Auch 40 Jahre später: keine Aufklärung in Sicht

Interview
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 184 - Mai / Juni 2020

#Oktoberfestattentat

Das Oktoberfestattentat 1980 in München war der schwerste rechtsterroristische Anschlag in der Geschichte der Bundesrepublik. Mutmaßliche Mitwisser*innen und Helfer*innen wurden nie zur Rechenschaft gezogen. Im Interview mit dem Magazin »der rechte rand« blickt Ulrich Chaussy auf fragwürdige Ermittlungen und seine langjährigen Recherchen zurück. Das Gespräch führte Sören Frerks.

Antifa Magazin der rechte rand
Ulrich Chaussy © Shantan Kumarasamy

drr: In wenigen Monaten jährt sich das Oktoberfestattentat zum 40. Mal. Was fordern Sie in Anbetracht der de facto gescheiterten Ermittlungen von Sicherheitsbehörden und Politik?
Ulrich Chaussy: Im Augenblick ist nicht abzusehen, ob die im Dezember 2014 nach 32 Jahren Stillstand wiederaufgenommenen Ermittlungen erneut ergebnislos eingestellt werden. Sie dauern seit über fünf Jahren an und damit doppelt so lange wie in den Achtzigerjahren. Das Verfahren wird vom Generalbundesanwalt (GBA) als federführende Behörde geleitet, aber wie schon damals von einer Soko des Bayerischen Landeskriminalamtes (BLKA) umgesetzt. Dass der mittlerweile verstorbene GBA Harald Range im Dezember 2014 dem BLKA die Ermittlungen übertrug, war mehr als ein Schönheitsfehler.

Ranges Ermittlungsauftrag lautete: Erstens sollte die Soko allen neuen Hinweisen und Zeugenaussagen nachgehen, die der Bundesanwaltschaft (BAW) aufgrund des Wiederaufnahmeantrags des Opferanwaltes Werner Dietrich und durch meine Recherchen für und nach dem Spielfilm »Der blinde Fleck« zugegangen waren. Zweitens verfügte Range, dass die neue »Soko 26. September 1980« sämtliche bei den Geheimdiensten in der Bundesrepublik vorhandenen Akten zum Oktoberfestattentat einbezieht. Drittens sollten die Ergebnisse der ersten »Soko Theresienwiese« aus den Achtzigerjahren überprüft werden.
An diesem Punkt setzt meine Kritik an: Eine Soko aus Beamten des Bayerischen Landeskriminalamts soll die Ermittlungen einer früheren Soko der eigenen Behörde kritisch bewerten. Dabei kommt beim Oktoberfestattentat der Unbefangenheit der aktuellen Ermittler eine große Bedeutung zu. Denn das erste Scheitern 1982 ist überwiegend Fehlern des BLKA geschuldet. Was in der Öffentlichkeit als Eklat der BAW gilt, die Zerstörung der in Karlsruhe aufbewahrten Tatortasservate im Jahr 1997, war vor allem ein Skandal der »Soko Theresienwiese«.

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Alle zentralen Asservate mit DNA-Spuren, insbesondere jenes Fragment einer menschlichen Hand, die nicht dem mutmaßlichen Bombenleger Gundolf Köhler zugerechnet werden konnte, sind vom BLKA nie an die ermittlungsführende BAW ausgehändigt worden. Diese Beweisstücke – darunter auch Zigarettenkippen aus den Aschenbechern in Köhlers Auto mit verschiedensten Speichelanhaftungen – sind zwischen Oktober 1980 und Mai 1981 im Besitz der Soko entweder vernichtet worden oder waren – wie im Fall der Handüberreste – spurlos verschwunden.

Die serologischen und pathologischen Gutachten zu diesen Asservaten verschwanden nicht nur beim BLKA, sondern auch aus dem gerichtsmedizinischen Institut der Ludwig-Maximilians-Universität, die sie erstellt hatte, wie mir dessen ehemaliger Leiter Prof. Wolfgang Eisenmenger nach intensiver Suche konsterniert mitteilte.

