»Was kümmert mich die Unabhängigkeit der Richter, solange ich über ihre Beförderung entscheide.«

von Klaus Thommes
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 199 - November | Dezember 2022

#System

Einige Bemerkungen aus dem Maschinenraum der deutschen Justiz zu deren Struktur im historischen und europäischen Vergleich.

Antifa Magazin der rechte rand

Die Idee von Justiz lebt sehr wesentlich von Unabhängigkeit. Ohne tief in Staatstheorie einsteigen zu wollen, ist das ohne Zweifel ein ganz wesentlicher Teil von Rechtsprechung. Wie kann die Unabhängigkeit derjenigen, die Rechtsstreite zu entscheiden haben, abgesichert werden? Hierauf finden sich sehr verschiedene Antworten. Vielleicht lohnt auch ein Blick über die Grenzen.
Nach dem Ende des Faschismus standen sowohl Deutschland als auch Italien vor der Frage, was aus dem totalen Versagen der jeweiligen Justizsysteme im Faschismus mit Blick auf den Aufbau einer neuen, demokratischen Justiz zu lernen sei. Beide Länder haben durchaus unterschiedliche Konsequenzen gezogen: Während die BRD einfach an dem aus Kaiserzeiten überlieferten System festhielt, hat Italien eine völlig neue Struktur geschaffen. Diese neue (italienische) Struktur haben auch die iberischen Länder nach dem Ende der dortigen Diktaturen in jeweils eigenen Ausprägungen übernommen. Nach dem Zusammenbruch des sogenannten Ostblocks sind die osteuropäischen Länder beim Neuaufbau ihrer Justiz allerdings nicht dem Beispiel Deutschlands, sondern eher – mit vielen Unterschieden im Einzelnen – den Modellen Italiens, Spaniens und Portugals gefolgt. Sowohl die Richter*innen in der Gewerkschaft ver.di, in der Neuen Richtervereinigung als auch zuletzt im Deutschen Richterbund haben das deutsche System kritisiert und eigene Modelle vorgestellt, die sich am italienischen/iberischen System orientieren.

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Ganz kurz – wie unterscheiden sich die Systeme und warum könnte so etwas politisch wichtig sein?
In Deutschland ist die Unabhängigkeit der Richter*innen verfassungsrechtlich garantiert (Art. 97 Absatz 1 Grundgesetz). Mir ist auch nach über 30 Jahren in der Justiz noch kein Fall bekannt geworden, in dem etwa eine Richter*in von der Regierung angewiesen worden ist, wie ein Fall zu entscheiden sei. Dagegen würden sich auch konservative Kolleg*innen strikt verwahren. Anrufe in der Verwaltung eines Gerichts, wie ein bestimmter Spruchkörper so entscheidet, sind mir indessen schon bekannt geworden. Eine andere Frage und ausdrücklich nicht Gegenstand dieses Textes ist es, wie sich gesellschaftliche Erwartungshaltungen und schichtspezifische Präformierungen auf das Justizpersonal auswirken.
Warum ist das dennoch bemerkenswert? Unabhängige Richter*innen sind dazu berufen, zu überprüfen, ob Entscheidungen der Exekutive, zum Beispiel Versammlungsbehörde oder Jobcenter, rechtmäßig sind. Eben diese Exekutive entscheidet aber auch darüber, wer in der Justiz aufsteigt oder wer überhaupt eingestellt wird. Da könnte sich ein Webfehler verbergen. Daher auch die Überschrift dieses Beitrags, die auf einen Ausspruch des preußischen Justizministers Gerhard Adolph Wilhelm Leonhardt (*1815, †1880) zurückzuführen ist.

Wird auf die Füße getreten, wenn man aufstiegswillig ist?
Befördert die Exekutive Leute, die ihr auf die Füße treten?
Wie wirkt dieses System auf das Personal ein?

Die deutsche Justiz ist hierarchisch tief gestaffelt. Zwischen Richter*innen im Eingangs­amt, etwa am Amtsgericht, Arbeitsgericht, Sozialgericht oder Verwaltungsgericht, und Vorsitzenden Richter*innen an einem Bundesgericht liegen zehn Besoldungsstufen. Das macht nicht nur im Geld, sondern auch im Sozialprestige und in der Arbeitsweise/Arbeitsbelastung ganz erhebliche Unterschiede aus.
Wie ist der Zugang zu den »besseren« Stellen geregelt? Die Entscheidungen darüber, wer befördert wird, werden im zuständigen Ministerium getroffen. Grundlage der Beförderungsentscheidung sind Beurteilungen der jeweiligen Präsident*innen. Diese haben sich verfassungsrechtlich bei ihrer Beurteilung an Eignung, Leistung und Befähigung zu orientieren (Artikel 33 Absatz 2 Grundgesetz).
Dazu vielleicht zwei Anekdoten: Ein Kollege bei einem Oberlandesgericht bewirbt sich auf eine Stelle als Vorsitzender Richter, die öffentlich ausgeschrieben worden ist. Daraufhin erhält er einen erstaunten Anruf von dem Kollegen, der als Präsidialrichter dem Präsidenten zuarbeitet, wieso er sich denn bewerbe – er sei dazu doch gar nicht aufgefordert worden. Ein anderer Kollege wird von einer Bundestagsabgeordneten, die Mitglied des Richterwahlausschusses nach Artikel 95 Absatz 2 Grundgesetz ist, zur Wahl als Bundesrichter vorgeschlagen. Daraufhin wird der Kollege von seinem Präsidenten als ungeeignet beurteilt. Der Kollege sucht das Gespräch mit dem Präsidenten, der ihm mitteilt, er habe jemand anderen für die dem Bundesland zustehende Position vorgesehen. Er sei gern bereit, die Beurteilung zurückzunehmen, wenn der Kollege zusichere, seine »Bewerbung« zurückzunehmen und weiter zusichere, sich nicht wieder ohne Aufforderung seines Präsidenten auf eine derartige Stelle zu bewerben.


