Die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes
von Katharina Stengel
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 190 - Mai / Juni 2021
#VVN
Die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) war lange Jahre der mit Abstand größte Zusammenschluss von Verfolgten des Nationalsozialismus und Antifaschist*innen in West- und für kurze Zeit auch in Ostdeutschland. Sie entstand 1946 aus verschiedenen regionalen Vorläufern, wie etwa den Antifa-Ausschüssen und den Betreuungsstellen für NS-Verfolgte. Eine überparteiliche Zusammensetzung, insbesondere die Zusammenarbeit von Sozialdemokrat*innen und Kommunist*innen, wurde als Konsequenz aus der Niederlage der Arbeiter*innenbewegung 1933 ausdrücklich angestrebt. Auch viele Jüdinnen und Juden traten der Vereinigung bei, die um 1948 über 300.000 Mitglieder hatte.
Licht …
Die in der VVN organisierten Verfolgten wollten in der vom Nationalsozialismus befreiten Gesellschaft nicht erneut an den Rand gedrängt, sondern an der politischen Erneuerung beteiligt werden. In den Anfangsjahren ging es vor allem um die Betreuung der aus den Konzentrationslagern und Zuchthäusern zurückgekehrten Gefangenen, später um alle Belange rund um die »Wiedergutmachung«. Themen waren die Beseitigung des Nationalsozialismus in all seinen Formen, die Verfolgung der NS-Täter*innen, die Aufklärung der Bevölkerung sowie die Erinnerung an Verfolgung und Widerstand. Nur wenige gesellschaftliche Gruppen konnten sich trotz der schwierigen Bedingungen der Nachkriegsjahre so eng untereinander vernetzen. Die Mitglieder waren in fast allen wichtigen Behörden, Presseorganen und demokratischen Parteien vertreten. Die meisten öffentlichen Gedenkveranstaltungen für die Opfer des Nationalsozialismus wurden von der VVN (mit-)organisiert. Die entstehende Entschädigungsverwaltung wurde überwiegend von den Mitgliedern getragen, von denen zahlreiche auch an den Entnazifizierungsverfahren beteiligt waren. Zugleich gehörte die VVN zu den wenigen Kräften in Westdeutschland, die beispielsweise immer wieder den Antisemitismus der Nachkriegszeit thematisierten und anprangerten.
… und Schatten
Es gab jedoch auch Schattenseiten. Die Haltung vieler ehemaliger politischer Häftlinge den jüdischen Opfern gegenüber, insbesondere den Emigrant*innen und Displaced Persons (DPs), war nicht frei von Herablassung und Ressentiment. Es herrschte vielfach ein hierarchisierender Blick auf die verschiedenen Verfolgungsgründe und -geschichten, der sich in einer harten Abgrenzung gegenüber den »asozialen« und »kriminellen« KZ-Häftlingen und in Ignoranz gegenüber der spezifischen Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung von Jüdinnen und Juden sowie des Schicksals der Rom*nja und Sinti*zze sowie der Homosexuellen äußerte. In den Betreuungsstellen sorgten VVN-Mitglieder zum Teil gezielt dafür, dass sogenannte asoziale KZ-Häftlinge keine Unterstützung erhielten. In den Debatten um die künftigen Entschädigungsgesetze hatte die VVN vor allem die Interessen der politisch Verfolgten im Blick. Diese Ignoranz, die sie lange begleiten sollte, war zunächst typisch für das Milieu der antifaschistisch geprägten Verfolgtenverbände.
