Der Meisthalbierte

von Joachim Rohloff
Magazin »der rechte rand« Ausgabe 56 - Januar / Februar 1999

#Paulskirchenrede

Martin Walser und seine Nation

Magazin der rechte rand

© A.Savin, 2008, Wikimedia Commons

In frühen Jahren wollte Martin Walser von Deutschland nichts wissen. Sein Großvater sei anno 70 zu den bayerischen Fahnen gerufen worden, und sein Vater hätte ohne den Ersten Weltkrieg wohl nie erfahren, daß er ein Deutscher war. Vorm nächsten Krieg sollte „die Biologie endlich liefern, was Geschichte und Tradition, auch bei frechster Fälschung, nicht liefern konnten, nämlich den deutschen Menschen”.

Wegen der grausamen Folgen dieses Versuchs wollte Martin Walser „am liebsten ein für allemal darauf verzichten, ein Deutscher zu sein”. Denn „um uns als Nation aufzuführen, bedurften wir offensichtlich immer irgendeines Talmis zur Blendung aller noch vorhandenen politischen Talente”, konstatierte er 1963, „heute gibt es Deutschland nicht mehr.” Walser galt als Provinzler vom Bodensee. Der kostbare Umstand, meinte er noch 1984, daß seine Muttersprache sich zum Hochdeutschen verhalte „wie der Baum zum Brett”, schütze ihn vorm Nationalismus.

Aber die Provinz ist überall, in Wasserburg wie in Berlin-Neukölln. Wo also sollte man die Nation antreffen, wenn nicht in der Provinz? Als Walser 1977 zum ersten Mal sein Verlangen nach einer Heimat kundtat, die größer sein sollte als der Bodenseekreis, vermochte er es nicht mit des Dichters Kostbarstem, der Sprache, zu begründen. Vielmehr sprach ein Mann sich aus, der einfach nicht anders konnte: „Ich spüre ein elementares Bedürfnis, nach Sachsen und Thüringen reisen zu dürfen unter ganz anderen Umständen als denen, die jetzt herrschen. Sachsen und Thüringen sind für mich weit zurück und tief hinunter hallende Namen, die ich nicht unter ‘Verlust’ buchen kann. Nietzsche ist kein Ausländer. Leipzig ist vielleicht momentan nicht unser, aber Leipzig ist mein.” Interessierte Kreise hätten schon damals einwerfen können. Kant sei auch kein Ausländer, doch Königsberg hallte vorerst in Walser nicht. 1980 reiste er, erstmals unter anderen Umständen, tief nach Frankreich hinunter und fand dort einen Gedanken, der inzwischen aus keinem deutschen Haushalt mehr wegzudenken ist: „Je mehr das Fremde etwas Französisches war, etwas Nationales also, um so beeindruckender war es. Wir haben in Frankreich gelernt – und sind dankbar für die Lektion: Etwas Nationales ist schön.”

1984 erreichte Walsers Elementarbedürfnis nach Thüringen eine neue Qualität: „Das Selbstbestimmungsrecht, das von allen Menschenrechten jetzt überall für das höchste gehalten wird – die Deutschen sollen es nicht haben.” Aus gutem Grund, das wußte er wohl; trotzdem schmiedete er seine Argumente noch aus dem dümmsten Vergleich: „Wenn die Deutschen Polen wären, dann müßte man sie seriös betrauern, dann wäre das ja eine polnische Teilung.” Wer auf den besänftigenden Wohlstand zumindest der Westdeutschen baute oder auf einen Verfassungspatriotismus gar, kannte seine Landsleute schlecht: „Wir täuschen die Welt. Wir tun so, als sei die deutsche Seele mit dem Psychopharmakon Marktwirtschaft abzufinden. (…) Die deutsche Seele, ob sie schwarz oder rot heuchelt, ist unglücklich.” Ein Böswilliger könnte daraus schließen, der deutschen Seele sei das Selbstbestimmungsrecht eben deshalb entzogen worden, weil sie glücklich erst wird, wenn sie braun heuchelt; allerdings heuchelt sie dann ja nicht mehr.

