Recht an der Grenze – Grenzen des Rechts

von Clara Bünger
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 199 - November | Dezember 2022

#Frontex

Antifa Magazin der rechte rand
Demonstration des Bündnisses »Seebrücke« 2018

Im Juli 2022 versucht eine Gruppe hauptsächlich aus Syrien stammender Geflüchteter von der Türkei kommend über den Fluss Evros nach Griechenland und somit in die Europäische Union zu gelangen. Der Evros markiert nicht nur eine Grenze, sondern ist seit Jahren Schauplatz einer brutalen Abschottungspolitik – mit fatalen Folgen für Menschen, die ihn auf ihrer Flucht, in der Hoffnung auf Schutz, überqueren wollen. Da griechische Sicherheitskräfte den Weg zum Ufer versperren, landet die Gruppe erstmals auf einer Sandbank mitten im Fluss. Von dort werden die Menschen schließlich zurück auf türkisches Gebiet gedrängt. Dort wartende türkische Soldaten zwingen die Schutzsuchenden jedoch zurück in den Fluss. So strandet die Gruppe erneut, in einer Art Limbus gefangen, auf der Sandbank, wo sie wochenlang ungeschützt und ohne Versorgung bei extremer Hitze ausharren muss. Am 20. Juli fordert der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die griechische Regierung auf, zu helfen. Am 8. August stirbt Maria A., ein fünfjähriges syrisches Mädchen, mutmaßlich an den Folgen eines Skorpionbisses auf der Sandbank. Obwohl Videos mit Hilferufen existieren, kommt niemand, um ihr zu helfen. Das alles geschieht vor den Augen der EU, den EU-Behörden wie Frontex und den griechischen Behörden. Maria hätte nicht sterben müssen. Sie ist nicht das erste Opfer der brutalen EU-Migra­tionspolitik. Ihr tragischer Tod ist einer von vielen Fällen, die den Alltag von Schutzsuchenden an der EU-Außengrenze zeigen. Gravierende Menschenrechtsverletzungen und ungeheuerliche Verbrechen sind an den EU-Außengrenzen zum Regelzustand geworden; mehr noch, sie sind elementarer Bestandteil der heutigen EU-Flüchtlingspolitik.

EU-Türkei-Deal
Die Situation am Evros im August 2022 steht beispielhaft für die Situation von Schutzsuchenden und ist Ergebnis einer längeren Entwicklung der Erosion des Menschenrechtsschutzes innerhalb der EU, dem der sogenannte Flüchtlingssommer 2015 und der für einen sehr kurzen Zeitraum weitgehende Zusammenbruch des EU-Grenzregimes voranging. Infolgedessen haben die europäischen Regierungen alles darangesetzt, Fluchtwege wieder abzuschneiden und die Grenzen mit Gewalt zu schließen und zu »schützen«. Für die EU stand die Abschottung und die Abwehr von Schutzsuchenden spätestens ab diesem Zeitpunkt an oberster Stelle, weshalb sie sogar einen Deal mit dem Despoten Erdo?an einging. Am 18. März 2016 wurde in Brüssel im Europäischen Rat einstimmig für eine Erklärung EU-Türkei gestimmt. Die türkische Regierung sollte sechs Milliarden Euro erhalten, wenn sie im Gegenzug Geflüchtete zurücknimmt, die »irregulär« in Griechenland ankommen, und wenn sie sich verpflichtet, Flüchtende aufzuhalten. Das Beschlossene wurde in eine Pressemitteilung gegossen. Dabei handelt es sich nicht um einen völkerrechtlich verbindlichen Vertrag oder Ähnliches, sondern nur um eine politische Absichtserklärung der Chef*innen von EU-Staaten mit der Türkei. Dennoch hatte diese Pressemitteilung eine sofortige Auswirkung auf tausende Flüchtende, die sich damals im Grenzgebiet zwischen Griechenland und der Türkei auf den Inseln in der Ost-Ägäis aufhielten. Von einem auf den anderen Tag wurden Menschen, die tausendfach mit Gummibooten von der Türkei kommend auf den griechischen Inseln landeten und zuvor ohne Hindernisse mit der Fähre auf das Festland Griechenlands reisen konnten, auf den griechischen Inseln festgehalten und in sogenannten EU-Hotspots inhaftiert.
Um das neue Abschottungskonzept der EU umzusetzen, wurde ein Grenzschnellverfahren etabliert, in dem im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung die Türkei faktisch als »sicherer Drittstaat« etabliert wurde. Während dieses Verfahrens ist es den Schutzsuchenden grundsätzlich verboten, die Inseln zu verlassen – was vorhersehbar zu einer Überfüllung der Lager und so zu einem Leben unter elendigsten und menschenunwürdigen Bedingungen geführt hat. Im Zuge dessen kam es zu zahlreichen Verletzungen von Grund- und Menschenrechten, was auch der UN Special Rapporteur on the Human Rights of Migrants feststellte.

Herrschaft des Unrechts
Weitere eklatante Verschärfungen folgten, als Griechenland im März 2020 die Aussetzung des geltenden Asylsystems etablierte. Die von Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis verfolgte »neue Taktik« beinhaltete auch »präventive Maßnahmen« in Bezug auf Ankünfte an den See- und Landgrenzen. Diese bedeuteten einen massiven Einsatz von Polizei- und Militärkräften, die mit einer dramatischen Steigerung von rechtswidrigen Zurückweisungen an der Grenze, sogenannten Pushbacks, einhergingen. Bei seinem Versuch, nach Griechenland zu fliehen, wird in diesem Zusammenhang Muhammed Gulzar am 4. März 2020 am Evros erschossen. Zahlreiche Organisationen, darunter auch das Deutsche Institut für Menschenrechte, haben die dortigen gewalttätigen Zurückweisungen als klaren Verstoß gegen internationales und EU-Recht bezeichnet.

