Individualistische Bewegung

von Andreas Speit
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 194 - Januar | Februar 2022

#kleinbürgerlich

Antifa Magazin der rechte rand
Mit der Kindertrommel in Schwarz Rot Gold auf der Straße. © Mark Mühlhaus / attenzione

Die Proteste gegen die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie halten an. In verschiedenen Städten der Bundesrepublik ist die äußert heterogene Bewegung seit Dezember 2021 wieder auf den Straßen. Die selbsternannten Freiheits- und Grundrechteverteidigenden haben eine dynamische Aktivität entwickelt, die nicht ausläuft, sondern sich ausdehnt. Der friedliche Protest mit Demonstrationen und Meditationen geht mit militanten Aktionen wie der Erschießung eines Mitarbeiters einer Tankstelle, Übergriffen auf Gastronomieangestellte und Polizei und Bedrohung von Ärzt*innen und Pfleger*innen einher. Die Proteste offenbaren erneut, wie divers die Protestierenden sind und wie unterschiedlich ihr Agieren ist. Die Affinitäten liegen tiefer, könnten auf Grundvorstellungen beruhen.

In Hamburg fand am 8. Januar eine der größten Demonstrationen seit Wochen statt. »Der Freiheitsvirus hat Hamburg erreicht«, dröhnte es aus dem Lautsprecherwagen. Ein Slogan aus der »Querdenker«-Szene um Michael Ballweg. Die Bewegung, die das Label von dem Unternehmer mit Yoga-Interesse hat, läuft längst ohne das frühere Netzwerk von »Querdenken 711«. »Freiheit ist die Einzige, die fehlt«, war auch über die Lautsprecher zu hören. Die Hymne von Marius Müller-Westernhagen wird gerne gespielt. Unter dem Motto »Das Maß ist voll – Hände weg von unseren Kindern« kamen über 13.700 Protestierende. Ein Spektrum, wie Sie, Du und ich, das diese Demonstration erneut dominierte. Bieder und bürgerlich, alternativ und ökologisch. Die rechten Teilnehmer*innen von der AfD-Bürgerschaftsfraktion bis zu RechtsRockfans dominieren hier an der Elbe nicht.

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Von der Hansestadt rauf nach Magdeburg; hier waren – ebenfalls am Samstag – über 5.000 Besorgte gegen Masken und Impfen auf der Straße. Hier ist der Protest eher kleinbürgerlich als gediegen bürgerlich, beobachtete David Begrich. Er führt aus, dass in Sachsen-Anhalt zum »Kleinbürgertum, auch der Rechtsextreme gehört, der in den 90er Jahren gegen Asylunterkünfte vorging und heute ein Kleinunternehmen mit zwei/drei Angestellten führt«. Von einer bürgerlichen Mittelschicht wie im Westen könne schon »rein soziologisch« nicht gesprochen werden. Im Osten hingen die Menschen immer noch im Niedriglohnsektor fest – ohne Rücklagen, ohne Erbschaften. Zudem befeuere ein anderes Narrativ, so Begrich, die Demonstrationen: Die Erfahrung, dass durch Protest auf der Straße ein System zusammenbrechen kann. In der Landeshauptstadt ist die Forderung bei den Protesten längst »Das System muss weg«, nicht wie im Stadtstaat Hamburg »ein runder Tisch« müsse eingerichtet werden. Die unterschiedlichen Forderungen wirken sich auch im unterschiedlichen Auftreten aus. Hier körperliche Angriffe auf Polizei und Presse, da verbale Anfeindungen gegen Politik und Medien. In Magdeburg, sagt Begrich, sei »die Polizei ausschließlich im Rückwärtsgang«.

West und Ost so klar zu unterscheiden?

Im November vergangenen Jahres legten Oliver Nachtwey und Nadine Frei die Studie »›Querdenken‹-Bewegung in Baden-Württemberg« vor. Sie stellten fest, dass bei den Protestierenden in Ostdeutschland der Anteil der AfD-Wähler*innen höher ist als in Baden-Württemberg. Vor allem in Sachsen sei der Protest »stärker von der extremen Rechten geprägt«. Keine statische Situation. Andrea Röpke beobachtete, dass auch in Niedersachsen extrem Rechte einzelne Proteste anführen. Die latente Radikalität schlug nicht bloß im Osten in offene Militanz um: Am 18. September erschoss ein Maskenverweigerer im rheinlandpfälzischen Ida-Oberstein einen Tankstellen-Mitarbeiter, der ihn auf die Maskenpflicht hinwies. Am 27. Dezember erfolgten im bayerischen Schweinfurt aus dem Protest Angriffe auf die Polizei, eine Frau nutzte ihr vierjähriges Kind als Schutz, beim Versuch, eine Absperrung zu durchbrechen.

