Die historische Dimension des Lübcke-Mordes

von Barbara Manthe
Magazin »der rechte rand« Ausgabe 180 - September / Oktober 2019

#AuchImFadenkreuz

Der Mord an dem hessischen Regierungspräsidenten Walter Lübcke (CDU) markiert einen historischen Wendepunkt in der Geschichte des Rechtsterrorismus.

Antifa Magazin der rechte rand
Neonazis machen auf ihren Klamotten schon deutlich was sie wollen – wie hier bei »Thor Steinar« © Mark Mühlhaus / attenzione

Extrem rechte Hetze und Gewalt gegen Politiker*innen sind nichts Neues. Das verdeutlichen Sprüche aus den 1920er Jahren: »Knallt ab den Walther Rathenau. Die gottverfluchte Judensau!« oder »Nieder mit Erzberger, dem Reichsverderber, dem Helfer unserer Feinde.« Schon in der Weimarer Republik zählten Regierungspolitiker*innen zu erklärten Feinden der extremen Rechten. Sie galten als Vertreter*innen des »Systems«, das als Gegenbild zu der Idee einer völkischen Gemeinschaft gezeichnet wurde. Als »Systempolitiker« oder »Systemparteien« beschimpften die Nationalsozialist*innen jene politischen Kräfte, die für die Weimarer Republik standen – ein Vokabular, dessen sich heute NPD und »Alternative für Deutschland« (AfD) gerne bedienen. In der Bundesrepublik riss der Hass auf die Regierenden nicht ab. »Brandt an die Wand« wetterten alte und neue Nazis Ende der 1960er Jahre gegen den damaligen Bundeskanzler Willy Brandt (SPD). Auch über Walter Lübcke hieß es seit 2015, er sei ein »Volksverräter«, weil er sich für Flüchtlinge ausgesprochen hatte. Doch bei allen Kontinuitäten markiert der Mord an Lübcke einen Wendepunkt in der Geschichte der Bundesrepublik. Wenn es sich als bewiesen herausstellt, dass der Neonazi Stephan Ernst ihn tatsächlich ermordet hat, dann ist der Regierungspräsident der erste regierende Politiker seit 1949, der ein Todesopfer rechtsterroristischer Gewalt wurde.

Morde an Politiker*innen in der Weimarer Republik
Die Weimarer Republik erlebte eine ganze Reihe von Attentaten gegen Politiker*innen, so etwa die Morde an dem ehemaligen Finanzminister und Zentrumspolitiker Matthias Erzberger (1921) und an dem amtierenden liberalen Außenminister Walther Rathenau (1922). Der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann überlebte 1922 einen Mordanschlag, als er Oberbürgermeister von Kassel war. All diese Taten gingen auf das Konto der rechtsterroristischen »Organisation Consul«. Die Verbrechen gegen teils hochrangige Politiker*innen waren Hinweise auf die Instabilität der von politischer Gewalt geprägten Weimarer Republik, die durch die laxe Ahndung der Taten durch die Justiz noch stärker unterminiert wurde.

Mordversuche und Gewaltfantasien in der Bundesrepublik
Die Verhältnisse in der Bundesrepublik waren ganz anders gelagert: Von ihrem Beginn an waren zwar rechtsterroristische Gruppierungen oder Individuen aktiv, die teils mit äußerster Gewalt zuschlugen. Morde an Regierungspolitiker*innen verübten sie allerdings nicht.

Dies bedeutete jedoch nicht, dass Anschlagsplanungen gegen regierende Politiker*innen nicht auch in den Zielkatalog rechtsterroristischer Täter*innen gehörten. Mordfantasien und Aufrufe zum Mord gab es genug, sie richteten sich beispielsweise Ende der 1960er Jahre gegen Willy Brandt. Brandt war mit seiner »Neuen Ostpolitik«, die eine politische Annäherung an die DDR zur Folge hatte, bei der extremen Rechten äußerst verhasst. Die Jahre nach 1968 markierten für Rechtsaußen einen bedrohlichen »Linksruck«, auch innerhalb der Regierung, dem sie teils mit terroristischer Gewalt begegneten.

