Vertane Chance

von Johanna Wintermantel
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 190 - Mai | Juni 2021

Was wäre geschehen, wenn Benito Mussolinis aufstrebende faschistische Bewegung schon 1921 gestoppt worden wäre? Hätten die deutschen Nationalsozialist*innen ebenfalls stärkeren Widerstand erlebt? Wäre die Geschichte ganz anders verlaufen? Diese Fragen drängen sich bei der Beschäftigung mit den Arditi del Popolo auf.

Antifa Magazin der rechte rand
Eines von verschiedenen Logos der Arditi del Popolo: ein Beil, das ein »fascis« (lat.), ein Rutenbündel, zerschlägt.

Als »die große vertane Chance des militanten Antifaschismus vor dem Marsch auf Rom« hat der Historiker Paolo Spriano sie bezeichnet. Dass dieser Gedanke unbequem ist, mag dazu beigetragen haben, dass die Arditi del Popolo nicht nur in Deutschland fast unbekannt sind, sondern auch im historischen Gedächtnis Italiens kaum vorkommen.
Im Juni 1921 in Rom offiziell gegründet, bildete die neue Bewegung innerhalb weniger Tage bewaffnete Formationen in zahlreichen italienischen Städten und kämpfte, an mehreren Orten erfolgreich, gegen faschistische Schlägertrupps. Doch bereits nach wenigen Monaten zerfiel die Organisation weitgehend, der Faschismus kam an die Macht. Die weitaus größere und bekanntere italienische Widerstandsbewegung, die Resistenza, entstand erst 1943.

Erfahrung von Weltkrieg und Klassenkampf
Der Erste Weltkrieg hatte Massen an Veteranen, Kriegsversehrten, Kriegswitwen und -waisen hinterlassen, von denen viele den nationalistischen Rausch nicht oder nicht mehr teilten und mittellos auf sich allein gestellt waren. Es entstanden diverse, auch proletarische und pazifistische, Organisationen für Veteranen und Hinterbliebene, darunter die Veteranenorganisation Associazione Nazionale Arditi d’Italia. Die Arditi waren Sturmtruppen, Eliteeinheiten der Armee im Ersten Weltkrieg. Aus der römischen Sektion spaltete sich im Sommer 1921 die Arditi del Popolo auf Initiative des Anarchisten Argo Secondari ab. Dies war die Reaktion auf zunehmende Sympathien eines Teils der Verbände mit der faschistischen Bewegung. Sofort nach der Gründung der Arditi del Popolo in Rom formierten sich bewaffnete, militärisch-strukturierte Einheiten im ganzen Land, um sich dem Terror der Faschisten entgegenzustellen. Sie bestanden jedoch nicht ausschließlich aus Veteranen. An den Verteidigungskämpfen gegen faschistische Truppen in der ligurischen Stadt Sarzana (Juli 1921) sowie in Parma (August 1922) waren über die militärischen Einheiten hinaus weite Teile der Bevölkerung beteiligt, darunter viele Jugendliche und Frauen. Über die Kämpfe der Frauen in Parma berichtete der dortige Kommandant Picelli: »Von den Fenstern einer der Hütten schrie ein Mädchen von 17 Jahren, während sie ein Beil in die Höhe streckte und schwenkte, ihren Genossen auf der Straße zu: ‹Wenn sie kommen, bin ich bereit›. An die Frauen wurden Behälter mit Petroleum und Benzin verteilt, damit der Kampf (…) Straße für Straße hätte geführt werden können.« Leider ist über den Beitrag von Frauen an den Kämpfen nur wenig Wissen überliefert.

Die Mitglieder der antifaschistischen Organisation entstammten der ärmeren Bevölkerung, die geprägt war durch die Klassenauseinandersetzungen am Ende des Ersten Weltkrieges. Es folgte das »biennio rosso«, die »roten zwei Jahre« 1919-1920: Arbeiter*innen und Bäuer*innen protestierten, streikten, besetzten Land und Fabriken, teilweise versuchten sie Betriebe selbst zu verwalten. Die 1919 gegründete faschistische Bewegung reagierte darauf mit Schlägertrupps, den »squadre«. Sie griffen – weitgehend ungehindert oder sogar unterstützt von der Polizei – gezielt Angehörige und Orte von Arbeiter*innenorganisationen an, wie etwa Gewerkschaftsbüros. Einheiten der Arditi del Popolo entstanden in allen Regionen – in etwas geringerer Zahl im Süden, wo die Klassenkämpfe nicht so heftig waren, und erst etwas später in den industriellen Zentren des Nordens, wo bereits eine gut organisierte Arbeiter*innenbewegung existierte, die in der Lage war, sich zu verteidigen. Die antifaschistische Organisation war aber keine Massenbewegung. Beschränkt man sich auf die eindeutig belegten Zahlen, entstanden die mit Abstand größten Sektionen in der Region Latium (Mittelitalien inklusive Rom) mit 3.300 und der Region Toskana mit 3.000 Mitgliedern. Mit Millionen organisierter Arbeiter*innen, denen nur einige zehntausend faschistische Squadristi gegenüberstanden, wäre das antifaschistische Rekrutierungspotential recht hoch gewesen.

