Ein Blumenstrauß an Möglichkeiten

von Bernard Schmid
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 195 - März / April 2022

#Frankreich

antifa Magazin der rechte rand

 

Im Dezember 2016 verkündete der gescheiterte sozialdemokratische Staatschef François Hollande seinen Verzicht auf eine erneute Bewerbung. Zuvor hatten im November desselben Jahres fast viereinhalb Millionen Personen an der »primaire de droite« (»Vorwahl der Rechten«) teilgenommen, der für Sympathisierende und nicht nur für Mitglieder offen stehenden Urabstimmung über die Präsidentschaftskandidatur der Partei »Les Républicains« (»Die Republikaner«, LR), des Pendants der deutschen CDU/CSU. Als Sieger aus dieser »primaire«, mit zwei Dritteln der Stimmen in der Stichwahlrunde am 27. November jenes Jahres, ging damals der frühere Premierminister, Rechtskatholik, Wirtschaftsliberale und zugleich von Wladimir Putin begeisterte François Fillon hervor. Sein Name, es schien festzustehen, würde der des künftigen Präsidenten sein. Doch dann folgten ab Ende Januar 2017 Presseenthüllungen über sein Finanz- und Geschäftsgebaren. Jahrzehntelang hatte Fillon das französische Parlament um Millionenbeträge betrogen. Aus dem vorab feststehende Wahlsieger wurde eine lahme Ente. Fillon lehnte Forderungen aus den eigenen Reihen nach Rücktritt von der Kandidatur ab und zog seine Wahlkampagne durch, gestützt vor allem durch ein Netzwerk, das zuvor von 2012 bis 2014 gegen die im Mai 2013 beschlossene Öffnung der Ehe für homosexuelle Paare mit mehreren Großdemonstrationen mobil machte. Aber statt Fillon, er erhielt mit 20,1 Prozent trotz allem ein relativ stattliches Ergebnis, zog der junge Wirtschaftsliberale Emmanuel Macron als Gewinner in den Elyséepalast ein. Macron hatte zuvor einen Wahlkampf betrieben, der, auf deutsche Verhältnisse übertragen, eher Inhalte der FDP und der Grünen zusammenmixte; einmal an die Staatsspitze gekommen, verfolgte er eine Politik, die im deutschen Kontext auf einer Mixtur aus FDP und CDU beruhen würde, was wiederum den Spielraum für die bürgerliche Rechte in Gestalt der Partei LR weiter einengte und einen Teil ihres Spitzenpersonals zu Macron herüberzog.

 

 

Wahl 2022


Aus der Vorwahl der 140.000 Mitglieder im Dezember 2021 bei den »Les Républicains« ging die jetzige Regionalpräsidentin der Hauptstadtregion Ile-de-France und frühere Ministerin unter dem ehemaligen Präsidenten Nicolas Sarkozy (2007 bis 2021) Valérie Pécresse, hervor. Ganz kurzfristig schien die konservative Präsidentschaftskandidatin durch die Dynamik dieser Vorwahl nach oben gespült zu werden: Vorwahlumfragen schienen ihr im Dezember 2021 zeitweilig einen Einzug in die zweite Runde der Präsidentschaftswahl vom kommenden April gegen Amtsinhaber Macron, ja einen Sieg in der Stichwahl zu versprechen. Diese Hochphase hielt ein paar kurze Wochen hindurch an.
Dann erfolgte der Absturz. Anfang März dieses Jahres stand Pécresse nur noch auf dem fünften Platz unter allen Präsidentschaftskandidatinnen und -kandidaten, hinter Amtsinhaber Macron, den beiden Rechtsradikalen Marine Le Pen und Eric Zemmour sowie erstmals auch hinter dem Linkssozialdemokraten und Linkspopulisten Jean-Luc Mélenchon. Die Konservative vereinigte dabei gut 11 Prozent der Stimmabsichten hinter sich, und damit deutlich weniger als der erheblich stärker polarisierende François Fillon im gleichen Zeitraum fünf Jahre zuvor.

