Das Selbstbild der Täter

von Nikolas Lelle
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 184 - Mai / Juni 2020

#Hass

Die Manifeste von Rechtsterroristen sind auch Ausdruck ihres Selbstbildes. Zuletzt hatte der Attentäter von Hanau gezeigt, wie wichtig für dieses Selbstbild der Glaube an die Leistung und die Arbeit der eigenen »Rasse« ist und inwiefern es durch Fremde bedroht sein soll.

Antifa Magazin der rechte rand
@ derrechterand

Die Täter ergreifen das Wort. Schon die Gewalt ist ihre Sprache, aber sie ist es nicht allein. Die Worte geben der Gewalt einen Kontext, eine Begründung, eine – so wird gehofft – Geschichte. Deshalb veröffentlichen die Täter von Utøya über Christchurch bis Hanau Manifeste. Diese sind Ausdruck einer rechten Gesinnung, getrieben von Wahn und Hass gegen Jüdinnen und Juden, gegen Muslim*innen, gegen Linke, ja gegen alle, die anders sind oder sein sollen.
Neben den Fremdbildern zeichnen die Manifeste ein Selbstbild. Genauer gesagt: Erst durch die Fremdbilder wird das Selbstbild gezeichnet und es wird beschrieben, was auf dem Spiel stehen, was verschwinden und drohen soll. Auch wenn sich die Bezugspunkte unterscheiden, die Logik ist immer ähnlich. Eine angenommene, uralte Identität einer Wir-Gruppe, zu welcher der Täter sich nicht nur zählt, sondern deren idealer Ausdruck er sein will, soll bedroht sein durch Fremde. Leistung und Arbeit spielen in diesem Selbstbild eine zentrale Rolle.

Die Weltanschauung der Täter
Anders Breivik, der 67 jugendliche Mitglieder der Sozialdemokratischen Partei Norwegens auf der Insel Utøya erschoss, präsentiert sich in seinem über 1.500 Seiten starken Manifest als Patriot, als Tempelritter und Kämpfer, der etwas tun will gegen eine Islamisierung durch Masseneinwanderung, deren Grund er unter anderem in der Notwendigkeit von »billiger Arbeit« sieht. Es sind gar nicht so sehr seine Ideen, sondern vielmehr ist es die Form seines Textes und seiner Tat, die Nachahmer findet.

Antifa Magazin der rechte rand
Ausgabe 184 Terror von rechts



Stephan Balliet, der 2019 erfolglos an Jom Kippur die Synagoge von Halle angriff und daraufhin eine Frau auf offener Straße und einen Mann in einem Döner-Imbiss erschoss, ist solch ein Nachahmer; ein Breivik-Fan durch und durch. Ein wirkliches Manifest jedoch hat er nicht hinterlassen, dafür aber eine lose Sammlung von Dateien, die wenig Programmatisches enthalten, aber viele Details zu den benutzten Waffen. Eine Datei mit dem Namen »Read This First« allerdings enthält die rhetorische Frage über einen angeblichen Geldgeber »Why would a fucking jew give away money for free?« und schließt damit an den alten Topos vom »geldgierigen Juden« an. Ein Jahr zuvor griff Robert Bowers die Synagoge in Pittsburgh an und tötete elf Menschen. Der Polizei sagte er danach, so berichtet Alex Amend, er wollte alle Juden töten, weil die einen Genozid an seinem Volk verübten. Es ist der Antisemitismus, der diese Täter antreibt.
Im Februar 2020 tötete Tobias Rathjen in Hanau neun Menschen, die er für nichtdeutsch hielt, anschließend seine Mutter und sich selbst. Er begründete seine Tat in Form eines Manifestes. Er wollte, so schreibt er, etwas »gegen die Degeneration unseres Volkes« tun. Es ist dieselbe Geste wie bei Breivik, er sieht sich als Retter, der sich opfert.

