja auch in Berlin tätig sind – haben wir kaum Wissen und keinen Zugang. Wir müssen uns also auch in dieser Hinsicht weiterentwickeln.

Vielen Dank für das Gespräch!

Die antifaschistischen Archive können durch die Zusendung von Materialien aus der, über die und gegen die extreme Rechte unterstützt werden. Zur Absicherung des Betriebes freuen sie sich über Spenden und Fördermitgliedschaften. Informationen sind auf den jeweiligen Internetseiten zu finden: www.apabiz.de (Berlin), www.argumente-und-kultur.org (Bielefeld), www.antifaschistisches-archiv.org (Göttingen), www.aida-archiv.de (München).
Unter https://bibliothek.antifa-archiv.org steht ein Bibliotheks-Verbund­katalog zur Verfügung, in dem ein Ausschnitt der Bestände der hier befragten und weiterer antifaschistischer Archive eingesehen werden können.