Stolperfallen


Drei Faktoren wirkten dabei zu ihren Ungunsten: Erstens die teilweise Beschlagnahmung des Mitte-Rechts-Spektrums durch Emmanuel Macron, dessen politische Gefolgschaft aus dem rechtssozialdemokratischen und dem moderat konservativen Spektrum eine neue politische Kraft im Zentrum aus Versatzstücken früher dominierender Parteien aufzubauen versucht. Zweitens ihre eigene Persönlichkeit: Pécresse, die auf eine allzu glatte und steile Karriere zurückblickt, ist keine besonders gute Rednerin – ihr Versuch, menschelnd und nahbar rüberzukommen ist im Februar schiefgegangen.
Erfolgreicher dabei war eine andere Kandidatin: Marine Le Pen beendete ihre Veranstaltung in Reims am 5. Februar 2022 mit zehnminütigen, sehr persönlichen Ausführungen, in denen sie auch auf ihre Verletzlichkeiten einging. Dies war Teil ihrer Humanisierungsoffensive, die darauf antwortete, dass seit Herbstanfang 2021 ein ideologisch radikaler auftretender Kandidat, Eric Zemmour, ihr Konkurrenz zu machen anfing. Marine Le Pen reagierte darauf mit dem Bemühen um ein betont geschliffenes und humanes Image, um sich von ihm abzusetzen. Ihr Auftritt hing aber nicht nur damit zusammen. Der »Verrat« ihrer Nichte, der früheren Abgeordneten Marion Maréchal, die jetzt Zemmour unterstützt, hatte sie tatsächlich auch persönlich getroffen. Zusätzlich konnte Marine Le Pen den Bombenanschlag auf das Domizil ihres prominenten Vaters, Jean-Marie Le Pen, im November 1976 publikumswirksam in die Waagschale werfen. Das Bemühen von Valérie Pécresse bei ihrer eigenen Wahlveranstaltung acht Tage später – am 13. Februar in der Pariser Konzerthalle Zénith – diese persönliche Einlage von Marine Le Pen nachzuahmen, ging gründlich schief. Da war einfach nichts tragisch Wirkendes zu erzählen. Ihr Versuch wirkte schlicht unehrlich. Dass Pécresse überdies ihre Rede vom Blatt las, kam auch nicht sonderlich gut an.

 


Drittens wirkt der Krieg zwischen Russland und der Ukraine gegen die Kandidatur von Pécresse. Zwar griff dieser internationale kriegerische Konflikt die Kandidaturen von Le Pen und Zemmour potenziell noch stärker an – beide versuchen nun bemüht, ihre frühere erklärte Bewunderung für Wladimir Putin vergessen zu machen, im Fall von Marine Le Pen auch frühere Finanzflüsse aus Russland – doch auch Pécresse muss sich Sorgen machen. Nicht nur aufgrund der Putinophilie eines Segments innerhalb ihrer Partei rund um den früheren Kandidaten Fillon. Generell sorgt die Dramatik der internationalen Krise dafür, dass ein Gutteil der öffentlichen Meinung – auch viele Konservative – nach Sicherheit und Orientierung sucht und diese eher beim Amtsinhaber verortet. Selbst dessen Vor-Vorgänger im Amt, Nicolas Sarkozy, zögert mit einer Unterstützung für die Kandidatin Pécresse – dafür traf er Macron.

Präferenzen


Eine wichtige Frage wird lauten, wohin es größere Teile der verbleibenden Erbmasse von LR ziehen könnte, falls ihre Kandidatur erneut scheitert. Nicht auszuschließen ist, dass sich dann die bürgerlich-konservative Rechte spaltet, in einen Teil, den es zu Macron hin bewegt, und in den Flügel, der klar in Richtung extreme Rechte abdriftet. Dort steht Eric Zemmour bereit, um Bündnisangebote zu unterbreiten. Im Unterschied zu Marine Le Pen und dem Führungspersonal des »Rassemblement National« (»Nationale Sammlung«, RN), die in konservativen Kreisen – insbesondere aufgrund ihrer wirtschaftspolitischen »Verantwortungslosigkeit« – als weitgehend bündnisunfähig gelten. Ausschlaggebend dafür ist die starke soziale Demagogie gegen den beim LR verbreiteten Wirtschaftsliberalismus. Zemmour erklärte von Anfang an, er wolle die »künstliche« Spaltung überwinden und den RN – freilich ohne seinen derzeitigen Führungskurs – einerseits und die Konservativen andererseits zu einem Block zusammenschweißen, um die politische Rechte wieder mehrheitsfähig werden zu lassen.


