Die Taten einordnen

von Stefanos Kontovitsis, Caro Keller,
Sebastian Schneider
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 187 - November / Dezember 2020

Die Autor*innen waren im Prozess als Beobachter*innen von NSU-Watch

#Halle

»Die Gesellschaft geht einen Teil des Weges mit ihm«: Der Prozess gegen den Attentäter von Halle offenbart wieder einmal Defizite beim Bewusstsein über rechte Gewalt, der Einordnung der Tat und der Rolle von Staat und Gesellschaft. Mit veralteten Vorstellungen politischer Aktivitäten im Internet verfallen Staatsanwaltschaft und Gericht in den Reflex der Einzeltäterthese.

antifa Magazin der rechte rand

Seit der Selbstenttarnung des NSU 2011 und verstärkt durch den Mord an Walter Lübcke und die Anschläge in Halle und Hanau steigt das öffentliche Bewusstsein über die Kontinuität rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt in Deutschland. Um diese Kontinuität zu verstehen, ist die Perspektive der Betroffenen für das Verständnis von rechter Gewalt und den Kampf gegen rechte Gewalt wichtig. Ein Beispiel dafür ist die Nebenklage im Prozess zum antisemitischen und rassistischen Anschlag in Halle, bei dem Jana L. und Kevin S. ermordet wurden. Dabei gibt es selbstverständlich auch unter den Nebenkläger*innen im Prozess in Magdeburg unterschiedliche Interessen und Herangehensweisen an das Verfahren. Viele Nebenkläger*innen aber übernehmen – wie zuvor schon im NSU-Prozess in München – die notwendige Einordnung der Taten, indem sie deutlich machen, was rechte Gewalt bedeutet und welche Rolle Staat und Gesellschaft spielen. Einige aus den Reihen der Nebenklage haben sich selbst organisiert, weisen auf den Zusammenhang der Tat mit den rassistischen, antisemitischen und frauenfeindlichen Alltagserfahrungen hin und benennen den Zusammenhang mit anderen rechten Anschlägen.

Traumaproduzent Polizei
Jüdische Betroffene zeigten im Halle-Prozess auch den Zusammenhang zwischen dem antisemitischen und rassistischen Attentat und der nationalsozialistischen Verfolgung ihrer Familien auf und wiesen auf die Kontinuität des Antisemitismus und auf das Fortwirken der Shoah hin. Die Nebenklägerin Rebecca Blady machte im Prozess auf eindrückliche Weise klar, was das für sie bedeutet. Sie beschrieb, wie der Anschlag ein intergenerationelles Trauma wachrief und wie ihr Schicksal mit dem ihrer Großmutter Olga verbunden ist, welche die Lager Auschwitz und Bergen-Belsen überlebte. Kurz vor ihrer Zeug*innenaussage telefonierte Blady mit ihrer heute 91-jährigen Großmutter. Diese bat die Enkelin darum, ihre Geschichte vor Gericht zu erzählen, weil sie selbst nie die Möglichkeit hatte vor einem deutschen oder internationalen Gericht auszusagen. Olga war, nachdem sie mit ihrer Familie nach Auschwitz deportiert worden war durch Josef Mengele von ihrer Mutter getrennt worden, die sie nie wiedersah. Rebecca Blady wandte sich an das Gericht: »Ich muss wissen, dass das Gericht versteht, dass die Shoah zwar vorbei ist, aber dennoch weiter wirksam ist. Die Shoah ist nicht nur ein Fakt, sondern für die jüdische Gemeinschaft weiterhin präsent.« Am Vormittag des 9. Oktober 2019 übergab Blady ihre Tochter einer Babysitterin, damit diese sich den Tag über um das Kind kümmert. Vom Zeitpunkt des Attentats und über Stunden, bis die Polizei sie evakuierte, war Blady von ihrer Tochter getrennt. Erst als ihr Ehemann sich bei der Evakuierung weigerte die Synagoge zu verlassen, solange Tochter und Mutter nicht wieder vereint seien, gab die Polizei nach und ließ die Babysitterin mit dem Mädchen durch die Absperrung. Blady: »Ich frage euch: War es notwendig, dass ich so lange und ohne absehbares Ende von meiner Tochter getrennt wurde? Ich habe die normale Angst jeder Mutter, von ihrem Kind getrennt zu werden. Aber ich habe noch einen weiteren Grund. Ich trage das Trauma meiner Familiengeschichte. Von meiner Großmutter, die von ihrer Mutter an den Toren von Auschwitz getrennt wurde.« Verstärkt worden sei das Trauma durch das Verhalten der Polizei an diesem Tag. Berichte von unsensiblen, dilettantischen, teils schikanösen Maßnahmen durch die Polizei zogen sich wie ein roter Faden durch die Aussagen der Betroffenen vor Gericht.