Als der fünfzigste Jahrestag des Kriegsendes begangen werden mußte und die Frage ventiliert wurde, ob Sieger und Besiegte ihn gemeinsam begehen konnten, machte Walser einen sarkastischen Vorschlag. „Die ideale Lösung: die deutsche Bevölkerung, Ost und West, verreist am 8. Mai an die Strände und überläßt das Land den Siegern für ihre Feiern.” Und er nahm das Jubiläum zum Anlaß für eine historische Lektion: „Mich hat Geschichte, als ich sie studierte, auch nicht interessiert. Ich wachte erst auf, als ich sah, wie deutsche Geschichte täglich für Politik der Sack-und-Asche-Phrase geopfert wurde. Jetzt fühlt es sich an wie eine andauernd versäumte Pflicht, daß ich, alles andere als ein Historiker, nicht sage, wie mir diese Geschichte vorkommt. Kurz so: Unter den europäischen Konkurrenznationen startet Deutschland als letzte, wird erste, wird aber von einem Kaiser und einer Kaste regiert, die, ohne Bismarck, nicht mehr fähig sind, den deutschen Anspruch friedlich zu vermitteln. Kaiser und Kaste betreiben den Militarismus als Politik wie ihre europäischen Vettern auch; die notwendige Folge davon, der Krieg. Der ist also keine rein deutsche Veranstaltung, Versailles ist dann kein Friedensvertrag. Hitler ist ganz und gar eine Ausgeburt von Versailles. Die Behandlung Deutschlands durch die Siegermächte von 1918 bis 33 produziert in den Deutschen die Stimmung der in die Ecke getriebenen Ratte. (…) Der deutsche Rassismus hätte sich ohne die Minderwertigkeit, zu der die Sieger Deutschland verurteilten, nicht zum Wahn gesteigert. So getreten, richtet man sich über jedes Maß auf. Der zweite Krieg ist, im Gegensatz zum ersten, eine rein deutsche Veranstaltung. Wenn aber Hitlerdeutschland nicht durch Germanenkult, sondern durch Versaillesdiktat entstand, dann ist der zweite Krieg eine Folge des ersten. Aber der Sieger reagierte wieder nicht viel vernünftiger, als der zu Züchtigende war: Deutschland wird geteilt. Und das soll jetzt gefeiert werden.” Nur ein winziger Einwand: Was hatten die Juden mit alldem zu schaffen?

1986 verfiel Walser auf die absonderliche Idee, seit Jalta und Potsdam stifte Auschwitz die deutsche Nation. „Wie soll jemand in seinem Kopf mit Auschwitz umgehen, wenn er nicht die gesamte Nation weiterhin in sich existent fühlt?” Deutsche Schuld impliziert Deutschland, in der Tat: aus ihr aber Walsers Recht auf Thüringen abzuleiten, das nennt man wohl eine gelungene dialektische Volte. Im folgenden Jahr fühlte Walser, was sich lange angekündigt hatte: Stuttgart-Leipzig. Es habe sich in ihm „so ein Stuttgart-Leipzig-Gefühl entwickelt”. Und sein Leipzig tat ihm weh. „Vielleicht könnte man das einen Phantom- Schmerz nennen. Es tun einem die Glieder weh, die man gar nicht mehr hat.” Zwar zählte keine Stadt der DDR jemals zu Walsers Gliedern, doch seine Romanfigur Wolf sprach aus, was die Westdeutschen litten: „Alle leuchteten vor Gelungenheit, aber keiner schien zufrieden zu sein. Sie wissen nicht, was ihnen Martin Walser fehlt. Und keiner würde, fragte man ihn, sagen, ihm fehle seine Leipziger Hälfte, sein Dresdener Teil, seine mecklenburgische Erstreckung, seine thüringische Tiefe.” Wolf hätte es laut hinausschreien sollen, „aber er traute sich nicht. Aber er wunderte sich, warum es keiner ausrief: Wir sind Halbierte. Und er am meisten.” Am allermeisten halbiert war natürlich der Autor dieses literarischen Kleinods selbst.

„Wenn die Geschichte gutgegangen wäre”, redete Walser 1988 in den Münchner Kammerspielen, „würde ich heute abend in Leipzig ins Theater gehen und morgen wäre ich in Dresden”. Weil aber dazumal die Geschichte noch nicht gutgegangen war, geriet Walser „in einen Geschichtswirbel, der mich dreht und hinunterschlingt”, wann immer ihm Königsberg einfiel. Die Rede wurde mit einer Einladung zur CSU ins Wildbad Kreuth beantwortet. Ein Jahr später erhielt Walser den Großen Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste und dreißigtausend Mark.

Endlich geschah „das schönste Politische, was ich in meinem Leben erfahren habe”. Seitdem freut Walser sich. „Ich kann mich immer noch jeden Tag darüber freuen, daß das gelungen ist. Ich bin neulich mit meiner Tochter Eisenbahn gefahren, und da gibt es so Zugbegleiter, und der Zug fuhr weiter von Konstanz bis nach Berlin, und ich habe gesagt, schau mal, der Zug hält später hier in Erfurt, in Weimar, in Apolda – da habe ich gefragt, weißt Du, wo Apolda liegt? Und Luckenwalde? Schau, und dann kommt er nach Berlin. Und das hat mir gut getan, daß man von Konstanzüber Apolda nach Berlin fahren kann. Und schau, manch mal kommt er nach Leipzig, der Walser-Martin, und „wenn ich nach Leipzig komme, bin ich einfach froh.”

