Eine junge Frau im Widerstand

von Ursula Landtwing
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 190 - Mai / Juni 2021

#JüdischerWiderstand

Auf dem Jüdischen Friedhof Berlin-Weißensee steht ein Grabstein für Herbert Baum. Neben seinem Namen stehen auf der Rückseite 27 Namen von jungen Frauen und Männern, die zur Herbert-Baum-Gruppe gehörten und ermordet wurden – einer der größten jüdischen Widerstandsgruppen in Deutschland.

 

Antifa Magazin der rechte rand
Hildegard (Hilde) Loewy © Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Die Herbert-Baum-Gruppe bestand aus mehreren Freundeskreisen, die dem Kommunismus nahe standen, und wurde vor allem bekannt durch einen Brandanschlag auf die NS-Propagandaausstellung »Das Sowjetparadies« im Berliner Lustgarten am 18. Mai 1942. Hinter jedem dieser 27 Namen verbirgt sich eine eigene Geschichte und ein eigenes Schicksal, zusammengeführt durch ihre jüdische Herkunft und ihren Widerstand gegen das Regime des Nationalsozialismus (NS). Eine Geschichte und ein Schicksal unter diesen 27 ist die von Hildegard, genannt Hilde, Loewy. Ihr Schulkamerad, der spätere Historiker Ernst Ludwig Ehrlich (*1921 – †2007), beschrieb sie in einem Gespräch als zielstrebige, intelligente und starke junge Frau.

Kindheit, Schulzeit, Novemberpogrom


Geboren am 4. August 1922 wuchs Hilde mit ihrer zwei Jahre jüngeren Schwester Eva im Bayrischen Viertel in Berlin auf. Ihr Vater Erich Loewy sprach mehrere Sprachen und arbeitete als Korrespondent für unterschiedliche Firmen, die Mutter Käte war gelernte Buchhalterin und Hausfrau. 1928 wurde Hilde eingeschult. Erst besuchte sie für vier Jahre die Volksschule, dann wechselte sie zur städtischen Studienanstalt und kam anschließend auf die jüdische Mittelschule, die sie bis zur Schließung 1938 besuchte. Auch wenn der Vater dank seiner zahlreichen Auslandskontakte durch seine Arbeit die Möglichkeit gehabt hätte, das Land zu verlassen, wollten die Eltern nach der »Machtergreifung« der Nationalsozialisten bleiben. Er sah keine ernsthafte Gefahr für sich, da er als ehemaliger jüdischer Frontsoldat sicher war, sein »Vaterland« werde ihm nichts tun. Am 9. November 1938 musste ihn seine Frau unter heftigem Widerstand dazu bringen, die Familie über Nacht zu verlassen und sich in Sicherheit zu bringen. Er tauchte bei der Großmutter unter. Da sie in einem männerlosen Haushalt lebte, war er dort vorerst sicher. Nach dem Novemberpogrom verlor er seine Anstellung und musste Zwangsarbeit leisten für einen Lohn, mit dem er die Familie nur knapp ernähren konnte.