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EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen reiste im März 2020 zwar an die griechisch-türkische Grenze, aber nicht etwa, um die offensichtlichen Rechtsverstöße zu ahnden und Griechenland zur Einhaltung von EU-Recht zu ermahnen. Stattdessen lobte sie vielmehr den Einsatz Griechenlands. Wörtlich sagte sie: »Ich möchte Griechenland dafür danken, dass es unser europäischer Schutzschild ist.« Diese Äußerung war eine weitere Zäsur: Damit legitimierte die EU menschenrechtswidriges Handeln und machte deutlich, dass rechtswidrige Menschenrechtsverletzungen erwünscht sind, solange sie der effektiveren Abschottung der (Außen-)Grenzen dienen.

Rechtsverschärfungen und Menschenrechtsverletzungen
Seit Sommer 2021 haben tausende Schutzsuchende versucht, über Belarus nach Polen in die EU einzureisen. Die polnische Regierung riegelte daraufhin die Grenze mit einem großen Polizei- und Militäraufgebot ab, ließ Zäune errichten und verhängte entlang des Grenzgebiets einen Ausnahmezustand. Zu dem entsprechenden Bereich hatten weder Journalist*innen noch Hilfsorganisationen oder Rechtsanwält*innen Zugang. Selbst der Menschenrechtskommissarin des Europarats, Dunja Mijatovic, wurde der Zutritt versagt. Polen hat bereits Ende Oktober 2021, also nur wenige Monate nachdem die Zahl der Schutzsuchenden rasant gestiegen war, ein Gesetz eingeführt, das Pushbacks auf nationaler Ebene legalisiert. Mindestens 21 Menschen sind in wenigen Monaten in den Wäldern des polnisch-belarussischen Grenzgebiets gestorben. Wenn Geflüchtete es doch über die Grenze geschafft haben, ohne von polnischen Grenzbeamt*innen zurückgeschoben oder im Wald festgehalten zu werden, wurden sie unter menschenunwürdigen Bedingungen in Lagern inhaftiert.

Erosion der Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte
Griechenland und Polen sind zwei Beispiele von vielen. Auch an anderen europäischen Grenzen stehen rechtswidrige und mit äußerster Brutalität durchgeführte Pushbacks auf der Tagesordnung: Diesen Juni starben 23 Menschen bei dem Versuch, die spanische Exklave Melilla zu erreichen. Anfang 2022 haben kroatische Grenzbeamt*innen Geflüchtete buchstäblich aus der EU rausgeprügelt, allein an der Grenze von Kroatien zu Bosnien-Herzegowina wurden von Menschenrechtsorganisationen zwischen Juni 2019 und September 2021 30.309 Pushbacks durch die kroatische Grenzpolizei dokumentiert. Menschenrechte werden gebrochen und staatliche Akteure, die für Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sind, werden nicht verfolgt. Stattdessen werden Gesetze verschärft, um Rechtsbrüche nachträglich zu legalisieren und noch weiter zu verallgemeinern. Alle Appelle, die EU-Kommission möge ein funktio­nsfähiges Monitoring für Menschenrechtsverletzungen etablieren oder Vertragsverletzungsverfahren einleiten, weil Mitgliedsstaaten gegen EU-Recht verstoßen, sind deshalb zum Scheitern verurteilt. Im Gegenteil, es ist gerade die EU-Kommission, die die Mitgliedstaaten in ihrem Handeln bestärkt, wenn sie offensichtliche Menschenrechtsverletzungen begehen – und sie dabei zum Beispiel von den EU-Agenturen unterstützt werden.

Menschenrechtsverletzungen mit Unterstützung von Frontex?
Die Verwicklung der sogenannten Grenzschutzagentur Frontex in systematische Pushbacks der griechischen Küstenwache ist durch journalistische Recherchen schon seit Längerem bekannt, wie zahlreiche Recherchen unter anderem von Der Spiegel und Lighthouse Reports zeigen. Letzte Zweifel daran. dass Frontex in massenhafte Rechtsbrüche involviert war, räumte im Februar 2022 der vorgelegten Bericht der EU-Antikorruptionsbehörde OLAF aus, der über die Transparenzplattform FragDenStaat veröffentlicht wurde. Pushbacks wurden durch die Mitgliedstaaten entweder vertuscht oder sie hatten bewusst weggesehen, auch bei mit EU-Mitteln co-finanzierten Aktionen. Dass die EU als Ganzes, geschweige denn die Mitgliedstaaten, daraus Konsequenzen ziehen, ist bisher alles andere als absehbar. Das europäische Recht ermöglicht den Betroffenen einer menschenrechtswidrigen Grenzpolitik kaum einen Zugang zu effektivem Rechtsschutz. Eine umfassende Reform des Rechtsschutzes und ein Beitritt der Europäischen Union zur Europäischen Menschenrechtskonvention sind nötig, um Agenturen wie Frontex zur Verantwortung zu ziehen.

Clara Bünger ist Rechtsanwältin und sitzt für die Partei Die Linke im Bundestag.