Leistung und Arbeit im Manifest des Rechtsterroristen von Hanau
Viel wurde bereits über diesen Text geschrieben. Immer wieder wurde auf die wahnhafte Verschwörungsideologie hingewiesen, die sich durch den Text zieht. Rathjen glaubte, seit seiner Geburt von einem unbekannten Geheimdienst überwacht worden zu sein, der seine Gedanken las und kontrollierte. Seine herausragende »Leistung«, so schreibt er auf den letzten Seiten, habe darin bestanden, dass »ich das mitbekommen habe, dass ich überwacht werde«.


Und damit ist man in dem die Argumentation grundierenden Teil des Manifestes, über den bislang zu wenig geschrieben wurde: nämlich die Überzeugung, »Rassenunterschiede« seien Leistungsunterschiede. Rathjen richtet seinen Text »an das gesamte deutsche Volk« und meint damit ein rassistisch definiertes Kollektiv. Das deutsche sei das Volk, »aus dem das Beste und Schönste entsteht und herauswächst, was diese Welt zu bieten hat«. Es sei »mit dafür verantwortlich, dass wir die Menschheit als Ganzes emporgehoben haben«.

Aber wie in all diesen Manifesten erzählt auch Rathjen eine Verfallsgeschichte. Denn dieses von ihm so geliebte deutsche Volk sei von »Volksgruppen, Rassen oder Kulturen« unterwandert worden. Diese Menschen seien »äußerlich instinktiv abzulehnen« und hätten sich »in ihrer Historie nicht als leistungsfähig erwiesen«, ja, sie seien »in jeglicher Hinsicht destruktiv«. Nicht jede*r, so schließt er, »der heute einen deutschen Pass besitzt [ist] reinrassig und wertvoll«. Deshalb sei eine »Fein-Säuberung« notwendig, die zu einer »Halbierung der Bevölkerungszahl« führen soll. Mit seiner Tat will er den Anfang machen. Diese »Fein-Säuberung« müsse allerdings durch eine »Grob-Säuberung« ergänzt werden, das heißt der Vernichtung ganzer Völker, die er auflistet. Als besonders destruktiv erscheint ihm der Islam, aber auch Israel wird in der Liste genannt.

Selbst die Beziehung zu Frauen wird bei ihm durch seine Leistungsideologie geprägt. Im Manifest gibt es eine Passage, die »Thema Frauen« überschrieben ist und in der es heißt, jeder Mensch habe den Wunsch, »nicht mehr alleine zu sein«. Der »Zustand der Nichterfüllung«, der Rathjens Leben prägte, weil er nach eigenem Bekunden »besonders hohe Ansprüche« habe, sei »Freude- und leistungshemmend«.

Faulheit und Fleiß von »Rassen«
Der Rechtsterrorist Rathjen schließt mit seinen Ideen an eine lange Geschichte der Nationalisierung von Arbeit in Deutschland an, die stets von der einzigartigen »deutschen Arbeit« redete, die durch die Faulheit, die »Arbeitsscheue« und Nicht-Arbeit der Anderen bedroht werde. Seine Rede von der »Säuberung« treibt den alten Satz »Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen« ins Äußerste: »Wer nicht arbeitet, soll auch nicht leben.«
Eine Bedrohung können auch die Fleißigeren sein. Wilhelm Heinrich Riehl, ein deutscher Journalist und Begründer der Volkskunde, hat in der Mitte des 19. Jahrhunderts in seinem Buch »Die deutsche Arbeit« für diese Angst die Blaupause geliefert. Bei ihm sind es die Juden, die das deutsche Volk darin bedrohen, weggearbeitet zu werden. Der Rechtsterrorist von Hanau wiederholt auch diese Angst, aber er überträgt sie auf den »Fleiß des chinesischen Volkes«, der China noch zur Supermacht werden lasse. Um China Paroli bieten zu können, brauche es deshalb ein NATO-ähnliches Verteidigungsbündnis.

ABO
Das Antifa Magazin

alle zwei Monate
nach Hause
oder ins Büro.



