Radikalisierte »Wutbürger«

von Fabian Virchow
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 184 - Mai / Juni 2020

#Durchlauferhitzer

In Deutschland wurde über Jahre das Problem rechter Gewalt vielfach mit Blick auf jugendliche Rassist*innen und auf die organisierte extreme Rechte diskutiert. So wichtig diese Perspektiven sind, so unzureichend waren und sind sie. Die letzten Jahre, die nicht zuletzt durch eine deutliche Zunahme rechter Gewalt sowie terroristischer Gewalt von rechts gekennzeichnet sind, haben deutlich werden lassen, dass das häufig entstandene Bild, die Täter*innen gehörten zu klar abgrenzbaren sozialen Gruppen, falsch ist. Es ist zudem gefährlich, weil es die tatsächliche Gefahr rechter Gewalt systematisch unterschätzt.

Antifa Magazin der rechte rand
© Mark Mühlhaus


Folgt man den Zahlen, die jedes Jahr im Bericht des Inlandsnachrichtendienstes veröffentlicht werden, dann weist dieser für die Jahre 2017 und 2018 jeweils 12.700 sogenannte »gewaltorientierte Rechtsextremisten« aus. Damit wären in der Statistik des Nachrichtendienstes etwas mehr als die Hälfte der insgesamt 24.100 Personen aus diesem politischen Spektrum »gewaltorientiert«. Diesen Begriff verwendet die Behörde nach eigenen Angaben, wenn »Extremisten als gewalttätig, gewaltbereit, gewaltunterstützend oder gewaltbefürwortend eingeordnet werden können«. In dieser Systematik folgt also die »Gewaltorientierung« der Einordnung als »Extremist«. Angesichts der in vielen Situationen beobachtbaren Gewaltorientierung – etwa bei PEGIDA-Demonstrationen unter anderem gegen Journalist*innen, in den islam- und migrationsfeindlichen Strukturen und Milieus quer durch die Republik sowie mit Blick auf die vielfach im Internet sichtbare Hassrede – dürfte die Zahl derjenigen, die in Deutschland Gewalthandeln aus rassistischen und antisemitischen Motiven befürworten, wohl irgendwo im sechsstelligen Bereich liegen – also ein Mehrfaches der Zahl, die der Nachrichtendienst angibt.


Spätestens seitdem die Zahl der rassistischen Anschläge in der Mitte des letzten Jahrzehnts erneut nach oben schnellte, ist erkennbar, dass diese auch von Täter*innen aus der gesellschaftlichen Mitte verübt werden, das heißt von Personen, die in ihrem Wohn- und Arbeitsumfeld kaum als »Extremisten« wahrgenommen wurden, aber angesichts der steigenden Zahl von Schutzsuchenden bereits vorhandene Einstellungen radikalisierten und nun in Gewalttaten umsetzten. Zu erinnern ist etwa an den 39-jährigen Finanzbeamten, der am 9. Februar 2015 im schleswig-holsteinischen Escheburg das Nachbarhaus in Brand setzte, weil er verhindern wollte, dass sechs aus dem Irak geflüchtete Menschen dort einziehen. Als die geplante Unterbringung bekannt wurde, hatte er sich mit anderen Bewohnern des Viertels schon an einem aggressiven Auftritt im zuständigen Amt Hohe Elbgeest beteiligt. In Heilbronn stach im Februar 2018 der 70-jährige Willi B. auf drei junge Männer ein, die er als Geflüchtete identifizierte. Damit habe er ein Zeichen gegen die Flüchtlingspolitik setzen wollen; auch Bundeskanzlerin Merkel habe davon erfahren sollen. Am 1. März 2017 starb in Döbeln eine 85-jährige Frau in Folge einer Brandstiftung, die eine Nachbarin aus rassistischen Motiven verübt hatte, weil sie einem kurz zuvor eingezogenen Geflüchteten schaden wollte.

»Wenn wir wollen, schlagen wir Euch tot!«

Vielfach bewegen sich die Gewalttäter*innen auch in einem Milieu, in dem rechte und rassistische Einstellungen als normal gelten, also kein Anlass sind, sich gegenüber entsprechenden Gewaltphantasien abzugrenzen. Am 22. Juli 2019 schoss der 55-jährige Sportschütze Roland K. im hessischen Wächtersbach auf einen jungen Mann aus Eritrea; vor und nach der Tat hatte er in seiner Stammkneipe über den geplanten beziehungsweise dann ausgeführten Mordversuch gesprochen. Keiner der anderen Gäste alarmierte die Polizei. In der Kneipe schien sich niemand wirklich an seiner rassistischen Hetze und den Gewaltphantasien zu stören, im Schützenverein galt er zwar als Waffennarr, im Übrigen als unauffällig. Für Polizei und Verfassungsschutz war er ein unbeschriebenes Blatt. Im sächsischen Torgau überlebt ein junger Mann, der aus Syrien geflüchtet war, nur knapp die beiden Schüsse, die der 44-jährige Kenneth E. in der Nacht des 7. Juli 2017 auf ihn abfeuerte. Der Täter war in seiner Jugend Mitglied der Rockergruppe »Highway Wolves«, die in den 1990er Jahren Konzerte veranstaltete, bei denen auch Gruppen der extremen Rechten auftraten. Kenneth E. hatte zuvor wegen Mordes 18 Jahre im Gefängnis verbracht. Zu erinnern ist an den 25. Oktober 2016, als im sächsischen Döbeln ein 56-Jähriger vor der Wohnung einer geflüchteten Familie einen Kinderwagen in Brand setzte, so dass elf Hausbewohner*innen wegen Verdachts auf Rauchgasvergiftung ins Krankenhaus mussten. Der Täter bezeichnete sich selbst als Reichsbürger. Die unvollständige Aufzählung enthält auch den Fall des 72-jährigen Kölner CDU-Politikers Hans-Josef Bähner, der in der Nacht vom 30. auf den 31. Dezember 2019 nach Aussagen von Zeug*innen auf eine Gruppe junger Männer schoss und einen 20-Jährigen schwer verletzte, weil er sich gestört fühlte. Dabei soll er sinngemäß gerufen haben: »Haut ab, ihr dreckigen Kanacken, verzieht euch, ihr Dreckspack«.


