Ideen über Veränderung finden kaum statt

von Rolf Schneider
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 195 - März / April 2022

Antifa Magazin der rechte rand

Seit dem 19. Jahrhundert überwogen in der deutschen Belletristik konservative Haltungen, fortschrittliche Literatur blieb die Ausnahme. Entstand in den 1960er Jahren der Eindruck, die Belletristik der alten Bundesrepublik sei linksorientiert, macht in jüngster Zeit hier vor allem das rechte Lager mobil.

Von einem linkspolitischen Engagement deutscher Autoren wie in den 1960er Jahren ist heute wenig zu sehen. Ab und an gibt es einen öffentlichen Protest oder eine kollektive Manifestation. Wer die in den letzten zwei, drei Jahrzehnten erschienenen Bücher betrachtet, kann vergleichsweise wenige politische Bezüge erkennen.

Anlässlich der anstehenden Bundestagswahl im Herbst 1961 veröffentlichte der Rowohlt-Taschenbuch-Verlag ein Bändchen mit dem Titel »Die Alternative oder Brauchen wir eine neue Regierung?«. Herausgeber war der Schriftsteller Martin Walser, der damals der kommunistischen Idee ziemlich nahe stand. Neben ihm äußerten sich zwanzig weitere westdeutsche Autoren, darunter Hans Magnus Enzensberger, Siegfried Lenz, Hans Werner Richter und Günter Grass. Sie alle plädierten für ein Ende der Adenauer-Regierung und der von ihr verfochtenen Restauration und zeigten eine – manchmal gebrochene – Sympathie für die SPD.

Doch die Wahl gewann abermals Adenauers CDU, befördert auch durch den Umstand, dass ein paar Wochen zuvor Walter Ulbricht seiner DDR den Bau der Berliner Mauer verordnet hatte. Vier Jahre später bildete sich auf Betreiben von Grass ein Wahlkontor deutscher Schriftsteller, das sich für einen Sieg der Sozialdemokratie engagierte. Mit einigem Zeitverzug erbrachte dies zunächst den Einzug von Willy Brandt ins Bundeskabinett, ehe dieser Politiker ab 1969 die Bundesregierung bilden konnte.

Die konservative Haltung deutscher Belletristen

Die Vorstellung, ein solches Engagement deutscher Schriftsteller könnte sich heute wieder ereignen, ist irreal. Von den früheren Wahlkontoristen erhob zuletzt bloß noch der inzwischen verstorbene Günter Grass seine Stimme für die SPD. Hinzu kommt: Eine ähnlich charismatische Gestalt wie Willy Brandt hat die deutsche Sozialdemokratie nicht mehr aufbieten können.

Das damals so lautstarke Autoren-Engagement erweckte den Eindruck, die schöngeistige Literatur der alten Bundesrepublik sei durchweg linksorientiert gewesen. Tatsächlich dominierte die von Hans Werner Richter angeführte und zweifelsfrei linke Gruppe 47 lange Zeit die Schlagzeilen des Feuilletons und vielfach auch den Buchmarkt.

Dabei war erstaunlich, dass sie zu derartiger Dominanz überhaupt hatte gelangen können. Nicht bloß in der Romantik überwogen bei den deutschen Belletristen des bürgerlichen Zeitalters die konservativen Haltungen, Autoren wie Georg Büchner und Heinrich Heine bildeten die Ausnahme. Es gab allerlei Wankelmut und viel Opportunismus. Theodor Fontane, Barrikadenkämpfer von 1848, wurde rasch zum blinden Verfechter des preußischen Adels – um als alter Mann dann doch wieder kritische Einwände gegen eben jene Schicht vorzutragen. Nach Ansätzen im Naturalismus war erst mit dem Expressionismus und der Belletristik der Weimarer Republik progressives Denken maßgeblich. Ab 1933 wurde die schöngeistige Literatur linker Observanz auf den Scheiterhaufen geworfen, ihre Verfasser wurden verfolgt, inhaftiert oder mussten sich in die innere oder die äußere Emigration begeben.