Zerplatzte Zukunftsträume


Hilde und Eva waren bereits seit Mitte der 1930er Jahre Mitglieder beim zionistischen Jugendverband Haschomer Hazair (Der junge Wächter), wo auf die Pionierarbeit in Palästina hingearbeitet wurde. Eva konnte 1938 und 1939 ins Hachschara-Lager Gut Winkel gehen, um sich auf die Auswanderung nach Palästina vorzubereiten. Im Dezember 1939 verließ die jüngere Schwester das Deutsche Reich, kam nach Dänemark und später nach Palästina. Hilde selbst war 1938 in einer von Ellen Schwarz geführten Mädchengruppe, die sich daran erinnerte, dass Hilde in Jerusalem Medizin studieren wollte. Aus ihren Auswanderungsplänen wurde jedoch nichts. Sie hatte als Kind einen schweren Unfall mit einer Straßenbahn und verlor dabei ihren rechten Unterarm – seit dieser Zeit trug sie eine Armprothese. Die Organisation Jugend-Alijah, die jüdischen Kindern und Jugendlichen zur Flucht aus dem Deutschen Reich nach Palästina verhalf, verweigerte ihr die Aufnahme in das Programm. Die Leiterin der Jugend-­Alijah, Recha Freya, versuchte zwar trotz des jungen Alters von Hilde, ihr einen Platz in einer Arbeiter*innen-Siedlung zu besorgen, doch der zuständige begutachtende Arzt erteilte ihr keine Bestätigung für die Auswanderung aufgrund ihrer körperlichen Beeinträchtigung. Hinzu kam, dass ihre Eltern nicht oder nicht mehr wohlhabend genug waren, auch ihrer zweiten Tochter eine Auswanderung zu finanzieren.
Nach dem Novemberpogrom wurden alle jüdischen Jugendverbände­ verboten. Ebenso wurde die Mittelschule, die Hilde besuchte, geschlossen, weshalb sie im Frühling 1939 auf das letzte jüdische Gymnasium in Berlin wechselte, an der Wilsnacker Straße, das noch unterrichten durfte. In ihrer Abiturklasse war sie die einzige Schülerin unter zehn Schülern. Hier lernte sie ihren Freund Georg Israel (*1921 – †1943) kennen. Im Frühling 1940 standen die Abiturprüfungen an, die sie als Beste ihrer Klasse bestand. Ernst Ludwig Ehrlich erinnerte sich, dass sie in allen Fächern gleich gut war und dass ihr das relativ spielend gelang. Ihre Schwester, die 1940 noch in Dänemark lebte, versuchte weiterhin vergeblich, Hilde einen Platz für die Auswanderung zu beschaffen. Dies scheiterte erneut, da am 9. April 1940 die deutsche Wehrmacht Dänemark besetzte und Eva das Land Richtung Palästina verlassen musste.

ABO
Das Antifa Magazin

alle zwei Monate
nach Hause
oder ins Büro.

 

Der neue Freundeskreis


Im Juli 1940 begann Hilde eine Ausbildung als Dekorateurin an der privaten jüdischen Schule für Gebrauchsgrafik und Dekoration. Wieder konnte sie ihren Berufstraum nicht weiterverfolgen, da die Schule am 22. April 1941 auf Anordnung der »Geheimen Staatspolizei« (Gestapo) ihren Betrieb einstellen musste. So stand sie ohne Berufsausbildung da und musste sich eine neue Tätigkeit suchen: Sie begann ehrenamtlich bei der Jüdischen Kultusvereinigung zu Berlin e.V. als Bürohilfskraft, bis sie dann am 13. Juli 1942 eine Stelle als Büroangestellte beim Kohlehändler Wolfgang Schulz an der Kulmbacherstraße 5 in Berlin antrat. Im Frühling 1941, bei einem Besuch ihres Bekannten Lothar Salinger (*1919 – †1943) in der Wohnung seiner Eltern in den Dritten Hackeschen Höfen, lernte sie Heinz Joachim (*1919 – †1942) kennen, einen ehemaligen Musikstudenten, der Jazzmusiker werden wollte und nun als Transportarbeiter in der »Judenabteilung« von Siemens Zwangsarbeit leisten musste. Er erzählte ihr von Schulungsabenden, die er in seinem Freundeskreis leitete und lud sie ein. So kam Hilde Loewy in die Gruppe um Heinz Joachim. Sie nahm regelmäßig an den Treffen teil, die in unterschiedlichen Wohnungen stattfanden und für die Hilde hin und wieder auch ihre eigene Wohnung zur Verfügung stellte. Neben dem gemeinsamen Musikhören fanden an diesen Abenden vor allem politische Schulungen statt, bei denen Vorträge gehalten oder aus verbotener kommunistischer Literatur vorgelesen wurde, wie das »Kommunistische Manifest« von Karl Marx oder »Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates« von Friedrich Engels. Hilde wollte neben den politischen Diskussionen und Vorträgen auch allgemeine wissenschaftliche Themen behandeln, was von der Gruppe aber verworfen wurde. Das Interesse des Freundeskreises lag mehr bei der politischen Diskussion. Neben der Beschäftigung mit kommunistischen Schriften waren die Maßnahmen gegen die jüdische Bevölkerung Thema. Zusätzlich zu dem Bildungsaspekt waren diese Zusammenkünfte ein wichtiger sozialer Punkt. Hilde Loewy kannte die enge Verbundenheit aus ihrer Zeit beim zionistischen Jugendverband, nach dessen Verbot 1938 sie wieder die Gemeinschaft mit Gleichaltrigen suchte. In der Gruppe um Heinz Joachim fand sie diese.

