70 Jahre sind genug!

von Maximilian Fuhrmann
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 187 - Dezember 2020

#Verfassungsschutz

Antifa Magazin der rechte rand
Ein Jahr nach dem offiziellen Bekanntwerden des NSU demonstrierten in Berlin 4.000 Menschen unter dem Motto »In Gedenken an die Opfer des NSU – Das Problem heißt Rassismus! Schluss mit der Vertuschung!« © Mark Mühlhaus / attenzione

Fast hätte es geklappt mit der Rente mit 63. Im Bericht zum NSU-Untersuchungsausschuss 2013 kamen alle Fraktionen des Bundestags zu dem Schluss, »die Gefahr von Rechtsterrorismus« sei »von den Verfassungsschutzbehörden völlig falsch eingeschätzt« worden. Die Linke forderte in einem Sondervotum die Abschaffung der entsprechenden Behörden, die Grünen deren Auflösung und Neustrukturierung. Es kam jedoch anders. Die Behörde wird dieses Jahr 70 und ist immer noch nicht in den Ruhestand entlassen. Im Gegenteil: Mit immer mehr Mitteln, Personal und Kompetenzen wird versucht, sie am Leben zu halten. Allein von 2017 bis 2020 stieg der Etat des Bundesamts für Verfassungsschutz (BfV) von 307 auf 467 Millionen Euro. Der Personalbestand hat sich seit 2000 fast verdoppelt. Warum die Behörde nicht reformierbar ist, zeigt ein Blick in die Geschichte.


Am 7. November 1950 wurde das BfV gegründet. In den Folgejahren zogen die Bundesländer nach und unterhielten je eine Behörde, die ebenso wie das BfV dem Innenministerium unterstellt ist. Die Verfassungsschutzbehörden sollen das »Frühwarnsystem« im Demokratieschutzkonzept der Bundesrepublik sein. Ihnen obliegt die Sammlung von Informationen über Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung (fdGO) und den Bestand des Bundes oder der Länder. Die Vorbehalte gegenüber der Wiedererrichtung eines deutschen Geheimdienstes waren groß. Die Alliierten verfügten, der Verfassungsschutz sollte keine polizeilichen Befugnisse haben und auch durch die Namensgebung sollte ein deutlicher Trennstrich zur »Geheimen Staatspolizei« (Gestapo) gezogen werden. Umstritten war die Auswahl des verantwortlichen Personals. Die Briten legten gegen mehrere Vorschläge der Bundesregierung ihr Veto ein und setzten mit Otto John einen der Verschwörer vom 20. Juli als Präsident des BfV durch.

Gelernt ist gelernt

In den Anfangsjahren war etwa ein Drittel der Mitarbeiter ehemalige NSDAP-Mitglieder – etwas weniger als in anderen Behörden. Deutlich mehr NS-Belastete wurden als freie Mitarbeiter eingestellt und nach der weitgehenden staatlichen Souveränität der BRD 1955 fest übernommen. Unter ihnen waren viele ehemalige SS-, Gestapo- und SD-Angehörige, wie ein Forschungsprojekt der Historiker Michael Walla und Constantin Goschler zeigt.
Dieses Personal war geübt im Kampf gegen den Kommunismus und setzte diesen in der BRD fort. Weit weniger Aufmerksamkeit wurde dem Fortleben des Nationalsozialismus in der jungen Demokratie zuteil. Maßnahmen erfolgten meist auf Druck aus dem Ausland. Kurz nach der antisemitischen Schmierwelle 1959/1960 veröffentlichte das BfV seinen ersten Bericht. Er war auf Englisch verfasst und verfolgte das Ziel, die vermeintlich übertriebenen Darstellungen des Auslands über das Ausmaß des Antisemitismus zu korrigieren. Im Folgebericht, seitdem auf Deutsch veröffentlicht, zeigte man sich zufrieden, »irrige Vorstellungen über Ausmaß und Einfluß dieser [rechtsradikalen; Anm. d. Autors] Kräfte« berichtigt zu haben. Laut BfV waren die meisten Täter »Affekt- und Rauschtäter«, »geisteskranke Sektierer« oder »strafunmündige Kinder«. Die Relativierung rechter Gewalt und die Ausrichtung auf den Kampf gegen den Kommunismus entsprachen der Staatsraison der jungen BRD. Demokratieschutz bedeutete in erster Linie, den Staat und seine Institutionen zu schützen. Der von 1953 bis 1961 amtierende Innenminister Gerhard Schröder (CDU) sah die Hauptaufgabe des Verfassungsschutzes (VS) in der Staatssicherheit und prognostizierte: »Ich denke, daß wir eines Tages getrost zu diesem Namen zurückkehren können.« Das wäre konsequent und ehrlich gewesen.

