Seit jeher ein Teil der Macht im Land

von Jan Jirát
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 195 - März / April 2022

#Schweiz

Schon kurz nach der Gründung des liberal geprägten Bundesstaats 1848 begann in der Schweiz ein reaktionärer Machtapparat zu wirken – angeführt von Teilen der religiösen und wirtschaftlichen Elite. Antiliberalismus, Antisozialismus und Antisemitismus bildeten den gemeinsamen Nenner. Heute spielt die Religion eine untergeordnete Rolle, von seiner Wirkungsmacht hat der reaktionäre Machtblock in der Schweiz aber nichts eingebüßt.

 

Das gern vermarktete neutrale Bild der Schweiz.
© Mark Mühlhaus / attenzione

 

In einem Schützenhaus am Stadtrand von Zürich findet seit mittlerweile 34 Jahren, stets im Januar, der symbolisch wohl wichtigste Anlass der reaktionären Schweiz statt: die »Albisgütli-Tagung«. Im Zentrum steht Jahr für Jahr die Ansprache von Christoph Blocher, dem Übervater der extrem rechten »Schweizerischen Volkspartei« (SVP). Der mittlerweile 81-jährige ehemalige Justizminister (2003-2007) hat sich zwar von sämtlichen politischen Ämtern verabschiedet, doch er bleibt programmatisch und von der Ausstrahlung her die zentrale Figur der SVP – und damit insgesamt des reaktionären Lagers der Schweiz. In seiner aktuellen Rede vom 21. Januar 2022 im Albisgütli stand wieder einmal das reaktionäre Narrativ der autarken, wehrhaften und patriarchal geprägten Eidgenossenschaft im Mittelpunkt – einer Nation, die keine Verbündeten braucht und alles von außen Kommende als Gefahr sieht. Freilich mit einer gewichtigen, bewusst verschwiegenen Ausnahme: dem Kapital. Dafür stehen hier alle Türen offen.

Startschuss

Natürlich durfte der Rückblick auf den größten innenpolitischen Erfolg seiner Partei nicht fehlen: 1992 sprach sich eine Mehrheit der Schweizer Stimmberechtigten gegen einen Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) aus. Blochers SVP setzte sich damals im Alleingang gegen alle anderen Parteien durch und stieg in der Folge endgültig – und bis heute – zur mit Abstand mächtigsten politischen Kraft im Land auf. Blocher, der bei öffentlichen Auftritten gerne seine Verachtung für demokratische Institutionen kundtut, griff in seiner Rede aber auch die aktuelle politische Debatte um die Stromversorgung auf. Weil derzeit kein Stromabkommen mit der EU besteht und keine rasche Lösung in Sicht ist, werden künftige Engpässe in der Stromversorgung befürchtet. Blochers Vorschlag: »Eine unabhängige und kostengünstige Energieversorgung« und die Einsetzung eines »Strom-Generals«, der bis zum Sommer entsprechende Lösungsvarianten ausarbeitet. Statt einer (nachhaltigen) Lösung für das Problem setzte er das altbekannte Bild der autarken und wehrhaften Eidgenossenschaft – und erntete viel Beifall.

Die Macher

Interessanterweise vereinen sich in Christoph Blochers Biografie die zwei wichtigsten historischen reaktionären Machtblöcke der Schweiz: Er wuchs im Zürcher Weinland unweit der deutschen Grenze bei Schaffhausen, in einer protestantischen Pfarrersfamilie auf. Vor diesem Hintergrund setzte er sich etwa Mitte der 1980er Jahre gegen ein modernes Eherecht ein: »Der Mann ist das Oberhaupt der Familie.« Und in den achtziger Jahren stieg Blocher durch den Kauf des Chemiekonzerns EMS in Graubünden zum Milliardär auf. Wie der Historiker Hans Ulrich Jost in seinem Standardwerk »Die reaktionäre Avantgarde. Die Geburt der neuen Rechten in der Schweiz um 1900« (1992) aufzeigte, entstammten die damaligen reaktionären Akteur*innen einer religiösen, meist katholischen, und einer wirtschaftlichen Elite. Als Beispiel nennt Jost etwa den Berner Journalisten und Politiker Ulrich Dürrenmatt, den Großvater des berühmten Schweizer Schriftstellers Friedrich Dürrenmatt. Er war als glühender Antisemit maßgeblich an der ersten Initiative beteiligt, die 1893 auf eidgenössischer Ebene zur Abstimmung kam: ein Schächtverbot, das fast ausschließlich auf die jüdische Minderheit fokussierte. Am Ende nahmen sechzig Prozent der Schweizer Bürger die antisemitisch motivierte Initiative an. Weitere Beispiele sind der katholische Intellektuelle Gonzague de Reynold, der eine ständisch statt »demokratisch« geprägte Schweiz anstrebte, oder der Winterthurer Unternehmer Eduard Sulzer-Ziegler, der seine Position sozialdarwinistisch begründete und sich als »Wikinger-Natur« bezeichnete.

Insgesamt handelte es sich um eine vielfältige Bewegung, die sich aber auf Antietatismus, Antisozialismus und Antisemitismus als gemeinsamen Nenner einigen konnte. Ein gemeinsamer historischer Referenzpunkt fehlte hingegen, einige Akteur*innen beriefen sich auf das Ancien Régime, andere hielten sich eher an kirchliche ­Hierarchien, wieder andere verfochten einen mystischen, an die bäuerliche Welt geknüpften Blut-und-Boden-Kult. In einem Punkt ist die Schweiz – verglichen mit ihren Nachbarländern ein Sonderfall: Völkische und faschistische Ideen haben in der Willensnation mit ihren vier Landessprachen und mannigfaltigen kulturellen und ethnischen Hintergründen nie wirklich verfangen. Das Konzept eines Volkskörpers ist in der Schweiz schlicht undenkbar.