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Mangelnde Unterstützung
In dieser Zeit kristallisierten sich die politischen Fronten in Italien erst heraus. Das gilt nicht nur für Mussolini, der zunächst führendes Mitglied der Sozialistischen Partei war, sondern auf der anderen Seite auch für einige Arditi del Popolo, die sich dem Antifaschismus widmeten. Zuvor hatten diese den Krieg befürwortet und nach Kriegsende, unter Führung des Dichters Gabriele d’Annunzio, an der Besetzung der Stadt Fiume teilgenommen. D’Annunzio sollte sich als wichtiger Ideengeber des Faschismus erweisen. Die Zugehörigkeit von Fiume/Rijeka, im heutigen Kroatien, war nach dem Ersten Weltkrieg umstritten. Die Besetzung war Ausdruck nationalistischer Gebietsansprüche, hatte aber zugleich auch revolutionär-libertäre Aspekte.

Die Arditi del Popolo waren keineswegs politisch indifferent, doch Parteizugehörigkeiten spielten keine Rolle. In ihren regional und städteweise strukturierten Organisationen kooperierten Angehörige der Sozialistischen, der Kommunistischen sowie anderer Parteien in ein und derselben Truppe. Das Ziel, was sie vereinte, war die Gegenwehr gegen die faschistische Gewalt; übergeordnete politische Ideen verfolgten sie nicht.

Statt es zu begrüßen, dass eine Art spontane antifaschistische Einheitsfront im Entstehen war, ließen die linken Parteien die ­Arditi del Popolo im Stich oder wandten sich aktiv gegen sie. Dies galt insbesondere für die Führungsebene, während Teile der Parteibasis – auch gegen die explizite Parteilinie – sich der neuen antifaschistischen Bewegung anschlossen.

Die Sozialist*innen entschieden sich, unter dem sozialistischen Ministerpräsidenten Ivanoe Bonomi, sogar für einen Befriedungskurs gegenüber dem Faschismus. Dieser mündete am 3. August 1921 in einen Friedenspakt. Der militante Antifaschismus der Arditi wurde dabei als Störfaktor wahrgenommen. Die Sozialistische Partei distanzierte sich daher ausdrücklich von ihnen, zumal diese sich ja selbst für »außerhalb jeder Partei stehend« erklärt hätten. Als die Regierung Bonomi Maßnahmen gegen jegliche paramilitärischen Gebilde erließ, traf dies überproportional die Antifaschist*innen und nicht die Faschist*innen. Damit trugen die Sozialist*innen wesentlich zur Schwächung des Antifaschismus bei.