Das häßliche Politische an der deutschen Einigung stimmt Walser eher unfroh, doch er hat Verständnis. „Wir erleben zur Zeit, wie 15- bis 25-jährige ihre Erfahrungen verarbeiten'”. Die „Erfahrung” war der deutschen Nachkriegsliteratur teuer, man fragt sich deshalb, welcherart „Erfahrungen” sich dadurch verarbeiten lassen, daß man Asylbewerberheime anzündet. Die „unvorhersehbaren Zusammenbrüche der ostdeutschen Wirtschaften”, antwortet Walser, hätten „eine Krise erzeugt, die die 15- bis 25jährigen härter trifft als alle anderen. Nicht die deutsche Einigung ist die Produzentin dieser Krise, sondern doch wohl der Totalbankrott des Staatssozialismus. Ohne die ins Wohlstandsgebiet hereinschwappende Not gäbe es keine Radikalisierung, die sich in diesen grauenvollen Brandstiftungen austobt.”

Zweitens glaubt Walser, „die Entwicklung rechtsextremer Gruppierungen sei eine Antwort auf die Vernachlässigung des Nationalen durch uns alle”. Denn unsere „Skinheadbuben” seien halt „Kinder, die in einer Gesellschaft aufwuchsen, in der alles Nationale ausgeklammert oder rückhaltlos kritisch behandelt wurde. (…) Da ist eine ganze Gruppe Jugendlicher ins Asoziale geraten, nur weil ihr Diskurs (der nach rechts tendierende) überhaupt nicht zugelassen wurde”. Nun aber hat die fünfzigjährige deutsche „Selbstunterdrückung” ein Ende, und es stellt sich heraus: die Nation überlebte. „Im Samisdat.”

Drittens kommt Walser ganz unvermittelt, aber im selben Zusammenhang auf die Ausländer: „Vor mehr als zehn Jahren habe ich einen wahrhaften Spitzenmanager der deutschen Wirtschaft gefragt, warum man so stürmisch vorgegangen sei bei der Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte. (…) Wir alle haben von diesen bei uns Einquartierten profitiert. Wir haben nicht protestiert, solange wir davon profitierten. Jetzt, in der Krise, weisen die schlimmsten Vorfälle auf die Ursachen zurück, die wir jahrelang goutierten.” Man weiß zwar nicht, wogegen wir hätten protestieren sollen – ob gegen die Ausländer oder gegen ihre Anwerbung oder gegen das stürmische Vorgehen bei ihrer Anwerbung-, jetzt jedenfalls, und das ist ungerecht, „machen wir Rechtsradikale aus Jugendlichen, die ihren Protest so kraß wie möglich kostümieren”.

Walser wurde ob solcher Deutungsversuche angegriffen. Und weil er an der Öffentlichkeit verzweifelte, beschloß er, keine Interviews mehr zu geben. Fortan gab er nur noch letzte Interviews. Anläßlich seines siebzigsten Geburtstags ließ er sich wiederum fragen, auch nach der damals umstrittenen Wehrmachtsausstellung. “Ich habe die Ausstellung nicht gesehen. ‘Verbrechen in der deutschen Wehrmacht’, also, daß man den ganzen Verein so generell kriminalisiert, ich weiß nicht… ‘Die Wehrmacht’: das geht mir total gegen den Strich. Es gibt einen Satz, den ich damals zum Historikerstreit gehört habe, der mir auch nicht einleuchtet. Da wurde die Wehrmacht angegriffen, weil durch ihren Einsatz der Betrieb von Auschwitz weiterhin möglich geworden sei. Verstehen Sie, diesen Zusammenhang herzustellen. Die Soldaten, die sich haben erschießen lassen, die haben doch gar nicht gewußt, daß es Auschwitz gibt, die haben doch nicht das Gefühl gehabt, daß sie Auschwitz verteidigen sollen.” Gewiß nicht, eher hatten sie das Stuttgart-Moskau- Gefühl. „Deshalb darf man nicht nachträglich sagen: die haben Auschwitz ermöglicht!”

Seitdem er sich zum Deutschtum bekennt, fühlt Walser sich mißverstanden. „Wenn ein inländischer Verächter aus S. mich ‘Revanchist’ nennt und der feine feuilletonanierende Herr in H. sagt ‘Nazi’, dann gehe ich in die Knie.” Er traut seinem „Geschichtsgefühl” mehr als allen Meinungen. Eine Meinung tauge nur dazu, eine Gegenmeinung zu provozieren. Wenn er geschwiegen hätte, so sinniert er, wären seine Gegner vielleicht angeln gegangen oder ins Kino; da er nicht an sich halten konnte, formulierten sie ihren Widerspruch. Wer aber, als Walser seiner Sehnsucht zum ersten Mal den Namen Deutschlands gab, vermutet hätte, diesem Gefühl müsse sich früher oder später die Meinung zugesellen, daß die Wehrmacht an Auschwitz unschuldig war, dafür aber die vielen Ausländer schuld sind am Neonazismus, der hätte ihn wohl von allem Anfang an durchschau.

Dieser Artikel erschien zuerst in der Zeitschrift
konkret 10/98. Wir danken dem Autor
für die Genehmigung zum Wiederabdruck.