Plötzlich wichtig

Tiefgreifende Veränderungen erlebte die Behörde Anfang der 1970er Jahre. Die meisten direkt NS-Belasteten schieden altersbedingt aus dem Dienst. Da sie aber maßgeblich für die Rekrutierung des eigenen Nachwuchses verantwortlich waren, kann davon ausgegangen werden, dass sich die Haltung der 1950er Jahre innerhalb der Behörde konservierte. Mit dem Radikalenerlass 1972 wuchs die gesellschaftliche Relevanz des Verfassungsschutzes sprunghaft an. Denn um zu überprüfen, ob der öffentliche Dienst von Demokratiefeinden unterwandert werde, sollten alle Bewerber*innen durch eine Regelanfrage beim zuständigen Amt für Verfassungsschutz überprüft werden. Um diese Aufgabe zu bewältigen wurden Etat und Anzahl der Mitarbeiter*innen innerhalb weniger Jahre verdoppelt. Zudem gewannen die jährlichen Berichte des VS an Bedeutung. Sie zeigten an, von welchen Organisationen sich potentielle Staatsbedienstete lieber fernhalten sollten und beeinflussten das politische Handeln. Parallel dazu führten die Ämter den Extremismusbegriff ein. Da der Begriff politisch unvorbelastet war, eignete er sich als Abgrenzungsbegriff für alle, auch völlig unterschiedliche, Bestrebungen gegen die fdGO. So konnten auch die undogmatischen und moskaukritischen Teile der Neuen Linken weiterhin als antidemokratisch ausgegrenzt werden. Der Antikommunismus wandelte sich zu einem Anti-Linksextremismus. Diese Feindbestimmung des VS wurde durch die Extremismusforschung mit wissenschaftlichen Weihen versehen und dadurch weiter stabilisiert. Durch diese Entwicklungen wurde der VS zu einem Akteur, dem die Deutungshoheit über die Grenze der Demokratie zugeschrieben wird, und dessen Einschätzungen in Politik, Medien und politischem Alltag bis heute als Gradmesser für Demokratietauglichkeit gelten.

Verfassungsschutz nach dem NSU

Nach dem Ende des Kalten Krieges wurde kurzzeitig die Abschaffung des VS diskutiert. Stattdessen bekamen auch die ostdeutschen Bundesländer eigene Landesämter; meist geführt von B- und C-Personal aus dem Westen. Seit Jahren werden Stimmen laut, die fordern, die Ämter müssten sich öffnen, transparenter werden und vermehrt auf Personal setzen, das Impulse jenseits juristischer Ausbildung mitbringt. Punktuell sind solche Entwicklungen erkennbar. Thüringen ist neben dem Saarland das einzige Bundesland, das den Etat seines Landesamts für Verfassungsschutz (LfV) seit der Selbstenttarnung des NSU nicht aufgestockt hat. Stattdessen setzte die rot-rot-grüne Landesregierung Ende 2015 mit Stefan Kramer einen Sozialpädagogen und ausgewiesenen Kritiker der Behörde an deren Spitze. Kramer gab dem Amt ein anderes Image und verzichtete weitgehend auf den Einsatz von V-Leuten. Obwohl er teilweise mit dem alten Personal arbeitet, ist der Unterschied zu jenem Landesamt erkennbar, das den »Thüringer Heimatschutz« mit aufgebaut hat, die Informationen über den NSU nicht genutzt hat und somit für die NSU-Mordserie mitverantwortlich ist. Doch mittlerweile fordert auch Kramer mehr Geld und Kompetenzen für seine Behörde und warnte kürzlich vor Linksterrorismus in Thüringen.