Zwar ist es Zemmour gelungen, politisches Personal sowohl vom RN als auch von LR in seine Kampagnen herüberzuziehen. Allerdings konnte er bis jetzt den derzeit größten Widerspruch zwischen beiden Rechtskräften – RN und Konservative – nicht auflösen, das heißt ihre jedenfalls auf verbaler Ebene stark auseinander strebenden Positionierungen bei der Wirtschafts- und Sozialpolitik zusammenführen. Es ist fraglich, ob er den wirtschaftsliberalen und elitären Diskurs von erheblichen Teilen der konservativ-wirtschaftsliberalen Rechten bei LR mit dem sozial-nationalistisch argumentierenden Teil des RN versöhnen kann.
An Teilen von LR dagegen würde ein Bündnisversuch nicht scheitern. Indikator dafür ist das Stichwahlergebnis der Vorwahl vom Dezember 2021. Auf dem zweiten Platz hinter Pécresse mit 60,5 Prozent landete mit knapp 40 Prozent der Abgeordnete Eric Ciotti aus Nizza. Ciotti, ein Duzfreund von Zemmour, erklärte Anfang Oktober 2021 – ungefragt und ohne konkreten Anlass –, im Falle einer Stichwahlrunde um die Präsidentschaft zwischen Macron und Zemmour würde er für den Rechtsradikalen stimmen, und bezeichnete wiederholt ganz unumwunden Rechtsstaatlichkeit als sträflichen Luxus im erforderlichen umfassenden »Krieg gegen den Islamismus«. Der Einfluss von Ciotti ist vor allem in Süd- und Südostfrankreich erheblich. Bei Pécresse spiegelte er sich darin wider, dass sie in ihrer Pariser Rede vom 13. Februar 2022 einen Passus zum »großen Austausch (der Bevölkerung)« dem »grand remplacement« einbaute, wenn auch mit dem Zusatz versehen, dieser sei nicht unvermeidlich, da man ihm durch entschlossenes politisches Handeln gegensteuern könne. Ciotti und Zemmour benutzen den von dem Schriftsteller Renaud Camus stammenden Begriff als angebliche Zustandsbeschreibung im Hinblick auf Vorgänge rund um die Einwanderung. Marine Le Pen lehnte ihn dagegen in einem Interview von 2014 als zu verschwörungstheoretisch geprägt ab, da der Begriff suggeriere, Eliten wollten bewusst »das Volk austauschen«.

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Wegbereiter


Diese Konstellation zeugt von einer erheblichen ideologischen Radikalisierung bei Teilen der französischen Konservativen – ein Prozess, der vor nunmehr gut fünfzehn Jahren eingeleitet wurde. Unter dem Einfluss seines damaligen Beraters Patrick Buisson, welcher heute Eric Zemmour berät, erhöhte der damalige Präsident Sarkozy über mehrere Jahre hinweg die Dosis an Sprüchen, Symbolen und Ideen, die er erkennbar vom Front National (»Nationale Front«, FN) übernommen hatte. Buisson drängte 2020/21 letztendlich Zemmour zur Kandidatur. Auch wenn Sarkozy dabei eher aus Strategie und Machttrieb, denn aus tiefen ideologischen Überzeugungen heraus handelte, trug er maßgeblich dazu bei, eine Saat auszustreuen, die noch Früchte tragen sollte. Die Kandidatur seines früheren Premierministers Fillon löste 2017 einen weiteren Radikalisierungsschub aus, da er viele Kader der oben zitierten Anti-Homosexuellenehe-Vereinigung »Sens commun« (»Gemeinsinn«) in seinen Wahlkampfstab aufnahm. »Sens commun« hat sich inzwischen in »Mouvement conservateur« (»konservative Bewegung«) umbenannt und unterstützt offiziell die Kandidatur von Zemmour.


Ideologisch wäre bei einem nicht geringen Teil der französischen Konservativen die Situation für eine Rechts-Rechts-Kooperation gereift. Ungelöst bleibt dabei jedoch bislang die strategisch bedeutende Frage nach dem Verhältnis zur Wirtschaftspolitik: Primat der Ideologie oder Unterordnung unter die Imperative des Kapitals, die eben auch für den Warenverkehr offene Grenzen und eine Akzeptanz der EU-Integration beinhalten können? Vorzug für eine soziale Demagogie, die der (extremen) Rechten Zutritt zu den sozialen Unterklassen verschafft – Ciotti etwa graust es vor dieser Vorstellung, anders als Le Pen – oder für »Augenmaß« im Sinne des Kapitals? Sollten die Wege getrennt bleiben, gilt es als ausgemacht, dass Macron weiterhin Frankreichs Präsident bleibt.