Porajmos
von Stephan Anpalagan
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 185 - Juli / August 2020
#Sprachschatz
Die allermeisten Menschen in Deutschland werden dieses Wort nicht kennen. Kaum jemand weiß, was dieser Begriff mit dem »Abschnitt B II e« zu tun hat oder warum Menschen in eben jenem Abschnitt als »Z« gekennzeichnet wurden. Die Tatsache, dass wir im Jahr 2020 noch immer den Porajmos nicht kennen, ihn nicht einordnen oder unseren Kindern erklären können, ist eine Tragödie, eine bodenlose Frechheit. Und doch ist eben jenes gesamtgesellschaftliche Versagen auch ein glasklares Spiegelbild für unseren Umgang mit den Opfern, deren Täter*innen wir sind. Deren Täter*innen wir waren. Deren Familien unsere Familien auf dem Gewissen haben.
Der Porajmos bezeichnet den Versuch der vollständigen Vernichtung aller europäischen Sinti und Roma. Der »Abschnitt B II e« ist jener Abschnitt im KZ Auschwitz-Birkenau, der als »Zigeunerlager« errichtet und zur Ermordung der Sinti und Roma in Betrieb genommen wurde. Das »Z« stand für die Zugehörigkeit zu dieser einen Volksgruppe, die im »Dritten Reich« den Tod und in der Bundesrepublik Deutschland noch immer Ungerechtigkeit, Rassismus und Diskriminierung bedeutet, nämlich zu den »Zigeunern«. Der Zentralrat Deutscher Sinti & Roma schreibt über dieses Wort: »›Zigeuner‹ ist eine von Klischees überlagerte Fremdbezeichnung der Mehrheitsgesellschaft, die von den meisten Angehörigen der Minderheit als diskriminierend abgelehnt wird. Die Bezeichnung ›Zigeuner‹ ist untrennbar verbunden mit rassistischen Zuschreibungen, die sich, über Jahrhunderte reproduziert, zu einem geschlossenen und aggressiven Feindbild verdichtet haben, das tief im kollektiven Bewusstsein verwurzelt ist.«
Fußballfans besingen die gegnerische Mannschaft als »Zigeunerpack«, Staatsanwaltschaften verschicken offizielle Briefe an Personen, die sie im Adressfeld als »Zigeuner« bezeichnen – und dann ist da noch dieses Schnitzel. Als das »Forum Sinti und Roma« mehrere Lebensmittelhersteller darum bat, ihre Saucen, die sie als »Zigeunersauce« verkauften, umzubenennen, weil dieser Begriff rassistisch und diskriminierend sei, antworteten die Hersteller, »dass sie jede Form von Diskriminierung ablehnten, eine Umbenennung aufgrund der langen Tradition aber nicht in Frage käme«. Die lange Tradition der »Zigeunersauce«. Wer kennt sie nicht?
Das »Zigeunerschnitzel« steht mittlerweile gar für einen offenen Kulturkampf zwischen jenen, die nicht fassen können, dass wir noch immer eine zutiefst rassistische Sprache im öffentlichen Raum kultivieren und jenen, die sich gegen den Verlust ihrer jahrzehntelangen Deutungshoheit dadurch wehren, dass sie wirre Gedanken in wütende Worte gießen und Wutbücher an Wutbürger verkaufen. So lautet der Titel eines Buchs des ehemaligen ZDF-Moderators Peter Hahne: »Rettet das Zigeuner-Schnitzel! Empörung gegen den täglichen Schwachsinn. Werte, die wichtig sind.« Die Rettung des »Zigeuner-Schnitzels« als ein »Wert, der wichtig ist«. Wer kennt das nicht?
Deutsche Kolonialgeschichte? Unbekannt.