Zusammenschluss
Betroffene selbst treten einer nachträglichen Spaltung der Opfer entgegen. Zu Beginn des Prozesses taten sich 13 Personen, darunter diejenigen, die sich während des Anschlags in der Synagoge in Halle aufhielten, zwei Personen, die der Attentäter auf der Flucht versuchte zu töten, zwei Gäste des Kiez-Döners und dessen Betreiber, die Brüder ?smet und R?fat Tekin, sowie der Vater des Mordopfers Kevin S. zusammen und veröffentlichten eine gemeinsame Erklärung. Darin stellen sie fest: »Der Täter wählte seine Ziele auf der Grundlage einer weißen, rassistischen Ideologie, die Antisemitismus, Rassismus, Homophobie, Sexismus und Fremdenfeindlichkeit mit Verschwörungstheorien verschmilzt, aus.« Die Hinweise auf die historische Tragweite des Anschlags, auf die antisemitische, rassistische und antifeministische Dimension der Tat und auf die internationale Vernetzung des Attentäters mit Anhänger*innen einer »White Supremacy«-Ideologie kommen also aus den Reihen der Nebenklage. Das Gericht war dazu bisher nicht in der Lage. Aber auch in vielen Medienberichten und bei manchen Solidaritätsbekundungen wurden Rassismus und Antifeminismus im Zusammenhang mit dem Anschlag von Halle nicht erwähnt, wurde der Täter viel zu oft als isolierter Einzeltäter beschrieben. In der Öffentlichkeit fehlt es immer noch allzu oft an Wissen über die Dimension der Tat und die Vielzahl der Opfer. Zu wenig bekannt sind zum Beispiel die verheerenden Folgen, die der Anschlag bei Angehörigen der Mordopfer Jana L. und Kevin S. hinterlassen hat. Der Kollege, mit dem Kevin S. im Kiez-Döner zu Mittag aß und der den Anschlag überlebte, kann sich bis heute nicht verzeihen, dass er seine »Bemmen« vergessen hatte, weswegen sie überhaupt erst den Imbiss besuchten. Dass der Attentäter bei seiner Flucht eine Person aus rassistischen Motiven angefahren und verletzt hat und beim Versuch, ein neues Fahrzeug zu rauben, in Wiedersdorf bei Halle ein Ehepaar auf dessen Grundstück niederschoss, schwer verletzte und traumatisierte, ist immer noch viel zu wenig bekannt.

Mythos Einzeltäter
Der Halle-Attentäter versuchte den Prozess in Magdeburg von Beginn an für seine Selbstinszenierung zu nutzen. Das entspricht auch seiner eigenen Hierarchisierung der Bedeutung der Tat im Vergleich zur Botschaft: Im Prozess erklärte der Angeklagte, ihm sei die Verbreitung des gestreamten Tatvideos und seines zuvor ins Netz gestellten Manifests wichtiger gewesen als die Tat selbst. Es ging ihm also vorrangig darum, andere zu ähnlichen Taten anzuspornen. Die Selbstinszenierung im Prozess gelang ihm jedoch nur in Ansätzen. Dies liegt zum einen daran, wie die Vorsitzende Richterin Ursula Mertens den Angeklagten befragt, zum anderen an der Nebenklage, welche die öffentliche Wahrnehmung des Prozesses in weiten Teilen bestimmt. Das Gericht verfolgt offenbar die Linie, dass der Prozess nicht zu einer Propagandashow des Angeklagten werden solle. Es kam nicht zu einer von einigen befürchteten Prozesserklärung durch den Angeklagten, sondern zu einer kleinteiligen Befragung. Als der Angeklagte eine rassistische Bezeichnung verwendete, unterbrach ihn die Vorsitzende, verbot ihm derlei menschenverachtende Äußerungen und drohte ihm gar den Ausschluss von der Hauptverhandlung an.

