Braunes Berlin

von Matthias Jakubowski
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 187 - November / Dezember 2020

#Neukölln

antifa Magazin der rechte rand
© Ferat

Die Hauptstadt ist eines der beliebtesten Reiseziele für Millionen von Tourist*innen aus der ganzen Welt. Sie ist bekannt für ihre Ost-West-Geschichte, den Mauerfall, das Brandenburger Tor, den Sitz des Parlaments oder eine ausgeprägte Clubkultur. Nicht zuletzt aufgrund hipper Szenebezirke wie Friedrichshain-Kreuzberg oder Nord-Neukölln dominiert in der öffentlichen Wahrnehmung ein postmigrantisches und von jungen alternativen Menschen geprägtes Bild der Stadt. Wird vom regierenden Rot-Rot-Grünen Senat mal wieder eine beliebte Kiezkneipe oder ein Hausprojekt unter dem Einsatz tausender Polizist*innen geräumt, wie zuletzt das »Syndikat« im Neuköllner Schillerkiez oder die Liebig34 im Friedrichshainer Nordkiez, ist Berlin bundesweit wegen Protesten der linken Szene im Gespräch. Gerne wird daher auch vom »roten Berlin« gesprochen. Womit Berlin weniger assoziiert wird, ist eine tiefe Verwurzelung militanter Neonazis – sieht man von bundesweit öffentlichkeitswirksamen Veranstaltungen wie dem »Rudolf-Heß-Gedenkmarsch« und den aktuellen Demonstrationen im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie ab. Doch es gibt dieses andere, das »braune Berlin«.

Spitzenreiterin bei rechter Gewalt
Ein Blick auf die Zahlen zeigt, dass das Bundesland seit Jahren konstant einen Spitzenplatz im Bereich rechtsmotivierter Straftaten einnimmt: Im Jahr 2018 wurden 1789 Fälle und im Jahr 2019 sogar 1932 Fälle registriert, davon 153 Gewaltdelikte. Von Januar bis Juli 2020 liegt Berlin mit bisher 50 registrierten Gewaltdelikten und 879 sonstigen Straftaten von rechts auf Platz eins. Auch bei antisemitischen Straftaten von rechts liegt Berlin mit bisher 137 im Jahr 2020 weit vor anderen Bundesländern. Dass es in der Hauptstadt eine durchaus beträchtliche Empfänglichkeit für rechte Ideologien gibt, die der Nährboden für solche Straftaten sind, zeigen die 12 Prozent für die »Alternative für Deutschland« (AfD) bei der Bundestagswahl 2017 und sogar 14,2 Prozent ein Jahr zuvor bei der Wahl zum Abgeordnetenhaus, mit der zeitgleich 95 Vertreter*innen der Partei in die Bezirksverordnetenversammlungen gewählt wurden.