So nahm 1971 die Polizei den Gärtner und Hausmeister Carsten Eggert fest, der, mit einem Messer bewaffnet, den Amtssitz des Bundespräsidenten Gustav Heinemann (SPD) ausgekundschaftet hatte. Er habe »die da oben« wegen ihrer kommunistischen Politik aus dem Weg schaffen wollen. »Die da oben«, das waren neben Heinemann Willy Brandt, Außenminister Walter Scheel (FDP) und SPD-Fraktionschef Herbert Wehner, die Eggert als Verantwortliche für die Ostpolitik sah.

ABO
Das Antifa Magazin

alle zwei Monate
nach Hause
oder ins Büro.

Einige Jahre später, 1978, malten sich Mitglieder der rechtsterroristischen »Otte-Gruppe« um den Braunschweiger Neonazi Paul Otte einen Sprengstoffanschlag auf den damaligen schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten Gerhard Stoltenberg (CDU) aus. Überhaupt fand Paul Otte, dass zur Umsetzung ihrer Ziele »Politiker umgelegt« werden müssten. Solche Überlegungen wurden allerdings nicht in die Tat umgesetzt. Ein Grund hierfür war sicherlich, dass prominente Politiker*innen der Bundesrepublik in den 1970ern, den Zeiten von Anti-Terror-Maßnahmen und Debatten über die »Innere Sicherheit«, gut geschützt und somit weniger angreifbar waren. Aufwändig geplante Anschläge auf symbolträchtige Politiker*innen entsprachen in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren, der Hochphase des Rechtsterrorismus vor 1990, aber auch nicht der Praxis der Gruppen. Denn genauso wenig griffen Rechtsterrorist*innen Kommunal- oder Lokalpolitiker*innen an, um sie zu ermorden. Allerdings gab es durchaus Angriffe auf missliebige Politiker*innen und Einrichtungen regierender Parteien, doch diese bewegten sich eher im Bereich der politischen Gewalt, wie zum Beispiel Überfälle auf Geschäftsstellen, und waren keine Mordanschläge.

Die Anschlagsziele deutscher Rechtsterrorist*innen waren nämlich andere. In den 1960er und 1970er Jahren griffen sie vor allem Repräsentant*innen und Einrichtungen der DDR und der Sowjetunion an – den »kommunistischen Feind«. So schoss der Rechtsterrorist Ekkehard Weil im November 1970 über die deutsch-deutsche Grenze in Berlin und verletzte einen sowjetischen Wachsoldaten schwer. Ab Mitte der 1970er Jahre waren dann vor allem Symbole des Umgangs mit der NS-Vergangenheit – etwa Gedenkstätten – und Menschen jüdischen Glaubens und Linke verhasst. Weitere Ziele waren die Justiz und Polizist*innen, aber auch Soldaten rückten mit dem Ziel der Waffenbeschaffung in den Fokus. Ab den frühen 1980er Jahren wurden dann Migrant*innen verstärkt zu Opfern rechtsterroristischer Gewalt.

Gezielte Morde als modus operandi
Der modus operandi bei dem Mord an Lübcke – eine gezielte Hinrichtung vis-à-vis – hat jedoch Vorläufer. In der Geschichte der Bundesrepublik gab es bereits mehrere gezielte Morde oder Mordversuche von rechts, auch wenn sie nicht die Dimension der Attentate in der Weimarer Republik erreichten. So schoss Josef Bachmann am 11. April 1968 in Westberlin auf offener Straße auf das prominenteste Gesicht der deutschen Student*innenbewegung, Rudi Dutschke. Bachmann traf ihn dreimal, davon gingen zwei Schüsse in den Kopf. Dutschke überlebte schwer verletzt und starb Ende 1979 an den Folgen des Attentats. »Du dreckiges Kommunistenschwein!«, rief Bachmann, bevor er schoss. Viele Jahre später stellte sich heraus, dass der Attentäter Verbindungen in die extrem rechte Szene gehabt hatte.

Im Dezember 1980 erschoss Uwe Behrendt, Mitglied der »Wehrsportgruppe Hoffmann« und enger Vertrauter ihres Anführers Karl-Heinz Hoffmann, den jüdischen Verleger Shlomo Lewin und seine Partnerin Frieda Poeschke in deren Haus in Erlangen. Dieser Doppelmord, für den, weil Behrendt ins Ausland untertauchte, niemals ein Täter verurteilt wurde, war offenkundig antisemitisch motiviert. Zwanzig Jahre später, ab 2000, begann die rassistische Mordserie des »Nationalsozialistischen Untergrunds« (NSU). Bis 2007 ermordete der NSU seine Opfer mit gezielten Schüssen aus kurzer Distanz. Einen ähnlichen modus operandi gab es auch bei dem Mord an Walter Lübcke, der in der Nacht zum 2. Juni 2019 auf der Terrasse seines Privathauses mit einem Kopfschuss getötet wurde.