Nach zahlreichen Ausschreitungen rechter Gruppen im Spätsommer 2018 in Chemnitz und Demonstrationen, auf denen die »Alternative für Deutschland« (AfD) den Schulterschluss mit diesen Gruppen suchte, stufte das LfV Thüringen die Partei als Prüffall ein. Im Januar 2019 zog das BfV nach und stufte außerdem die AfD-Gruppierungen »Der Flügel« und die »Junge Alternative« als Verdachtsfälle ein. Durch die Einstufung als Verdachtsfall ist eine Überwachung mit nachrichtendienstlichen Mitteln erlaubt. Die Maßnahmen führten zu einer pro-forma-Auflösung von »Der Flügel« und internen Auseinandersetzungen in der AfD. Der Kurswechsel des BfV steht in direktem Zusammenhang mit dem Ausscheiden seines ehemaligen Präsidenten, Hans-Georg Maaßen. Maaßen spielte das Ausmaß der Ausschreitungen herunter und vermutete gezielte Falschnachrichten, ohne dies belegen zu können. Nach seiner angekündigten Versetzung ins Innenministerium fabulierte er über linksradikale Kräfte in der SPD, frei erfundene Taten und gezielte Medienmanipulation. Daraufhin wurde Maaßen in den Ruhestand geschickt. Seitdem ist er in der »Werteunion« aktiv und stellt seine Sympathien für die Politik der AfD offen zur Schau. Deren Co-Vorsitzende Alice Weidel hat wohl recht, wenn sie sagt, mit Maaßen wären die schärferen Maßnahmen gegen die AfD nicht möglich gewesen.

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#VSabschaffen

Mit den personellen Veränderungen richtet der Verfassungsschutz seinen Blick stärker auf die AfD und Einrichtungen der »Neuen Rechten« wie zum Beispiel das »Institut für Staatspolitik«. In Anbetracht des gesellschaftlichen Rechtsrucks, der stark gestiegenen Übergriffe seit 2015, der guten Vernetzung der »Neuen Rechten«, der Etablierung einer völkisch-nationalistischen Partei und regelmäßiger Berichte über rechte Gruppen, die Waffen horten und Anschläge planen, handelt der VS viel zu spät. Durch das lange Zögern gegenüber der AfD hat der Geheimdienst zur Legitimierung der Partei beigetragen. So lange sie nicht als Prüf- oder Verdachtsfall eingestuft wurde, galt sie als eine demokratische Partei wie jede andere. Dieser Freibrief hat den Aufstieg der AfD befördert. Der VS ist kein Frühwarnsystem. Er hinkt mit seiner Analyse der Wissenschaft, Zivilgesellschaft, kritischem Journalismus und antifaschistischen Rechercheteams weit hinterher. Diese Institutionen haben frühzeitig gewarnt, doch ihren Analysen hat der VS keine neuen Erkenntnisse hinzugefügt.


Angenommen, der Verfassungsschutz demokratisiert sich weiter, das Personal wird weitgehend ausgetauscht und die neuen Mitarbeiter*innen wollen den Kampf gegen völkisch-nationalistische Ideologien aufnehmen anstatt ihn zu sabotieren, bleibt er eine Behörde im Institutionengefüge der wehrhaften Demokratie, die auch dann ein Demokratieschutzkonzept verfolgt, das vorrangig den Staat schützt. Ein Konzept, dem staatskritische Linke sehr viel schneller suspekt sind als demokratiefeindliche rechte Gruppen. Diese Gruppen gelten erst dann als Gefahr, wenn sie staatliche Strukturen und Institutionen in Frage stellen. Die wehrhafte Demokratie basiert auf historischen Mythen, wie der angeblich wehrlosen Weimarer Republik, die durch ihre Feinde von rechts und links zerrieben wurde. Der Staatsschutzgedanke ist in zahlreiche Gesetze eingeflossen und durch die Extremismusforschung wird die staatliche Feinderklärung in etlichen Universitäten gelehrt. Die Ämter für Verfassungsschutz sind wichtige Bausteine in diesem Gefüge, sie abzuschaffen wäre ein erster und wichtiger Schritt. Der Weg zu einer Demokratie, in der politische und soziale Grundrechte als höchstes Schutzgut gelten, bliebe aber auch dann noch weit.