Für die Kommunistische Partei Italiens (KPI) war der bewaffnete Antifaschismus die richtige Strategie. Da die Parteiführung unter Amedeo Bordiga jedoch auf eine kommunistische Führung abzielte, lehnte sie die Strategie einer Einheitsfront ab und verbot ihren Mitgliedern, Teil der Arditi del Popolo zu werden. Sie stand damit im Gegensatz zur Position der Kommunistischen Internationalen, in der sich selbst Wladimir Iljitsch Lenin positiv zur Gründung der Arditi del Popolo äußerte. Eine Ausnahme in der KPI bildete Antonio Gramsci, der zumindest anfangs die Bedeutung der Arditi del Popolo durchaus anerkannte. Einfache Parteimitglieder schlossen sich der Organisa­tion offenbar immer weiter an. Dies geht aus wiederholten Aufrufen zur Disziplin, seitens der Führung der KPI, hervor: »Trotzdem bestehen einige Genossen und einige Organisationen der Partei darauf, die Teilnahme der erwachsenen und jugendlichen Kommunisten an anderen, unserer Partei nicht zugehörigen Formationen vorzuschlagen oder manchmal auch umzusetzen, wie den Arditi del Popolo. Oder sie ergreifen sogar die Initiative zur Gründung lokaler Arditi-del-­Popolo-Gruppen, anstatt sich in der von den zentralen Organen angegebenen Richtung an die Arbeit zu machen. Diese Genossen werden zur Disziplin gerufen.« Die einzige politische Kraft, die solidarisch mit den Arditi del Popolo war, war die anarchistische und anarchosyndikalistische Bewegung. Sie kritisierten zwar deren militärische und zentralistische Struktur und das Fehlen revolutionärer Ziele, doch äußerten sich ihre zentralen Organe und Vertreter*innen durchweg unterstützend. Der einflussreiche Anarchist Errico Malatesta schrieb: »Allein können wir den Faschismus nicht bezwingen und erst recht nicht die Institutionen niederreißen. Also bleibt uns die Wahl, uns entweder denen anzuschließen, die zwar keine Anarchisten sind, aber mit uns die unmittelbaren Ziele gemein haben, oder zuzulassen, dass die Faschisten, mit der Regierung als Komplizin, weiterhin Italien tyrannisieren.« Er vertrat dies noch im Sommer 1922, als die Arditi del Popolo sich längst schon im Niedergang befanden. Die relativ kleine, gespaltene und heterogene anarchistische Bewegung reichte als Bündnispartnerin jedoch nicht aus, als dass die antifaschistische Organisation sich hätte behaupten können. Im August 1922 errangen sie noch einen ihrer größten Siege, als sie in mehrtägigen Barrikadenkämpfen in den armen Vierteln Parmas die Stadt erfolgreich gegen eine faschistische Besetzung verteidigten. Doch bis auf solche Ausnahmen waren die Arditigruppen bereits wieder in sich zusammengefallen. Parteiunabhängige Antifaschist*innen agierten zunehmend nur noch im Untergrund. Viele Mitglieder wurden ins Gefängnis oder in die Verbannung geschickt oder gingen ins Exil. Nicht wenige kämpften später im Spanischen Bürgerkrieg.

Die Resistenza
Somit siegte vorerst für gut 20 Jahre der Faschismus. Am 28. Oktober 1922 fand der faschistische Marsch auf Rom statt und am Tag darauf erteilte der König, Viktor Emanuel III., Benito Mussolini den Auftrag, eine neue Regierung zu bilden. Erst ab September 1943 – nachdem die italienische Regierung den Waffenstillstand bekanntgegeben hatte, die Deutschen daraufhin Nord- und Mittelitalien besetzten, während die Alliierten bereits von Süditalien aus vorrückten und die Faschisten die Republik von Salò ausriefen – entstand wieder eine vereinte Widerstandsbewegung: die Resistenza. Auch wenn der Anteil der Alliierten an der Befreiung Italiens entscheidend war, leistete die Resistenza einen wichtigen Beitrag. Eine Reihe von Städten wurde von den Partisan*innen der Resistenza selbst befreit.

Sie war nicht nur die größere und am Ende erfolgreichere Bewegung, sondern unterschied sich in weiteren Punkten vom Widerstand der Arditi del Popolo. In beiden Bewegungen beteiligten sich Angehörige verschiedener nichtfaschistischer Parteien, aber an der Resistenza beteiligten sich die politischen Parteien offiziell und agierten großteils mit je eigenen Einheiten, die über ein nationales Steuerungskomitee miteinander verbunden waren. Die Resistenza wurde stärker klassenübergreifend mitgetragen. Schließlich wandte sie sich, anders als der Widerstand ihrer antifaschistischen Vorgänger, wesentlich auch gegen einen äußeren Feind, die Deutschen.

Doch war die Resistenza eine ganz andere, komplett neue Bewegung? An ihr beteiligten sich viele junge Leute, die vollständig im Faschismus aufgewachsen waren. Wie sollten sie etwas anderes kennen und wollen? Dass sie Zweifel und die Fähigkeit zum Widerstand entwickelten, ist kaum denkbar ohne die Inspiration und Anleitung durch die Älteren, die die sozialen und politischen Kämpfe des frühen 20. Jahrhunderts durchgemacht hatten, darunter ehemalige Mitglieder der Arditi del Popolo. Die Einschätzung des Kommunisten und Partisanen Pietro Secchia, dass der Erfolg der Resistenza vor allem auf der hartnäckigen, mühsamen und entschiedenen Aktivität der Minderheiten beruht habe, die in den Jahren der harten antifaschistischen Militanz der Vorkriegszeit aufgewachsen waren, war nicht auf die Arditi del Popolo gemünzt. Aber gerade sie zählten zweifellos wesentlich dazu.

Johanna Wintermantel ist Übersetzerin des Buches »Arditi del popolo. Der erste bewaffnete Widerstand gegen den Faschismus in Italien 1921-22« von Andrea Staid. Erschienen im Verlag Edition AV 2020.