Zu Zeiten des Kalten Krieges
Mit den schärfer werdenden Konflikten des Kalten Krieges setzte ab 1948 ein Prozess der Marginalisierung ein, der die Vereinigung in die Nähe eines vollständigen Verbots brachte und die Vielfältigkeit sowie Anzahl der Mitglieder erheblich verringerte. Den Anfang machte 1948 die Sozialdemokratische Partei Deutschlands mit einem Unvereinbarkeitsbeschluss, 1950 folgte die Entlassung der VVN-Mitglieder aus dem öffentlichen Dienst, mehrere Landesverbände und die Dachorganisation wurden verboten. Der Vorwurf lautete Verfassungsfeindlichkeit und zu große Nähe zur Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) sowie zur Deutschen Demokratischen Republik (DDR). Während die Dominanz der Parteikommunist*innen größer wurde, verließen viele Nicht-Kommunist*innen und Mitglieder der jüdischen Gemeinden die Vereinigung. Der Staatsschutz der jungen Bundesrepublik Deutschland (BRD) agierte bald mit größter Härte gegen den antifaschistischen Verband mit unmittelbaren Folgen für die einzelnen Mitglieder, aber auch für die öffentliche Präsenz der NS-Verfolgten in der Nachkriegsgesellschaft.
Gleichzeitig wurde die VVN in der DDR ein Opfer der spätstalinistischen und antisemitischen »Parteisäuberungen«. Sie wurde 1953 aufgelöst und durch ein Komitee handverlesener Funktionäre (Komitee des antifaschistischen Widerstands) ersetzt. Dem DDR-Regime war die Repräsentation und Organisierung der jüdischen Verfolgten sowie der politische Einfluss der ehemaligen Widerstandskämpfer*innen und West-Emigrant*innen ein Dorn im Auge. Die organisierten NS-Verfolgten machten also in Ost- wie in Westdeutschland die Erfahrung, als Störfaktoren der postnazistischen Gesellschaften behandelt und verfolgt zu werden.
(Ent-)Nazifizierung
Es ist schon lange kein Geheimnis mehr, dass die VVN-West spätestens seit den 1950er Jahren wesentlich durch die DDR finanziert worden war, was sich auch in ihren Aktivitäten und ihrer Rhetorik niederschlug. Ab 1950 beteiligte sie sich an den DDR-Kampagnen für die Wiedervereinigung, gegen die Wiederbewaffnung der BRD und ihre Integration in westliche Verteidigungsbündnisse. Während die unmittelbaren Anliegen der NS-Verfolgten eher in den Hintergrund traten, nahm der Kampf gegen die (westliche) atomare Aufrüstung für einige Jahre eine zentrale Stellung ein; die VVN wurde ein wichtiger Teil der westdeutschen Friedensbewegung.
In der Auseinandersetzung um die Vereinigung kamen zwei Konflikte zusammen: ideologische Fragen aus dem Kontext des Kalten Krieges und die umstrittenen gesellschaftlichen Konsequenzen aus 12 Jahren NS-Herrschaft. Um 1950 wurden in der BRD die Weichen gestellt für den künftigen Umgang mit der NS-Vergangenheit. Es ging um Entnazifizierung, die Integration der ehemaligen Nazis in die Nachkriegsgesellschaft und die Amnestierung verurteilter NS-Verbrecher*innen. Die VVN war eine der wichtigsten Opponenten einer auf einen Schlussstrich ausgerichteten Vergangenheitspolitik. Sie wies immer wieder auf personelle und ideologische Kontinuitäten hin, benannte Verantwortliche, forderte Konsequenzen ein und konfrontierte die Gesellschaft mit der Frage, wie es zu den NS-Verbrechen kommen konnte. Die Wiedereinstellung der ehemaligen NS-Beamt*innen und der Mitglieder der »Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei« (NSDAP) erfolgte Anfang der 1950er Jahre – fast im gleichen Atemzug mit der Entfernung der KPD- und vieler VVN-Mitglieder aus dem öffentlichen Dienst. 1962 scheiterte das Verbotsverfahren gegen die VVN daran, dass sie den Vorsitzenden Richter mit seiner NS-Vergangenheit konfrontieren konnte. Das Verfahren wurde nicht wieder aufgenommen.
Den Finger in die Wunde legen
Die föderalistisch organisierte West-VVN hatte bis 1989 ein Präsidium mit angegliederten Referaten für verschiedene Tätigkeitsschwerpunkte in Frankfurt am Main. In Frankfurt saß auch der VVN-eigene, sehr aktive Röderberg-Verlag, bei dem neben zahlreichen Büchern die eigene Wochenzeitung Die Tat erschien.