Auch wenn die Selbstinszenierung des Täters weitgehend verhindert wurde: Mertens und einige wenige Nebenklagevertreter*innen fragen stark täterzentriert und behandeln den Angeklagten immer wieder wie ein verlorenes Schaf, das es zurück zur Herde zu holen gilt. Tätern wie dem Angeklagten wird man auf diese Weise aber nicht beikommen, vielmehr erlauben die Antworten auf solche Fragen dem Angeklagten, seine Ideologie zu verbreiten. Denn der Angeklagte ist – geschult an Verschwörungserzählungen wie der vom »Großen Austausch« – zutiefst überzeugt von seinem Wahn, die »weiße Rasse« stehe kurz vor der Auslöschung und er müsse seine »Gegner« bekämpfen. Ideologisch unterscheidet sich der Attentäter von Halle dabei kaum von einem simplen Neonazi. Der Unterschied liegt weniger im Ideologischen, als darin, dass er nach derzeitigem Kenntnisstand nicht in der klassischen Neonazi-Szene politisch sozialisiert wurde und Unterstützung fand, sondern zu weiten Teilen im Internet. Ihn deshalb zu einem Einzeltäter zu erklären, geht von einer überholten Vorstellung politischer Aktivitäten im Internet aus. Bereits mit der auf die soziale Isolation des Täters zielenden Befragung zeigte die Richterin, dass sie der Einzeltäter-These der Bundesanwaltschaft zu folgen bereit ist. Diese These entspricht teilweise auch der Selbstdarstellung des Täters. Dieser insistiert auffällig oft, er habe allein gehandelt und auch im Internet keinen Kontakt zu anderen Personen aufgenommen. Zugleich war es ihm vor dem Anschlag aber sehr wichtig, seine Online-Aktivitäten zu verschleiern. Er säuberte etwa zurückgelassene Rechner von Daten. Auf Befragung von Nebenklagevertreter Alexander Hoffmann weigerte er sich, von ihm besuchte Internetseiten zu nennen, weil er seine »eigenen Leute schützen« wolle. Bei Bundesanwaltschaft und Bundeskriminalamt (BKA) gibt man sich mit der Darstellung des Anschlags durch den Angeklagten weitgehend zufrieden, die Ermittlungen zu dessen Online-Aktivitäten blieben bestenfalls oberflächlich. So war – nur ein Beispiel – keine*r der gehörten BKA-Zeug*innen in der Lage, Funktionsweise und Bedeutung von Imageboards wie 4chan oder 8chan zu erläutern.

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Aufklärung durch die Nebenklage
Kritische Nachfragen und notwendige Einordnungen kommen auch in Magdeburg vor allem von der Nebenklage. Diese benennt Lücken und versucht mit Beweisanträgen, das nötige Wissen in das Verfahren einzubringen. Die Bundesanwaltschaft bleibt dabei, das Problem kleinzureden. War es im Münchener NSU-Prozess das »isolierte Trio«, ist es in Magdeburg der isolierte, soziophobe Einzelgänger, der auf nicht näher bestimmte Weise im Internet zum Einzeltäter wurde. Mit dieser Sichtweise muss nicht genauer auf den Rassismus und Antisemitismus in der sogenannten Mitte der Gesellschaft geschaut werden. Genau dies aber fordern viele Nebenkläger*innen im Halle-Prozess ein. Denn der Angeklagte ist nicht bloß im Internet politisch sozialisiert worden. Er bewegte sich, wie sich im Prozess zeigte, in einem rechtsoffenen Umfeld, in dem er kaum Widerspruch erhielt. Von der rassistischen Mobilisierung und dem Erstarken der Rechten in den vergangenen Jahren sah sich der Angeklagte in seinem mutmaßlich bereits vor 2015 erwogenen Plan bestärkt, zur Tat zu schreiten. Nebenklägerin Sabrina S. brachte diesen Zusammenhang in ihrer Aussage im Halle-Prozess auf den Punkt: »Die Gesellschaft, seine Gesellschaft, geht einen Teil des Weges mit ihm, den Rest geht er dann mit seinen Freunden im Internet.«