Doch nicht nur Sinti und Roma sind betroffen, auch Schwarze und überhaupt People of Color, die Zeit ihres Lebens Diskriminierung erfahren haben und in der Bundesrepublik Deutschland als Bürger*innen zweiter Klasse behandelt werden. Ebenso wie der Porajmos ist vielen Deutschen auch die deutsche Kolonialgeschichte unbekannt. Wer in Deutschland weiß von dem Maji-Maji-Aufstand, dem Völkermord an den Herero und Nama, der Sklaverei und den hierzulande äußerst beliebten »Völkerschauen«, wo Menschen wie Tiere in Käfigen ausgestellt wurden. Wer weiß von der Tradition der Entmenschlichung Schwarzer Männer, Frauen und Kinder, die im Nationalsozialismus fortgeführt wurde, wo Schwarze entrechtet, ermordet und zwangssterilisiert wurden, um der »zwangsläufig eintretenden Bastardisierung« entgegenzutreten.
Das alles wiederum ist nur ein Ausschnitt aus der kolonialen Unterdrückung Schwarzer Menschen – ein kleiner Teil einer Jahrhunderte währenden Erniedrigung und Entwürdigung als »Neger« und »Mohren». Und doch finden sich beide Worte selbstverständlich im öffentlichen Sprachgebrauch wieder. Als Eigennamen oder zur Beschreibung einer zuckerigen Schokopampe. Auf den rassistischen Begriff hinter dem Namen »Mohren-Apotheke« angesprochen, meinte ihr Leiter, er finde die Diskussion um den »vermeintlich rassistischen Namen« unnötig: »Ich finde, es gibt in unserer Gesellschaft größere Probleme, über die man diskutieren sollte.« Die Umbenennung rassistischer Orts- und Eigennamen scheitert also an Tradition und Relevanz. Wir hätten doch größere Probleme, über die wir diskutieren sollten.
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»Welche denn?«, möchte man fragen angesichts wiederholter und endloser rassistischer Übergriffe. Angesichts der Tatsache, dass ein veritabler Teil unserer Gesellschaft ihre gefestigte rechtsextreme Einstellung mittlerweile offen und öffentlich zur Schau stellt. Angesichts der Tatsache, dass eine im Kern faschistische Partei in allen Parlamenten dieses Landes sitzt und sich fleißig um die Abschaffung der Demokratie bemüht.
Den Ton und die gesellschaftliche Reife im öffentlichen Umgang mit dem Rassismus in unserer Mitte erkennt man auch daran, dass der MDR im Jahr 2018 eine Sendung ausstrahlen wollte, die folgenden Titel trug: »Darf man heute noch ›Neger‹ sagen? Warum ist politische Korrektheit zur Kampfzone geworden?« Die Vermeidung des N-Wortes als »politisch korrekte Kampfzone«. Diskutieren sollten vier weiße Menschen, darunter Peter »Zigeuner-Schnitzel« Hahne und die ehemalige Vorsitzende der AfD, Frauke Petry. Ein Format, finanziert durch die Rundfunkgebühren, produziert vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Irgendjemand war ernsthaft der Meinung, das sei eine gute Idee.
Der eigenen Geschichte stellen
Wie unmenschlich mutet unser Umgang mit Schwarzen Bürger*innen an, wenn diese Tag für Tag an der U-Bahnhaltestelle »Mohrenstraße« aussteigen oder im Supermarkt an »Negerküssen« vorbeilaufen müssen, wo sie jedes Mal an die Sklaverei erinnert werden, an die eigenen Ururgroßeltern, die mit einer Nilpferdpeitsche halbtot geschlagen wurden und deren Kindern man Hände und Füße abgehackt hat, weil sie ihr Tagessoll an Kautschuk nicht eingesammelt hatten.