Dieses Verschwinden hat somit systematischen Charakter – Zufälle oder Pannen sind als Ursache auszuschließen. Besonders schwerwiegend ist, dass damit keine DNA-Spuren zur Verfügung stehen, die auch nach Jahrzehnten zu neuen Personen hätten führen können. Ich habe die Befürchtung, dass sich die heutige Soko der Aufklärung der Frage verweigert, welche Beamten der Soko von 1980 dafür verantwortlich waren, warum sie so agierten und ob sie eigenständig oder auf Anweisung handelten. Leider nährt der Umgang der aktuellen Ermittler mit von mir benannten Zeug*innen und ihren Aussagen diese Zweifel.

1985 veröffentlichten Sie das Buch »Oktoberfest. Ein Attentat«. Was hat Sie damals zu dieser Veröffentlichung bewogen und welche Fragen wurden darin aufgeworfen?
Im November 1982 waren die Ermittlungen vom GBA eingestellt worden. Die Spuren, die in den Wochen nach dem Oktoberfestattentat eindringlich auf den rechtsterroristischen Hintergrund und mutmaßliche Helfer hinwiesen, spielten im Abschlussbericht der BAW fast keine Rolle mehr.

Als der Opferanwalt Dietrich Akteneinsicht erkämpft hatte, wies er schon 1983 darauf hin, dass sich die Ermittler bereits kurze Zeit nach dem Bombenanschlag auf die Einzeltätertheorie fokussierten. Noch dazu sollte das Oktoberfestattentat kein politischer Terrorakt gewesen sein, sondern der Suizid eines Frustrierten aus rein privaten Motiven. Dass Köhler über zwei Jahre im Milieu von extremen Rechten und militanten Wehrsportlern verkehrte, war für die Soko zweitrangig.

Bei diesem fragwürdigen Psychogramm setzte ich an – und bei jenen Zeug*innen, deren Aussagen auf Mittäter*innen oder Mitwisser*innen verweisen. Bei meinen Recherchen fand ich heraus, dass solch offenkundig wichtige Spuren mit der Festlegung auf die Einzeltätertheorie nur noch halbherzig und gar nicht mehr verfolgt wurden. Und das, obwohl sie valide waren.

Nach rechts oder rassistisch motivierten Anschlägen bemühen die Sicherheitsbehörden oft die These vom radikalisierten beziehungsweise psychisch labilen Einzeltäter. Warum war und ist dieser Ansatz so erfolgreich?
Diese These ist besonders dann erfolgreich, wenn der angebliche Einzeltäter während oder nach der Tat stirbt. In der Folge kann man ihm alle Verantwortung aufbürden – er kann weder widersprechen noch auf Unterstützer*innen und Strukturen hinweisen. Aus kriminalistischer Sicht kann die Gewalttat damit als aufgeklärt dargestellt werden.

Im Falle des Oktoberfestattentats kam eine Besonderheit hinzu: Die Einzeltäterannahme war politisch gewünscht. Denn der Anschlag geschah nur neun Tage vor der Entscheidung im hitzigen Bundestagswahlkampf 1980. Der CSU-Vorsitzende und bayerische Ministerpräsident Franz-Josef Strauß war Kanzlerkandidat der Union und Herausforderer von SPD-Bundeskanzler Helmut Schmidt. Noch am Abend des 26. September 1980 versuchte Strauß, das Attentat für seinen Wahlkampf zu funktionalisieren. Er beschuldigte den FDP-Innenminister Gerhart Baum im Kabinett Schmidt, die Sicherheitsbehörden mit seinem ›Bürgerrechtsgerede‹ in ihrer Arbeit verunsichert zu haben; da dachte der CSU-Mann wohl noch an einen linksterroristischen Hintergrund. Als am nächsten Morgen herauskam, dass Köhler aktiver Sympathisant der »Wehrsportgruppe Hoffmann« war, drohte ihm seine Schuldzuweisung gewaltig auf die Füße zu fallen. Denn Strauß hatte diese Paramilitärs sechs Jahre lang in Bayern groß werden lassen, und Baum ließ sie just im Januar 1980 verbieten. In dieser politischen Situation bot die These vom suizidalen, unglücklichen Einzeltäter die Chance, den extrem rechten Hintergrund auszublenden.