Ganz frei von antisemitischen Vorstellungen ist das Manifest aber nicht. Der Glaube an eine weltbeherrschende Geheimorganisation, deren »Kernleistung« darin bestehe, zusammenzuhalten, wobei ihre »Finanzierungsquelle« unklar sei, weckt sicher gezielt Assoziationen an den Mythos der jüdischen Weltverschwörung. Dass Israel auf der Liste der »zu vernichtenden Länder« steht ist kein Zufall.

Dieses Manifest enthält somit neben einer wahnhaften Verschwörungsideologie auch eine rassifizierte Variante des neoliberalen Leistungsdenkens, die Rathjen nicht erfindet, sondern die eine längere Geschichte hat. Ähnliche Ideen wurden in den letzten Jahren unter anderem von Thilo Sarrazin propagiert. In Teilen wurde dieses Denken bereits vom Nationalsozialismus vorweggenommen, der die »Rassen« danach hierarchisierte, welche Einstellung zur Arbeit sie haben sollen. Die Deutschen standen demnach an der Spitze, die Jüdinnen und Juden am Ende und dazwischen wurden die »Völker« einsortiert, die im Laufe des Zweiten Weltkriegs in den Herrschaftsbereich des Nationalsozialismus fielen. Ihre Stellung innerhalb dieses »Rassenschemas« entschied nicht zuletzt darüber, ob sie ermordet, durch Arbeit vernichtet oder zu Arbeit gezwungen wurden. An diese Ideen fühlt man sich beim Lesen des Manifestes erinnert.

Arbeit und »der große Austausch«
Auffällig ist, dass bei dem Rechtsterroristen von Hanau gängige neu-rechte Ideologeme wie »Der große Austausch« fehlen. Davon handelt indes nicht nur das Manifest des Attentäters von Christchurch. »The Great Replacement« ist sogar dessen Name.
Im März 2019 tötete Brenton Tarrant in Christchurch/Neuseeland 51 Menschen in zwei Moscheen. Sein Manifest ist ganz im Zeichen der Verschwörungsideologie des großen Austausches und des »White Genocide« verfasst. Er glaubt, dass Millionen Menschen »eingeladen« wurden, um »the White people« zu ersetzen, die daran scheiterten, sich fortzupflanzen, weshalb er immer wieder über Geburtsraten redet, die aber auch daran gescheitert seien, »cheap labour« herzustellen. Es drohe so »the complete racial and cultural replacement of the European people«. Während bei Rathjen das deutsche Volk die Bezugsgröße ist, ist es hier das europäische Volk, eine durch Blutsverwandtschaft definierte ethnische und kulturelle »Rasse«.

Auch bei Tarrant ist es die Arbeit, die diese Gruppe auszeichnet. Der Wohlstand und Reichtum in seinem Land, also Australien, sei einzig und allein das Ergebnis der Anstrengung seiner Vorfahren. Sie hätten mit ihrem Schweiß und ihrem Blut für diesen bezahlt. Wenn Reichtum aber allein auf Anstrengung beruht, dann lautet der Umkehrschluss logischerweise, dass sich die Menschen in ärmeren Ländern nicht genug angestrengt hätten – und deren Nachfahren, so glaubt Tarrant, jetzt versuchten, mit dem zu leben, was ihm und den seinen zusteht. Dagegen könne man nur Eines tun: »The only option for a true man or woman of Europe is to labour, labour with all effort towards victory.« Vielleicht versteht Tarrant seine Tat als eine solche Arbeit.

Alle diese Täter verstehen sich als Macher, als Retter und Soldaten, als Männer, die endlich etwas tun. Sie sollen der prototypische Ausdruck ihrer Gemeinschaft sein, die ihrer Meinung nach zunehmend degeneriere. Damit das auch gesehen wird, ergreifen die Täter das Wort und hinterlassen Manifeste, die nicht nur ihren Hass und ihre Wut in den Fremdbildern offenbaren, die sie propagieren, sondern auch das sich darauf aufbauende Selbstbild.