Reinheit per Dekret

von Jörg Kronauer

Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 182 - Januar / Februar 2020

#Indien

Antifa Magazin der rechte rand
Regierungsagenda: Diskriminierung von Muslim*innen institutionalisieren.
© Wikipedia / Paulrudd – CC BY-SA 3.0

Die Proteste breiteten sich Mitte Dezember in hoher Geschwindigkeit aus. Sie begannen in Assam, griffen binnen kürzester Zeit auf andere Gebiete Nord- und Nordostindiens über, erfassten Mumbai an der Westküste, die südliche Metropole Hyderabad und bald auch die Hauptstadt Delhi: Hunderttausende gingen im ganzen Land wütend auf die Straßen. Mit aller Härte schlugen die Repressionsapparate zu; zahlreiche Demonstrant*innen wurden verletzt, binnen weniger Tage kamen sechs Menschen zu Tode. Tränengasschwaden mischten sich mit dem giftigen Smog der indischen Großstädte. Um die Mobilisierung zu erschweren, schnitten die Behörden 60 Millionen Menschen vom Internet ab. Gegenstand des Konflikts: Das indische Parlament hatte die neue »Citizen Amendment Bill« verabschiedet; sie sieht vor, dass Flüchtlinge aus Afghanistan, Pakistan und Bangladesh leichter als zuvor die indische Staatsbürgerschaft erwerben können sollten. Der Haken an der Sache: Das Gesetz, das einen humanitären Anschein hatte, gilt nur für Hindus, Sikhs und Jains, für Buddhisten, Parsen und Christen. Muslime blieben außen vor. Damit entpuppte sich die »Citizen Amendment Bill«, so sahen es die Demonstrant*innen, als Instrument der hindunationalistischen Regierungspartei BJP zur weiteren Stärkung der Hindu-Dominanz – auf Kosten der indischen Muslim*innen.

Religiöser Nationalismus
Mit der 1980 gegründeten »Bharatiya Janata Party« (»Indische Volkspartei«, BJP) ist in Indien seit Mai 2014 eine Partei an der Macht, die dem Spektrum des indischen Hindunationalismus entstammt. Dessen Grundgedanke ist simpel: Indien sei die exklusive Heimat der Hindus, die das Land seit je bevölkerten und deshalb jetzt den Anspruch geltend machen dürften, es zu kontrollieren. Ziel ist es, die indische Gesellschaft in Abkehr von der offiziellen Gleichbehandlung aller Religionen, wie sie Staatsgründer Jawaharlal Nehru vertrat, stark nach hinduistischen Werten und Normen zu prägen; darauf arbeiteten schon lange vor der Gründung der BJP Organisa­tionen wie etwa die »Rashtriya Swayamsevak Sangh« (»Nationale Freiwilligenorganisation«, RSS) hin, ein Zusammenschluss hindunationalistischer Hardliner. Anhänger*innen anderer Religionen werden untergeordnet; dies gilt vor allem für die 200 Millionen Muslim*innen unter der insgesamt gut 1,3 Milliarden Menschen zählenden indischen Gesamtbevölkerung. Hindunationalist*innen verfolgen dabei die Durchsetzung ihrer Dominanz – zuweilen mit allen Mitteln. Auch Anhänger*innen der BJP waren involviert, als radikale Hindus am 6. Dezember 1992 in der nordindischen Stadt Ayodhya eine berühmte Moschee aus dem 16. Jahrhundert niederrissen, da sie der Ansicht waren, sie sei am Geburtsort des Gottes Rama errichtet worden und müsse einem neu zu bauenden Tempel weichen. In den darauf folgenden Unruhen kamen rund 2.000 Menschen zu Tode. Die Zerstörung der Babri Masjid brachte der BJP damals eine Welle neuer Popularität.