Wenn sie auf die Ermittlungen von Polizei und Staatsanwaltschaften in den letzten vier Jahrzehnten zu dem Terroranschlag zurückblicken, welche Pannen gab es und sehen Sie Anzeichen für gezieltes Vertuschen durch Geheimdienste?
Ich bleibe bei den neun Tagen vor der Bundestagswahl 1980. Mit einer ungewöhnlichen Aktion hatte der Staatsschutzchef im Bayerischen Innenministerium Dr. Hans Langemann entscheidend zum Scheitern der polizeilichen Ermittlungen beigetragen, um politische Schadensbegrenzung für seinen Chef Franz Josef Strauß zu betreiben. Der ehemalige BND-Agent Langemann war der erste, der am Morgen nach der Tat die Erkenntnisse über die extrem rechten Kontakte des toten Bombenlegers Gundolf Köhler aus dem »Nachrichtendienstlichen Informationssystem« der Verfassungsschutzbehörden zog. Die meldete er an den GBA, damals Dr. Kurt Rebmann. Der zog daraufhin die Ermittlungen wegen Terrorverdachts an sich und verhängte umgehend eine ermittlungstaktische Nachrichtensperre. Langemann allerdings brach sie und verständigte umgehend ihm bekannte Journalisten bei der Zeitschrift QUICK und bei BILD, denen er Identität und Adresse von Köhler steckte. Die machten sich sofort auf zu dessen Wohnort in Donaueschingen und veröffentlichten noch am 27. September den Namen des mutmaßlichen Attentäters. Mögliche Helfer waren gewarnt und konnten Beweise vernichten. Damit war der Weg ins Hinterland der Tat abgeschnitten.

Bemerkenswert ist, dass Langemann 1955 seinen juristischen Doktorgrad mit der Dissertation »Das Attentat« errungen hatte. In dieser »kriminalwissenschaftliche[n] Studie zum politischen Kapitalverbrechen« – so der Untertitel – zeigt Langemann in einem Kapitel über das »Täterelement« auf, dass politische Attentate im 20. Jahrhundert am häufigsten von »vorgeschobenen Einzeltätern« begangen wurden, deren Hintermänner die zu ihnen führenden Spuren verwischten. Langemann wusste also nur zu genau, was er mit seinem klar kalkulierten Geheimnisverrat bewirkte.

Wie lautet Ihre persönliche These zu Hintergründen und zum Netzwerk rund um den Anschlag?
Ich habe es nicht so sehr mit Thesen. Warum? In meinem Buch ­»Oktoberfest. Das Attentat«, das ich zur Zeit aktualisiere und um eine ausführliche Betrachtung des ersten antisemitischen Mordes in der deutschen Nachkriegsgeschichte an Shlomo Lewin und Frida Poeschke erweitere, ein Verbrechen, das in einem engen, bislang ­wenig beachteten Zusammenhang mit dem Oktoberfestattentat steht, schreibe ich: »Eine schlüssige Gegentheorie zum Ermittlungsergebnis der Behörden hätte ich nur mit den Methoden anbieten können, die ich an Polizei und Justiz in meiner Reportage kritisiere: mit Spekulationen erwünschte Zusammenhänge herzustellen, mit Auslassungen unerwünschte Zusammenhänge zu ignorieren. Festmachen lassen sich für mich nur sehr ernste Zweifel.« Dieses Unbehagen hat sich zur Gewissheit verdichtet. Das Oktoberfestattentat kann nicht die Tat eines Einzeltäters gewesen sein. Sollten die jetzigen Ermittlungen erneut eingestellt werden und sich herausstellen, dass den Hintergründen des Behördenversagens nicht nachgegangen wurde, halte ich es für sinnvoll und geboten, dass sich parlamentarische Untersuchungsausschüsse im bayerischen Landtag und im Bundestag der Sache annehmen.

Vielen Dank für das Interview!

Im September 2020 erscheint von Ulrich Chaussy im Christoph Links Verlag: »Das Oktoberfestattentat und der Doppelmord von Erlangen. Wie Rechtsterrorismus und Antisemitismus seit 1980 verdrängt werden«.