In einer der ersten Studien zur »Politische(n) Soziologie der Corona-Proteste« stellten Oliver Nachwey, Robert Schäfer und Nadine Frei bereits im Dezember 2020 fest, dass die Protestierenden ihrem Wahlverhalten nach eher von links kämen, aber nach rechts gingen. Das Linkssein beschränke sich vor allem auf den »Lebensstil der Körperpolitik und der Selbstverwirklichung«, der »Idee der Ganzheitlichkeit«, der »spirituellen Überzeugung« und ein »libertäres Freiheitsverständnis«.
Dieses Sein prägt längst auch die bürgerliche Mitte mit alternativem Habitus. Der bürgerliche Firnis scheint jedoch von einer »rohen Bürgerlichkeit« durchbrochen zu werden. In der Langzeitstudie zu gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit hat Wilhelm Heitmeyer früh vor jener Bürgerlichkeit gewarnt, die »Konkurrenz und Eigenverantwortung« kennzeichnet und nicht »Solidarität und Fairness«. Das eigene Ich, die proklamierte eigene Leistung und die eigenen Werte sind leitend. Etabliertenvorrechte werden eingefordert, so Heitmeyer in »Autoritäre Versuchungen« (2018) – und Einschränkungen nicht hingenommen, darf seit 2020 ergänzt werden. In Zeiten der Pandemie hat dieses bürgerliche Milieu, das das Kleinbürgertum einschließt, das Maskentragen hoch emotional politisch als »Maulkorb« angefeindet und empfindet das Impfen nun als direkten Angriff auf den eigenen Körper. Extrem Rechte waren von Anbeginn der Proteste involviert. Die Radikalisierung erfolgt allerdings vor allem aus der Logik der bürgerlichen Mitte der Bewegung. Bei Kritik wird auf Angriff geschaltet.

Die Selbstzuschreibung der Besorgten und Herzensmenschen dürfte ein Selbstbetrug sein. Sie stört an den Maßnahmen gegen COVID-19, was sie stört. Sie möchten keine Maske tragen, sie möchten keine Impfung, sie wollen ihren Berufs- und Freizeitalltag selbst bestimmen. Das Pochen auf das Recht des Schutzes des eigenen Körpers ignoriert allerdings den Schutz der fremden Körper. Diese Ignoranz geht in Egomanie über. Die Bewegung ist eine individualistische, die eine solidarische Gesellschaft nicht mitdenkt. Dieser »rohen Bürgerlichkeit« ist auch eine Sehnsucht nach Überschaubarkeit und Einfachheit immanent. Eine »autoritäre Versuchung« in der Bewegung, die dennoch ein antiautoritärer Impuls antreibt. »Der Regierung« und »dem Staat« wird die Kompetenz abgesprochen, aber sogleich neuen Autoritäten mit Know-how zugesprochen. In diesem Fall den Stars der vermeintlich Querdenkenden. Bereits Erich Fromm erfasst diesen Typ in »Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reichs«, 1929/30, als »rebellischen-autoritären Typen«.

In der Studie zu Baden-Württemberg betonen die Autor*innen, das diese vermeintlich kritischen »Querdenkenden« Kritik an ihrer angeblichen Wahrheit weder selbst formulieren, geschweige denn akzeptieren. Ihre »Idee der Ganzheitlichkeit« hinterfragt nicht bloß logisches Denken und wissenschaftliche Studien, sie sucht auch eine vermeintlich harmonische Ursprünglichkeit, in der die Natur romantisiert und das Denken remythologisiert wird. Eine antimoderne Sehnsucht, die bereits historisch Affinitäten nach Rechts implizierte und aktuell virulent ist. In Hamburg konnten die »Jungen Nationalisten« in der bürgerlichen Demonstration einen eigenen Block bilden. Die extrem rechte Parole »Das System ist am Ende, wir sind die Wende!« war zu hören. Bei PEGIDA hoffte die extreme Rechte, über die Asyl- und Flüchtlingspolitik in der gesellschaftlichen Mitte nachhaltig mehr Akzeptanz zu gewinnen. Sichtbar auf der Straße. Im Westen fand die Bewegung gegen die »Islamisierung des Abendlandes« nicht den erhofften Zuspruch. Mit »Querdenken« finden sich jetzt neue Allianzen – von Nord bis Süd, West bis Ost. Alleine die Warnung vor extrem Rechten schützt nicht vor der Entkultivierung des Bürgertums.