Von der fließenden Bewegung zum organisierten Widerstand


Mitte 1941 veränderte sich die Gruppe. Bis dahin waren der private Freundeskreis und die Widerstandsbewegung keine strukturierte Gruppe, vielmehr eine fließende Bewegung. Das änderte sich, als Heinz bei der Arbeit Herbert Baum kennenlernte. Herbert und seine Frau Marianne kamen aus dem kommunistischen Jugendverband und hatten bereits Erfahrungen im Widerstand gegen das NS-Regime gesammelt. Seit der Machtübernahme der Nazis hatte Herbert Baum zusammen mit seiner Frau und Freund*innen jüdische Jugendliche organisiert. Die beiden Gruppen schlossen sich zusammen. Diese Veränderungen begannen mit dem Einmarsch der Wehrmacht in die Sowjetunion und den beginnenden Deportationen von Juden und Jüdinnen aus Berlin. Von nun an wurden Mitgliedsbeiträge erhoben, womit die illegale Arbeit, wie das Fälschen von Ausweispapieren, die Beschaffung von Farbe und Pinsel für das Anbringen von politischen Parolen oder Flugblättern, finanziert werden sollte. Als Vorkehrungen für allfällige Deportationen mieteten sie mit den gefälschten Ausweisen an unterschiedlichen Orten außerhalb Berlins Wohnungen oder möblierte Zimmer, um untertauchen zu können. Die Ausweise wurden von Herbert Baum, Heinz Joachim und Gerhard Meyer besorgt. Der Höhepunkt ihrer antifaschistischen Aktionen war der Brandanschlag auf die Ausstellung »Das Sowjetparadies« am 18. Mai 1942 – und das zeitgleiche Ende der größten jüdischen Widerstandsgruppe. Bis Dezember 1942 waren die verschiedenen Freundeskreise zerschlagen und ihre Mitglieder verhaftet.

Das Todesurteil


Hilde Loewy hatte weder einen gefälschten Ausweis noch wurde ihr einer angeboten, sie war auch nicht am Brandanschlag beteiligt. Dennoch wurde sie im Zusammenhang damit am 15. Juli 1942 im Beisein ihrer Mutter verhaftet und kam ins Untersuchungsgefängnis nach Alt-Moabit. Die Verhaftung kam für ihre Familie und ihren Freund Georg Israel überraschend. Sie hatte weder ihren Eltern noch ihm etwas von den Treffen der Herbert-Baum-Gruppe erzählt. Nachdem man ihr die Anklageschrift überreichte, unternahm sie am 2. Dezember 1942 einen Fluchtversuch. Angeklagt wurde sie wegen Hochverrats und landesverräterischer Feindbegünstigung. Sie rechnete mit dem Todesurteil und wollte sich retten. Mit zerrissenen, zusammengenähten Laken als Seil wollte sie sich durch die zerschlagene Fensterscheibe einen Weg ins Freie bahnen. Ihren Mantel und eine Tasche warf sie auf das Dach des Gerichtsganges und versuchte sich durch die Gitterstäbe zu zwängen – sie schaffte es nicht, die Laken wurden entdeckt. Nach diesem Fluchtversuch wurde sie in Isolationshaft gebracht.
Die Verhandlung vor dem 2. Senat des Volksgerichtshofes fand am 10. Dezember 1942 statt und endete, wie Hilde erwartete, mit einem Todesurteil, das am 4. März 1943 in Berlin-Plötzensee vollstreckt wurde. Am selben Tag wurden ihre Freund*innen Hella Hirsch, Hanni Meyer, Marianne Joachim, Lothar Salinger, Helmut Neumann und Siegbert Rotholz ebenfalls hingerichtet.