Nicht zuletzt die Entstehung und das Auftreten von PEGIDA und vergleichbaren Gruppen in vielen Teilen des Landes, die wachsende Szene der Reichsbürger*innen sowie Gruppierungen wie die »Bruderschaft Deutschland«, die im Rahmen einer Demonstration in Berlin am 3. Oktober 2019 mit der Parole »Wenn wir wollen, schlagen wir Euch tot!« ihre Gewaltbereitschaft öffentlich verkündet hat, verdeutlichen, dass es eine Vielzahl von Milieus gibt, in denen eine Selbstermächtigung zu Gewalt gegen »Volksfeinde« völlig selbst­verständlich ist. Je nach spezifischer Ideologievariante werden zu den »Volksfeinden« neben Menschen mit Migrationsbiographie auch das Judentum sowie all jene gerechnet, die sich der Forderung nach »Null-Einwanderung« verweigern.

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Ausgabe 184 Terror von rechts


Die in diesen Milieus gemeinsam geteilte Erzählung dreht sich um den angeblich systematisch durchgeführten Austausch der Bevölkerung mittels der durch die Bundesregierung geförderten Einwanderung. Insbesondere Kanzlerin Angela Merkel ist dabei seit vielen Jahren zur Hassfigur gemacht worden, an der sich die Hetzer*innen abarbeiten und sie in immer neuen Variationen beschimpfen und bedrohen. Aber auch die Mordversuche an der heutigen Oberbürgermeisterin von Köln im Oktober 2015, dem Bürgermeister von Altena im November 2017 oder der Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Anfang Juni 2019 sind Ausdruck einer Entwicklung, bei der schwere Gewalttaten für Rassist*innen und Neonazis – egal ob in früheren Lebensphasen Teil einer entsprechenden Szene oder nicht – als geeignetes Mittel erscheinen, um dem angeblichen »Großen Austausch« Einhalt zu gebieten. Neben diesen bundesweit bekannt gewordenen Fällen gibt es unzählige weitere Angriffe und Bedrohungen, die weitgehend aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden sind.


Die Aufklärungsrate bezüglich der Brandstiftungen gegen Unterkünfte von Geflüchteten ist erkennbar niedriger als bei anderen Fällen von schwerer Brandstiftung. Auch das ermutigt solche Täter*innen.
Darüber können auch einige bundesweit bekannt gewordene Strafverfahren gegen Gruppen nicht hinwegtäuschen, die wegen der Vorbereitung oder der Durchführung von Gewalttaten gerichtlich belangt wurden. Dabei kam es auch zu Verurteilungen aufgrund der Bildung einer terroristischen Vereinigung. Entsprechend verurteilte das Oberlandesgericht München am 15. März 2017 Mitglieder der ­»Oldschool Society« wegen Vorbereitung von Sprengstoffanschlägen und ­Bildung einer terroristischen Vereinigung zu Haftstrafen zwischen drei und fünf Jahren. Am 7. März 2018 ergingen durch das Oberlandesgericht Dresden Freiheitsstrafen zwischen vier und zehn Jahren gegen Angehörige der »Bürgerwehr FTL/360« wegen Bildung einer terroristischen Vereinigung sowie mehrerer Sprengstoffanschläge auf Unterkünfte für Geflüchtete sowie auf politische Gegner*innen in Freital und in Dresden. Schließlich erging am 24. März 2020 das Urteil des Oberlandesgerichts Dresden gegen die Gruppe »Revolution Chemnitz«. Zu einer Haftstrafe von neun Jahren und acht Monaten wurde Ende August 2018 auch der 31-jährige Nino Köhler verurteilt. Das Landgericht Dresden sah es als erwiesen an, dass er Ende September 2016 einen Sprengsatz an der Fatih-Camii-Moschee im Stadtteil Cotta und am Internationalen Kongresszentrum in Dresden zündete. Am 13. Juli 2015 war er bei PEGIDA als Redner aufgetreten.


Entsprechende Strukturen entstehen vielfach in rassistischen Milieus, die sich aufgrund ihrer Weltanschauung angesichts der sogenannten Flüchtlingskrise radikalisiert haben und sich mit Blick auf die AfD-Wahlerfolge sowie die beträchtlich gestiegene Mobilisierungsfähigkeit extrem rechter Netzwerke und Mischszenen aus rechten Hooligans, rassistischen »Wutbürgern« und rechten Fußballfans als Exekutoren des Volkswillens verstehen.