Ein Schwerpunkt blieb weiterhin die Unterstützung und Betreuung der ehemaligen NS-Verfolgten. Der Verband konnte zwar aufgrund seiner politischen Marginalisierung nur wenig Einfluss auf die Entschädigungsgesetzgebung nehmen, aber er unterstützte über Jahrzehnte die Mitglieder in ihren Verfahren und gab wichtige Publikationen zum Entschädigungsrecht heraus. Ein zentrales Anliegen war die Dokumentation von NS-Verbrechen und die Sammlung von Zeug*innenberichten. Aus den frühen Beständen der VVN sind zahlreiche Berichte von KZ- und Zuchthausüberlebenden überliefert sowie eine große Materialsammlung zu allen damals bekannten Konzentrations- und Vernichtungslagern, Zuchthäusern sowie Euthanasiemordanstalten. Zum Teil wurde diese Tätigkeit später in den meist mit der VVN verbundenen Lagerkomitees fortgeführt, die sich für die Errichtung von Gedenkstätten und die Forschung zur jeweiligen Lagergeschichte engagierten. Seit den 1960er Jahren bemühten sich die Mitglieder verstärkt darum, Einfluss auf die Darstellung und Vermittlung der Geschichte des NS und des antifaschistischen Widerstands zu nehmen. Hieraus entstand der Studienkreis deutscher Widerstand, der heute noch in Frankfurt am Main tätig ist und ein Archiv unterhält.
Eine der langlebigsten und öffentlichkeitswirksamsten Aktivitäten war die Recherche zu NS-Täter*innen. Das seit Anfang der 1960er Jahre existierende Referat NS-Täter hat hunderte von Aktenordnern mit Recherchen zu einzelnen NS-Funktionär*innen und Tatverdächtigen hinterlassen. Aus diesem Referat stammte auch die von 1965 bis 1984 in kleiner Auflage herausgegebene Monatsschrift »Statistik über NS-Prozesse«, die einzige Veröffentlichung, die kontinuierlich über alle NS-Prozesse in der BRD informierte. Die VVN konnte – zum Teil mit Hilfe aus der DDR und anderen osteuropäischen Ländern – immer wieder den Finger in die Wunde der nur halbherzig durchgeführten Entnazifizierung und der phasenweise fast eingestellten juristischen Verfolgung von NS-Verbrechen legen und handfeste Skandale auslösen.
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Bund mit den Antifaschist*innen
Die VVN war und ist eng verbunden mit vielen internationalen antifaschistischen Organisationen. 1971 gelang ihr, was vielen Verfolgtenverbänden nicht gelingen wollte: Sie öffnete sich für nachfolgende Generationen und benannte sich in VVN/Bund der Antifaschisten um. Seit den 1970er Jahren richtete sie ihr Augenmerk verstärkt auf den bundesdeutschen Neofaschismus, Geschichtsrevisionismus und rechten Terror. Der Zusammenbruch der DDR führte mit dem Wegfall des größten Teils der Finanzierung zu einer existenziellen Krise, von der sich die Vereinigung nur langsam erholte. Heute ist der Bundesverband in Berlin insbesondere in der politischen Bildung und im Kampf gegen Neonazis aktiv und kämpft erneut gegen politische Entscheidungen, die eine erhebliche finanzielle Bedrohung darstellen. Aufgrund der Erwähnung als »extremistische Organisation« im bayerischen Verfassungsschutzbericht wurde der VVN 2019 die steuerliche Gemeinnützigkeit aberkannt. Mittlerweile wird die Gemeinnützigkeit durch das Finanzamt in Berlin wieder anerkannt und die Bundesvereinigung der VVN-BdA wird im bayerischen Verfassungsschutzbericht 2019 nicht mehr als »extremistische Organisation« eingestuft.