Agendawechsel 2015
Nach 2015 kam es zu einem Agendawechsel. In der Vergangenheit waren – und sind immer noch – die Autos, Wohnungen und Geschäftsstellen vor allem linker Politiker*innen ein bevorzugtes Ziel von Rechtsterrorist*innen. Erinnert sei beispielsweise an die Tat des Neonazis Kay Diesner, der am 19. Februar 1997 mit einer Pumpgun einen Buchhändler in dessen Laden in Berlin-Marzahn niederschoss. Die Buchhandlung befand sich im gleichen Haus wie eine Geschäftsstelle der PDS, der Vorgängerpartei der Partei Die Linke, und das Wahlkreisbüro des PDS-Politikers Gregor Gysi. Auf der Flucht erschoss Diesner einen Polizisten und verletzte einen weiteren. Das Gericht stellte später fest, Diesner habe »aus hemmungsloser Rachsucht und Hass gegen die von ihm abgelehnte Partei der PDS« gehandelt.

2015 begleitete eine öffentliche Migrationsdebatte die Tatsache, dass zahlreiche Geflüchtete Zuflucht in Deutschland suchten und es kamen schwere tätliche Angriffe auf regierende Politiker*innen hinzu. Am 17. Oktober 2015 griff Frank Steffen die parteilose Kölner Oberbürgermeisterkandidatin Henriette Reker mit einem Messer an und verletzte vier weitere Personen. Reker überlebte schwer verletzt; noch als sie am darauffolgenden Tag im Koma lag, gewann sie die Wahl zur Oberbürgermeisterin. Steffen, der in den 1990er Jahren Kontakt zur neonazistischen »Freiheitlichen Deutschen Arbeiterpartei« (FAP) gehabt hatte, handelte aus rassistischen Motiven; er griff Reker an, weil er ihre Flüchtlingspolitik ablehnte.

Über zwei Jahre später, am 27. November 2017, attackierte Werner S. in einem Dönerimbiss den Altenaer Bürgermeister Andreas Hollstein (CDU) mit einem Messer und verletzte ihn leicht am Hals. Zwei Mitarbeiter des Imbisses halfen Hollstein und verhinderten wahrscheinlich Schlimmeres. Auch Werner S., der Täter, äußerte sich abfällig über die Flüchtlingspolitik des Bürgermeisters. Während Frank Steffen wegen versuchten Mordes zu 14 Jahren Haft verurteilt wurde, erhielt Werner S. eine Bewährungsstrafe wegen gefährlicher Körperverletzung.

Konjunkturen des deutschen Rechtsterrorismus
Der Mord an Walter Lübcke war der erste erfolgreiche Versuch in der Geschichte der BRD, eine*n Politiker*in zu töten, weil er oder sie die Aufnahme von Geflüchteten unterstützt hatte. Die Idee, Regierungspolitiker*innen zu ermorden, ist jedoch kein neues Vorhaben im deutschen Rechtsterrorismus. Dies ist wenig verwunderlich, denn solche Angriffe stellen die Staatsgewalt auf fundamentale Weise auf die Probe.

Auch wenn jeder Anschlag individuell geplant und durchgeführt wurde, ist der Kontext – die bundesdeutsche Flüchtlingspolitik zu personifizieren und diese Personen anzugreifen und womöglich zu töten – von existenzieller Bedeutung. Denn er weist darauf hin, welche Debatten und gesellschaftlichen Dynamiken derzeit vorherrschen, von denen sich rechtsterroristische Täter*innen inspirieren und leiten lassen. In der Geschichte des deutschen Rechtsterrorismus gab es häufig solche Konjunkturen, so etwa, seit den 1980ern, die bis heute nicht abgerissene uferlose Gewalt gegen Migrant*innen. Mit den Angriffen auf Politiker*innen, die nicht zwangsläufig für linke Positionen stehen müssen, ist nun ein neuer Trend hinzugekommen.