Während der religiös geprägte reaktionäre Block um die Jahrhundertwende noch wirkmächtig war, ist er heute eher eine Randerscheinung – und vor allem evangelikal geprägt. Öffentlichkeitswirksam in Erscheinung treten die reaktionären Christ*innen in den letzten Jahren vor allem rund um den sogenannten »Marsch fürs Läbe«, eine jährliche Kundgebung von Abtreibungsgegner*innen, die aber immer wieder auf großen Widerstand aus linken Kreisen stößt.

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Im Zweifel für den Rassismus

Das größte politische Vorbild für Blocher und seine Partei ist aber zweifellos der reaktionäre Publizist James Schwarzenbach, der aus einer protestantischen Industriellenfamilie stammt. Dieser lancierte ausgerechnet im Revoltejahr 1968 mit seiner Kleinpartei »Nationale Aktion gegen die Überfremdung von Volk und Heimat« die »Schwarzenbach-Initiative«, die vorsah, den Anteil der ausländischen Bevölkerung in jedem einzelnen Kanton auf zehn Prozent zu beschränken. »Die Geburtenquote der Italiener liegt bedeutend höher als jene der Schweizer. Der heutige Anfangsbestand an Italienern genügt, um die Schweiz ohne einen Schuss zu erobern«, sagte Schwarzenbach damals. Als Konsequenz hätten um die 350.000 italienische »Fremdarbeiter*innen« von einem Tag auf den anderen die Schweiz verlassen müssen. Schließlich lehnten im Juni 1970 nach einem äußerst hitzigen und langen Abstimmungskampf bloß 54 Prozent der stimmberechtigten Schweizer Männer das rassistische Ansinnen ab. Frauen durften damals noch nicht abstimmen, sie erhielten das Stimm- und Wahlrecht erst 1971, also ein Jahr später. Die Schweiz sei mit der »Schwarzenbach-Initiative« zur »Vorreiterin des Rechtspopulismus« geworden, schreibt der Publizist Roger de Weck in seinem lesenswerten Buch »Die Kraft der Demokratie – Eine Antwort auf die autoritären Reaktionäre« (2020). »Mitten im Studentenaufruhr und zum ersten Mal in Europa setzte eine Partei das Thema der Zuwanderung zuoberst auf die politische Agenda«, schreibt de Weck und sieht Schwarzenbach als ideologische Inspirationsquelle der heutigen extrem rechten Parteien Europas.

Die Ausgrenzung und Diskriminierung der ausländischen Bevölkerung, die James Schwarzenbach Ende der 1960er Jahre erstmals als politisches Machtinstrument einsetzte, hat die SVP spätestens ab den 1990er Jahren erfolgreich weitergeführt und jüngst mit antimuslimischen Initiativen ergänzt. 2009 stimmte eine Mehrheit der Stimmberechtigten der »Minarettverbots-Initiative« zu und letztes Jahr der »Burkaverbots-Initiative«. Dank milliardenschwerer Mitglieder wie Blocher, Emil Frey (Autoimporteur) oder Peter Spuhler (Eisenbahnindustrieller) verfügt die SVP für ihre Kampagnen stets über volle Kassen, und anders als in Deutschland sind der privaten Parteienfinanzierung in der Schweiz kaum Grenzen mit Transparenzvorschriften gesetzt. Hinzu kommt, dass Blocher und andere SVP-nahen Kreise mehrere Zeitungen aufgekauft haben, das bekannteste Beispiel ist die »Weltwoche«.

Zwei Millionen von insgesamt acht Millionen Menschen, die in der Schweiz leben, arbeiten und Steuern zahlen, sind heute von der politischen Mitbestimmung und demokratischen Partizipation ausgeschlossen – jene zwei Millionen, die aufgrund der äußerst rigiden Einbürgerungspolitik der Gemeinden kein Schweizer Bürgerrecht besitzen. Sämtliche progressiven Vorstöße in diesem Bereich sind bisher am vehementen fremdenfeindlichen Widerstand der SVP gescheitert, wobei sie sich zuverlässig auf die Schützenhilfe der zwei größeren bürgerlichen Parteien, der FDP – ihr bekanntester Slogan heißt: »Mehr Freiheit, weniger Staat« – und der Mitte, verlassen kann.

Das nächste Ziel

Der jüngste reaktionäre Angriff der SVP hat bereits begonnen: Schon bald will sie die sogenannte »Halbierungs-Initiative« lancieren und so die Gebühren von aktuell 335 Schweizer Franken pro Jahr und Haushalt für den öffentlichen Rundfunk (SRG) halbieren. In einer stark ausgedünnten Medienlandschaft, die von sehr wenigen Konzernen dominiert wird, und einer international angesehenen »Neuen Züricher Zeitung«, die in ihren Politkommentaren sowie im Feuilleton zunehmend reaktionäre Tendenzen aufweist, wäre die Schwächung der SRG als unabhängiges und von journalistischen Qualitätsstandards geprägtes Medienhaus fatal. Die Chancen der Initiative stehen nicht schlecht, zumal sie die Unterstützung des mächtigen Gewerbeverbandes sowie von Teilen der bürgerlichen Parteien erhalten wird.