Wie hirnverbrannt muss eine gesamte Gesellschaft sein, wenn man Überlebenden und Angehörigen der in Auschwitz Ermordeten sagt, dass man den rassistisch-faschistischen Begriff des »Zigeuners« nicht von der Speisekarte tilgen könne, weil das gottverdammte Paprikaschnitzel eine lange und nicht mehr zu ändernde Tradition darstelle. Alte weiße Männer, die in den vergangenen 1.000 Jahren in keiner Epoche hätten leben können, in der nicht wiederum alte weiße Männer die Macht, den Wohlstand und das Sagen hatten, möchten nicht verstehen, dass Menschen, die sich tagtäglich als »Kümmeltürken«, »Ziegenficker«, »Kanaken», »Zigeuner« und »Neger« bezeichnen lassen müssen, es nun endgültig leid sind, ausgerechnet in einer »Mohrenapotheke« ihre Medikamente zu kaufen.
Und nein, die Tilgung dieser Namen, dieser Begriffe, dieser Statuen bedeutet nicht, dass wir dadurch unsere unrühmliche Vergangenheit ungeschehen machen, dass wir irgendetwas an unserer Geschichte ändern würden. Es bedeutet erst einmal nur, dass wir nicht mit stolzgeschwellter Brust unseren öffentlichen Raum nach Rassisten, Faschisten und Antisemiten benennen. Es geht auch darum, uns mit unserer eigenen Geschichte auseinanderzusetzen, diese einzuordnen und von ihr zu lernen. Indem wir über sie reden, sie lehren und das, was geschehen ist, zum Anlass nehmen, um voller Demut um Vergebung zu bitten.
Nach dem Ende des Holocausts, dem Ende des »Dritten Reiches«, dem Ende der Terrorherrschaft der Nationalsozialisten haben wir genau das getan. Oder besser gesagt: Wir wurden genau dazu gezwungen. An keiner offiziellen Stelle, auf keinem öffentlichen Gebäude, auf keinem Platz und an keiner Straße steht mehr der Name Adolf Hitler. Nirgendwo ist im öffentlichen Raum ein Hakenkreuz denkbar. Selbst wer das »Horst-Wessel-Lied« singt, wird strafrechtlich verfolgt. Doch dabei blieb es nicht, es wurden Stolpersteine verlegt, ein Mahnmal gebaut, ein Antisemitismusbeauftragter eingesetzt. Der Zentralrat der Juden in Deutschland ist anerkannter Gesprächspartner in Politik und Gesellschaft, wir haben die osteuropäischen Jüdinnen und Juden eingeladen nach Deutschland zu kommen und den Staat Israel, alle Jüdinnen und Juden auf der Welt auf Knien um Vergebung gebeten und haben Versöhnung und Wiedergutmachung geschworen.
Das alles hat weh getan. Das alles musste weh tun. Und dennoch ist nicht alles gut. Der Antisemitismus grassiert in Deutschland, jeder fünfte Mensch hierzulande erklärt unverhohlen, er wolle keine Jüdin, keinen Juden in der Familie haben, das Blutbad in einer jüdischen Synagoge wurde nicht von der Polizei, sondern von einer Holztür verhindert und die Geschichte des »Dritten Reiches« und des Holocausts wird auch von Geschichtslehrern wie Björn Höcke unterrichtet. Und doch haben wir nicht aufgehört mit dem Gedenken, haben versucht wenigstens den sichtbaren Antisemitismus aus dem öffentlichen Raum zu tilgen. Warum soll das nicht auch im Falle des Antiziganismus und des Rassismus möglich sein? Warum müssen ausgerechnet die Insignien der Menschenvernichtung und der Sklaverei Aushängeschilder in der deutschen Öffentlichkeit sein? Wenn wir auch nur einen Bruchteil des Schmerzes lindern können, den wir durch unsere wiederholten Völkermorde zugefügt haben, dann sollten wir jede Statue zu Feinstaub verarbeiten und jedes Straßenschild öffentlich zermalmen, das diesen Menschenhass in stolzer Erinnerung hält.
Und dann tilgen wir schnellstmöglich das N-Wort, das Z-Wort und all die anderen Beleidigungen aus unserem Sprachschatz, während wir gleichzeitig beginnen, die Kolonialgeschichte an unseren Schulen zu lehren und über den Porajmos zu reden. Damit wenigstens unsere Kinder eines Tages wissen werden, was dieses Wort bedeutet.