Die Geschichte rechter Gewalt in der Stadt ist lang. Die beginnenden 1990er Jahre sind geprägt von wöchentlichen Angriffen durch Neonazi-Skinhead-Gruppen auf linke Hausprojekte sowie die rassistischen Brandanschläge auf Geflüchtetenunterkünfte in Pankow, Weißensee und Hohenschönhausen. In den 1990er Jahren erlebt Berlin eine Vielzahl neonazistischer Morde. Am 7. Januar 1990 kommt es auf dem Gelände der Freien Universität zu einem rassistisch motivierten Angriff auf den Doktoranden Mahmud Azhar, der am 6. März 1990 an seinen Verletzungen stirbt. Am 11. Dezember 1990 stirbt Klaus-Dieter Reichert, als er in seiner Wohnung in Lichtenberg von rechten Skinheads zusammengeschlagen wird und daraufhin in Panik aus dem Fenster springt. Am 13. November 1991 stirbt der 19-jährige Mete Eksi an schweren Kopfverletzungen, nachdem er am 27. Oktober 1991 von Nazis auf dem Kurfürstendamm zuerst rassistisch beleidigt und dann verletzt wurde. Am 24. April 1992 wird Nguyen Van Tu in Marzahn erstochen, als er zwei von rechten Jugendlichen bedrängten Freunden helfen wollte. Der Obdachlose Günter Schwannecke verstirbt am 5. September 1992, nachdem er am 29. August von einem Mitglied des »Ku-Klux-Klans« auf einer Parkbank in Charlottenburg mit einem Baseballschläger zusammengeschlagen wurde. Am 21. November 1992 wird Silvio Meier erstochen. Es folgt die Ermordung von Beate Fischer am 23. Juli 1994 in Berlin-Reinickendorf durch drei Skinheads und der Mord an Jan W. am 26. Juli 1994, der von Jugendlichen in die Spree getrieben und am Zurückschwimmen gehindert wird. Zur Jahrtausendwende erlebt Berlin die Morde an Kurt Schneider, der am 6. Oktober 1999 von Skinheads in Lichtenberg zu Tode gequält wird, an Dieter Eich am 25. Mai 2000, von rechten Jugendlichen in Berlin-Pankow erstochen, und Ingo Binsch, der am 6. November 2001 von Nazis in seiner Wohnung so lange getreten, geschlagen und gewürgt wird, bis er an einem Herzinfarkt stirbt.

Verwurzelung in Neukölln
Neonazistische Aktivitäten verteilen sich bis heute über das gesamte Stadtgebiet. Während im Ostteil die Bezirke Marzahn-Hellersdorf und Lichtenberg besonders betroffen sind, ist es im Westteil der Stadt seit vielen Jahren Neukölln. Das hängt vor allem mit der dortigen Verwurzelung rechter Organisationen zusammen. Nachdem Mitte der 2000er Jahre die Lichtenberger »Kameradschaft Tor« (KS Tor) und die »Berliner Alternative Süd-Ost« (BASO) verboten wurden, wurde der »Nationale Widerstand Berlin« (NW) zum wichtigsten Knotenpunkt der Vernetzung militanter und aktionsorientierter Neonazis. Da es in den vergangenen 20 Jahren immer wieder eine enge Vernetzung zwischen militanten Neonazis und der NPD gegeben hat, verwundert es nicht, dass auch der damalige Vize- und spätere Vorsitzende der NPD Berlin, Sebastian Schmidtke, zu einer der zentralen Figuren im Umfeld des NW Berlin wurde. Zwischen 2009 und 2012 erlebt die Stadt eine dem NW zugeschriebene Serie, bei der es auch zu den Anschlägen auf den linken Szeneladen M99 sowie die Wohnprojekte Tommy-Weisbecker-Haus, Kastanie 85, Lottumstraße 10a und das Anton-Schmaus-Haus kommt. Einige der angegriffenen Gebäude waren zuvor Teil einer auf der Internetseite des »Nationalen Widerstands Berlin« veröffentlichten Liste. Nach der Schließung der Internetseite setzten die Neonazis ihre Aktivitäten unter anderem unter der Bezeichnung »Freie Kräfte Berlin-Neukölln« (FKBN) fort. Zu diesem Umfeld gehören auch die drei Hauptverdächtigen der letzten großen Serie rechter Anschläge, der frühere Chef der NPD-Neukölln, Sebastian Thom, sowie der aufgrund der Vorwürfe mittlerweile aus der AfD Neukölln ausgeschlossene Neonazi Tilo Paulenz und Julian Beyer. Diese Serie umfasst laut Landeskriminalamt Berlin zwischen Ende 2016 und Anfang 2019 insgesamt 72 Taten, darunter allein 23 Brandstiftungen. Neben den vielen Drohungen gegen in antifaschistischer und antirassistischer Arbeit engagierte Menschen in Neukölln stechen dabei vor allem der Brandanschlag in der Nacht vom 1. Februar 2018 auf das Auto des Neuköllner Lokalpolitikers Ferat Kocak (DIE LINKE), bei dem die Flammen nur durch Glück nicht auf das Wohnhaus der Familie übergriffen, sowie das in der Nacht zum 23. Februar 2017 angezündete Auto eines Neuköllner Buchhändlers hervor. Die Scheiben des Buchladens waren am 13. Dezember 2016 eingeworfen worden, nachdem dort zwei Wochen vorher eine Veranstaltung gegen Rechtspopulismus stattgefunden hatte. Lokale NPD-Politiker riefen damals zum »Besuch« der Veranstaltung auf.

