Warum verteidigen die Verantwortlichen nicht die Republik?

von Charles Paresse
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 191 - August 2021

#Vorstellungen

Antifa Magazin der rechte rand

Stellen wir uns einmal vor, wir wären Innenminister*in und Mitglied einer demokratischen Partei – egal welcher. Stellen wir uns vor, wir wären selbstverständlich nicht »linksradikal«, sondern bürgerliche Demokrat*innen, die auf der Grundlage des Grundgesetzes stehen und diesen Staat stützen und schützen. Stellen wir uns vor, wir würden die deutsche Geschichte genau kennen und wären uns, insbesondere aufgrund der Zeit zwischen 1933 und 1945, unserer immensen Verantwortung in der Gegenwart bewusst. Wir würden selbstverständlich seit Jahren die Berichterstattung der wichtigsten Presseerzeugnisse von konservativ bis liberal verfolgen, im öffentlich-rechtlichen Fernsehen historische Dokumentationen und die Berichte der politischen Magazine schauen – und auch nicht wegschalten, wenn es einmal um Neonazis oder die rechtsradikale »Alternative für Deutschland« (AfD) geht. Die Artikel und Berichte stehen zudem – wir sind ja Innenminister*in – in unserem täglichen Pressespiegel, den wir jeden Morgen aufmerksam studieren. Und stellen wir uns dann noch vor, wir würden die Berichte aus dem Bundesamt für Verfassungsschutz und den Geheimdiensten der Länder nicht nur zur Kenntnis, sondern auch ernst nehmen – immerhin sind wir ja die jeweiligen Chef*innen.

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Stellen wir uns darüberhinausgehend vor, wir würden zu irgendeinem Zeitpunkt – vielleicht im Frühsommer 2021 – vor die Presse treten und verkünden, dass die »Neue Rechte«, über die renommierte Wissenschaftler*innen und unermüdliche Antifaschist*innen seit Jahrzehnten schon alles Wichtige und Notwendige zusammengetragen haben, jetzt nun auch – hochoffiziell weil amtlich bestätigt – eine Gefahr für Demokratie und Rechtsstaat darstellt. Und nicht nur das – stellen wir uns vor, dass wir uns inzwischen auch über die Gefährlichkeit diffuser und auf den ersten Blick abseitiger Bewegungen wie »Reichsbürger«, RechtsRocker, völkische Siedler*innen, »Querdenker*innen« und den »Flügel« der AfD im Klaren geworden sind. Weil wir um die Zustimmung bei Wahlen von bis zu 25 Prozent in einigen Bundesländern für die AfD, fundierte soziologische Einstellungsuntersuchungen mit erschreckenden Zustimmungswerten für rassistische, antisemitische und verschwörungsideologische Aussagen, die steigenden Zahlen von offiziell erfassten »Rechtsextremisten« wüssten und uns Warnungen aus der demokratischen Zivilgesellschaft zu Herzen nähmen. Außerdem – nur als völlig abwegige Idee – beunruhigte uns stark, dass seit etwa ein, zwei Jahren fast täglich neue Fälle bekannt werden, in denen Angehörige von Spezialeinheiten der Polizei und Elitesoldaten, aber auch einfache Beamt*innen rechtsradikale Chatgruppen betreiben, in denen geheime Infos weitergegeben oder für den »Ernstfall« mit gestohlener Munition trainiert werden sollen. Und stellen wir uns dann noch vor – aber das wäre ja eigentlich nur etwas für schlechte Filme – unser ehemaliger oberster Geheimdienst-Chef treibt sich in einem Milieu herum, das kaum mehr als demokratisch zu bezeichnen ist.

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Was würden wir tun, wenn das alles wahr wäre und wir es wüssten? Würden wir ernsthaft darüber nachdenken, der AfD-nahen »Desiderius-Erasmus-Stiftung« ohne gesetzliche Grundlage – also: ohne Not und aus freien Stücken – jedes Jahr mehrere Millionen Euro hinterherzuwerfen? Im Wissen darum, dass selbst unser eigener Geheimdienst – der bekanntermaßen beim Blick nach Rechts den Kopf nicht dreht – vor der Partei warnt? Würden wir ein Gesetz, das großspurig als das »Wehrhafte-Demokratie-Gesetz« der Sozialdemokratie initiiert wurde – und in seiner jetzigen Fassung auch niemanden wehrhaft macht, aber immerhin – sehenden Auges scheitern lassen? Würden wir weiter und weiter jenen Forscher*innen Geld zukommen lassen, die seit Jahren die Gefahr von Rechts kleinreden oder leugnen? Würden wir unseren »Experten« des Geheimdienstes vertrauen, die in den 1990er Jahren zwar in der Lage gewesen wären, Neonazi-Mörder und ihre Strategien aufzudecken, aber lieber akademische Texte während der Dienstzeit schrieben? Würden wir uns allen Ernstes mit der Peinlichkeit entblößen, öffentlich darüber nachzudenken, »die Antifa« zu verbieten? Würden wir die historischen Parallelen, die uns bewusst sind, weiter ignorieren, dass es Konservative und Bürgerliche waren, die damals 1933 den Nazis den Weg zur Macht ebneten – und auch heute relevante Teile der CDU/CSU keine verlässliche Kraft gegen den Zugriff auf die Macht durch die AfD sind? Würden wir zuschauen, wenn die Bundeszentrale für politische Bildung angewiesen wird, die Definition von »Linksextremismus« eines Extremismus-Forschers noch einmal zu verschärfen, damit diese ordentlich antikommunistisch und geheimdiensttauglich ist? Würden wir – rein fiktiv – ein fundiertes Buch mit Recherchen über rechte Netzwerke im Sicherheitsapparat zurückhalten? Würden wir …?

Stellen wir uns einmal vor – ganz spekulativ natürlich –, wir würden ernst nehmen, was unser eigenes Amt aufgeschrieben hat. Und stellen wir uns vor, wir meinten es ernst mit der Verteidigung der Republik vor den Angriffen von »Extremisten«: Warum verbieten wir dann nicht die AfD? Warum lehnen wir die Förderung einer ihr nahestehenden Stiftung nicht einfach ab? Warum versetzen wir rechtsradikale Beamte nicht dorthin, wo sie nie wieder Einfluss mit und Freude an ihrer Arbeit haben? Warum fördern wir nicht konsequent und dauerhaft quer durchs Land die Initiativen, die durch ihre Arbeit das Grundgesetz verteidigen? Warum müssen wir überall »Linksextremismus« wittern, nur weil jemand gegen Rechts ist? Warum weisen wir die furchtbaren Jurist*innen, die unsägliche Deals mit Neonazis abschließen wollen, nicht an, es zu lassen? Warum verstehen wir nicht, dass unser kleinteiliges formales Bestehen auf eingeübten Wegen staatspolitischer Verantwortung und Abläufe irgendwann nicht mehr funktioniert, wenn die radikale Rechte – die auf solche Gepflogenheiten pfeift und bei erster Gelegenheit nach der Macht greifen wird – in der Stärke ist, real Einfluss auszuüben? Warum wissen wir nicht, dass entschiedene Schritte gegen die Bedrohung der Republik von Rechts dann zu spät sind, wenn die radikale Rechte die Macht übernommen hat? Warum sehen wir nicht, dass die Unterwanderung von Sicherheitsbehörden im Fall der Fälle ein reales Problem für einen demokratischen Staat darstellt? Warum haben wir – ganz blöd gefragt – aus der deutschen Geschichte nichts gelernt? Warum?