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Zweierlei Wege deutscher Literatur

Nach dem Weltkriegsende nahm der Literaturbetrieb in den beiden deutschen Staaten einen unterschiedlichen Verlauf. Ein Großteil der Emigrantinnen und Emigranten begab sich in die sowjetische Besatzungszone und spätere DDR, denn sie bekannten sich zum Kommunismus; die bürgerlichen Flüchtlinge verharrten lieber in ihrem Exil. Die ostdeutsche Belletristik musste danach sämtliche Windungen des DDR-Kulturbetriebes ertragen, von den Autorinnen und Autoren überquerten etliche die deutsch-deutsche Grenze, die übrigen suchten ihr oft kompliziertes Arrangement mit der Staatsmacht, was heimliche oder halböffentliche Systemkritik nicht ausschloss. Als der Staat zusammenbrach, fühlten viele von ihnen sich heimatlos.

In der alten Bundesrepublik gab es entgegen dem öffentlichen Eindruck auch während der 1960er Jahre einen nicht unbeträchtlichen Anteil von rechtskonservativen Autoren. Es gab ihn von Beginn an. Leute wie Walter von Molo, Stefan Andres, Erhart Kästner und Friedrich Sieburg waren unübersehbar vorhanden. Selbst alte Nazis wie Edwin Erich Dwinger konnten weiterhin ihre Bücher vertreiben. Die Trivialliteratur bis hin zu millionenfach verkauften Groschenheftchen lieferte dem Publikum rechtskonservative Inhalte und Überzeugungen. Ernst Jünger mit seiner Nähe zum Hitler-Faschismus fand immerfort viele ergebene Anhänger und gilt inzwischen als Klassiker.

Die Abwesenheit der Ideen über Veränderbarkeit

Von einem linkspolitischen Engagement deutscher Autoren wie in den 1960er Jahren ist heute wenig zu sehen. Ab und an gibt es einen öffentlichen Protest oder eine kollektive Manifestation. Wer die in den letzten zwei, drei Jahrzehnten erschienenen Bücher betrachtet, kann vergleichsweise wenige politische Bezüge erkennen.

Natürlich lässt sich die soziale Wirklichkeit nicht völlig aussperren. Meist bleibt sie Kulisse oder ist ein vorgegebenes Milieu, an dem man gewiss leiden kann, doch Ideen über deren Veränderbarkeit finden kaum statt. Eine literarische Existenz wie Peter Weiss, dessen Alterswerk »Die Ästhetik des Widerstands« ein eindringliches Bekenntnis zum Linkssozialismus liefert, ist heute schwer vorstellbar. Am ehesten politisiert zeigen sich Texte über die untergegangene DDR. Der Zusammenbruch des Realsozialismus in Osteuropa hat der linken Idee erhebliche Blessuren verursacht, mit Auswirkungen auch auf die schöne Literatur.

Das rechte Lager in Deutschland hat dafür deutlich zugelegt. Die Attacken gegen Wokeness, linke Identitätspolitik und vermeintliche Cancel Culture erfolgen gleichermaßen aus bürgerlichen Milieus wie vom äußersten rechten Rand. Die AfD verfügt mit dem »Verlag Antaios« des Publizisten Götz Kubitschek über einen Multiplikator, der auch Belletristik vertreibt. Das Dresdner »BuchHaus Loschwitz« von Susanne Dagen bietet konservativen Belletristen eine wohlige Heimstatt. Einer von ihnen ist Uwe Tellkamp, der durch seinen Romanerfolg »Der Turm« ein breites Publikum erreicht. Martin Mosebach, vor dreißig Jahren noch gering geschätzt als der unverbesserliche Rechtskatholik, der er sei, wird heute vom liberalen Feuilleton gepriesen.


In dem von Martin Walser herausgegebenen Taschenbuch »Die Alternative« warnt der Aufsatz »Wohlstand ohne Konzept?« vor einer Vernachlässigung sozialer Realitäten im Spätkapitalismus. Dort heißt es: »Mit welcher Deutlichkeit und an welcher Stelle rangieren zum Beispiel die Tatsachen, dass die Krebsforschung ungenügend betrieben werden kann, dass unsere Städte verstopfen, dass die Wissenschaft von Almosen lebt, dass unsere Universitäten im Massenbetrieb verflachen, dass unsere Erziehung nicht mehr ausreicht, Wissen über Vorgänge von heute zu vermitteln, dass die Lehrer nicht genügend bezahlt werden, dass die Erziehungschancen noch immer vom Geldbeutel des Vaters abhängen… «.

Dies schrieben Inge Aicher-Scholl, die Schwester von Hans und Sophie Scholl, und ihr Mann, der Designer Ottl Aicher. Ihr Text von 1956 hat unveränderte Gültigkeit für die Situation von 2022. Ein kollektiver Protest von Literatinnen und Literaten blieb allerdings bisher aus.