Erfolglose Ermittlungsarbeit
Trotz vieler Hinweise auf die Täter – so konnte Paulenz, Thom und Beyer eine intensive und systematische Ausforschung politischer Gegner*innen durch strukturiertes Sammeln einer großen Menge personenbezogener Daten nachgewiesen werden – kommt die eigens zur Aufklärung der Anschlagserie eingerichtete Sonderkommission »BAO Fokus« in ihrem am 28. September 2020 veröffentlichten Abschlussbericht zu dem Ergebnis, das Trio sei zwar mit einer »hohen Wahrscheinlichkeit« für die Tat verantwortlich, doch könne ihm dies mangels aufgefundener Beweise nach wie vor nicht nachgewiesen werden. Neben der nach über drei Jahren Ermittlungsarbeit immer noch nicht geklärten Frage nach den Täter*innen ist es weiterhin fraglich, ob nicht weitere Taten, die zu späteren Zeitpunkten begangen wurden, zu dieser Serie gezählt werden sollten oder zumindest Personen aus Neuköllner Neonazi-Strukturen zugerechnet werden müssen. Die Polizei sieht diesen Zusammenhang bisher offenbar nicht, obwohl die Schmierereien mit Hakenkreuzen und SS-Runen auch im Jahr 2020 weitergehen und es fortlaufend ungeklärte Brände an Fahrzeugen, aber auch in Restaurants gibt, wie am 4. Juli 2020 im »Al Andalos« in der Neuköllner Sonnenallee oder dem »Morgen wird Besser« einen Monat später in Lichtenberg. Anhaltspunkte zu weiteren Ermittlungen in der Berliner Neonaziszene gibt es durchaus. So ist der Kreis der mit militanten Aktionen in Erscheinung tretenden Neonazis trotz der hohen Zahl begangener Taten durchaus überschaubar. Den »Freien Kräften Berlin-Neukölln« gehört laut Auskunft des Berliner Senats maximal eine niedrige zweistellige Anzahl von Personen an. Recherche von Antifaschist*innen dokumen-tierte zuletzt immer wieder eine Gruppe Lichtenberger und Neuköllner Neonazis. Diese traten im Jahr 2018 im Rahmen der NPD-Kampagne »Schutzzone Berlin« in Erscheinung. Einige von ihnen sollen auch an zwei Angriffen am 28. September und am 5. Oktober 2018 in Neukölln beteiligt gewesen sein.

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Bis heute unaufgeklärt
Bis heute unaufgeklärt ist der Mord an Burak Bektas, bei dem es Anhaltspunkte zu einer Täterschaft aus der rechten Szene gibt. Und auch beim Mord an Luke Holland im September 2015 gibt es, trotz Verurteilung eines Täters, weiteren Aufklärungsbedarf über die Kontakte in rechte Strukturen. Das letzte Todesopfer rechter Gewalt ist der am 20. September 2016 verstorbene Eugeniu Botnari. Dieser wurde zuvor am 17. September vom Geschäftsführer eines Supermarkts in Berlin-Lichtenberg durch Schläge mit Quarzhandschuhen schwer verletzt. Der Täter versandte im Anschluss ein Handyvideo der Tat, gespickt mit rassistischen Bemerkungen. Auch das ist Berlin.