Dieses System ist einmal mit folgenden Worten zusammengefasst worden: In der Justiz wird nicht derjenige befördert, der am besten beurteilt worden ist, sondern es wird derjenige am besten beurteilt, der befördert werden soll.


Deutlich wird: Zentrale Schaltstelle sind die Präsident*innen und ihre Beurteilungen. Das hat das politische System durchaus verstanden und seine Konsequenzen gezogen: In einem großen norddeutschen Bundesland ist es zum Beispiel so, dass alle Oberlandesgerichts­präsident*innen, der Präsident des Oberverwaltungsgerichts und die Präsidentin des Landessozialgerichts zuvor lange an herausragender Stelle im Landesjustizministerium gearbeitet haben. Wie kommt man dahin? In vielen Fällen, indem man in einer politischen Partei ist oder ihr zumindest »nahesteht« und dann bei der Arbeit im Ministerium nachweist, verstanden zu haben, wie »Justizverwaltung« funktioniert.
Zusammenfassend: Das deutsche System ist tief hierarchisch und seit Kaiserzeiten wie eine Behörde konstruiert; Aufstieg hängt vom Wohlwollen der Exekutive ab. Menschen sind geneigt, für solche Versuchungen anfällig zu sein.


In Italien hingegen wählen alle Richter*innen den obersten Rat der Gerichtsbarkeit. Dieser oberste Rat entscheidet darüber, wer wo Dienst tut. Besoldung ist nicht zwingend damit verknüpft, an welchem Gericht oder in welcher Instanz Dienst getan wird. Nicht zwingend ist es zum Beispiel, Personen, die von ihrer Anlage her gern tief über Probleme nachdenken, an einem Gericht der ersten Instanz einzusetzen, in dem hohe Fallzahlen zu bewältigen sind. Dafür sind möglicherweise andere Qualitäten gefragt – etwa die Fähigkeit in einer mündlichen Verhandlung die Interessen der Beteiligten zu erkennen, auf sie einzugehen und nach einvernehmlichen Lösungen zu suchen. Die Verhandlungen des obersten Richterrates in Italien sind öffentlich, werden beispielsweise im Radio übertragen. Anders als in Deutschland ist in Italien auch die Staatsanwaltschaft unabhängig und unterliegt nicht den Weisungen des Justizministers. Das hat immerhin dazu geführt, dass im Rahmen von »mani pulite« (»saubere Hände«) das ganze etablierte politische System in Italien in die Luft geflogen ist. Ob das, was da jetzt entstanden ist, viel besser ist, kann man sich zwar fragen. Schuld daran ist aber sicherlich nicht die Unabhängigkeit der italienischen Justiz. Die Kolleg*innen in Italien wählen ihre Vertreter*innen im obersten Richterrat nach politischen Listen der verschiedenen Verbände. Damit kommt das eminent Politische dieser Dinge auch öffentlich zum Ausdruck.


Dieses System haben sowohl Spanien als auch Portugal im Großen und Ganzen übernommen – jeweils mit nationalen Besonderheiten. Das ist im Einzelnen oft sehr spannend. In Spanien ist es beispielsweise so, dass Leitungsfunktionen in Gerichten auf Zeit gewählt werden und die Möglichkeit der Wiederwahl eingeschränkt ist. Dort hat man nach dem Ende der Franco-Zeit die Erfahrung gemacht, dass das konservative Richterkorps sich immer wieder gleichgesinnte junge Kolleg*innen kooptiert und damit auch die Mehrheiten im obersten Richterrat dominiert hat. So ist die Wahl der Vertreter*innen auf das Parlament übertragen worden, das nach den dortigen Mehrheiten über Listenvorschläge aus der Richter*innenschaft entscheidet. Das Besoldungssystem kennt nur ganz geringe Differenzierungen.
Auch in der polnischen Justiz etwa, wie sie nach den dortigen Umbrüchen entstanden ist, gab es einen solchen gewählten obersten Richterrat, der für Einflussnahmen der Exekutive so gut wie gar nicht zugänglich war. Das hat die PiS-Partei in den letzten Jahren gründlich geändert – warum wohl? Auch in anderen osteuropäischen Ländern nagt die Exekutive immer weiter an derartigen Systemen – immer wieder gern unter Verweis auf das deutsche System.


Nun soll nicht verschwiegen werden, dass auch in anderen Ländern nicht alles Gold ist, was glänzt: Die Verfahrenslaufzeiten in Italien sind für unsere Verhältnisse unglaublich lang. Das Problem, dem System Justiz die finanziellen Mittel zu verschaffen, die es braucht, um seiner Aufgabe, effektiven Rechtsschutz zu gewähren, nachzukommen, ist nicht gelöst. Auch dort und in anderen Ländern finden sich im Justizpersonal vergleichsweise oft Angehörige bestimmter gesellschaftlicher Schichten. Die Ausgestaltung des Systems Justiz ist ein enorm politisches Problem.

Klaus Thommes ist Richter in Niedersachsen.