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Premierminister Narendra Modi, der die BJP im Mai 2014 zur Regierungspartei machte – das ist sie nun schon zum zweiten Mal nach der Ministerpräsidentschaft von Atal Bihari Vajpayee (1998 bis 2004) – hat es geschafft, die Hindunationalist*innen an der Macht zu etablieren. Er ist lange Zeit sehr populär gewesen; im November 2017 ergab eine Umfrage des Pew Research Center, dass rund 88 Prozent der Inder*innen ein positives Bild von ihm hatten – 30 Prozent mehr als vom damals zweitbeliebtesten Politiker, Rahul Gandhi. Dies ist auch deshalb recht bemerkenswert, weil Modi, ein langjähriges RSS-Mitglied, ursprünglich als BJP-Hardliner galt und diese Einschätzung durch seine Rolle im Zusammenhang mit den blutigen Unruhen Anfang 2002 im westindischen Bundesstaat Gujarat bestätigt wurde. In Gujarat hatte am 27. Februar 2002 ein muslimischer Mob einen Zug attackiert, in dem hindunationalistische Pilger*innen auf der Rückreise aus Ayodyha saßen, wo sie sich für den Bau des Rama-Tempels stark gemacht hatten. 59 Hindus kamen bei dem Angriff zu Tode. In den darauf folgenden Tagen verübten Hindus in Gujarat Pogrome, bei denen laut offiziellen Angaben 790, mutmaßlich jedoch mindestens 2.000 indische Muslim*innen getötet wurden. »Wir können euch nicht helfen«, teilte die Polizei damals um Schutz flehenden Muslim*innen mit: »Wir haben Befehle von oben.« »Oben«, das war der seit Oktober 2001 amtierende Regierungschef von Gujarat, Narendra Modi, der später über die Pogrome urteilte, die Einwohner*innen von Gujarat hätten »unter großen Provokationen« noch »bemerkenswerte Zurückhaltung gezeigt«.

Seit Modi indischer Premierminister ist, befindet sich der Hindunationalismus landesweit im Aufwind. Künstler*innen beklagen eine zunehmende Förderung hindunationalistisch orientierter Kultur; das Kultusministerium unterstützt Bemühungen, die Geschichte, vor allem diejenige des Altertums, im Sinne des RSS umzuschreiben: Die Mythen der religiösen Schriften des Hinduismus wären demnach sachlich zutreffende Historiographie. Im Alltag werden Muslim*innen immer häufiger daran gehindert, ihre Gebete im öffentlichen Raum zu vollziehen. Auch physische Angriffe auf Menschen islamischen Glaubens nehmen zu. Immer wieder trifft die Gewalt Muslim*innen, die von radikalen Hindus verdächtigt werden, in Indien heilige Kühe zu schlachten oder sie auch nur zum Schlachten zu bringen. Allein zwischen Mai 2015 und Dezember 2018 wurden, wie Human Rights Watch recherchierte, mindestens 36 muslimische Inder von Mordbanden gelyncht, die vorgaben, Kühe schützen zu wollen. BJP-Politiker, so hielt die Menschenrechtsorganisation fest, befeuerten das auch noch.

Blaupause Kashmir
Nach dem jüngsten Wahlsieg der BJP, die ihre Mehrheit bei der Parlamentswahl im April und im Mai 2019 von 282 auf 303 Abgeordnete ausbauen konnte – die Lok Sabha, die erste Kammer des indischen Parlaments, hat 545 Sitze –, ist Modi weiter in die Offensive gegangen. Ein erster Schritt galt Jammu und Kashmir, Indiens einzigem Bundesstaat mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit. Dort tobt seit vielen Jahren ein gewalttätiger Konflikt, in dem sich meist muslimisch geprägte Separatist*innen – darunter Jihadist*innen – sowie meist hinduistisch geprägte Anhänger*innen des indischen Nationalstaats gegenüberstehen. In den Kämpfen dort sind seit 1989 zehntausende Zivilist*innen sowie eine Vielzahl Aufständischer, Soldat*innen und Polizist*innen ums Leben gekommen. Am 5. August 2019 schnitten die indischen Behörden Jammu und Kashmir von der Außenwelt ab, kappten Mobilfunk- und Internetverbindungen, ließen beinahe 4.000 Oppositionelle inhaftieren, darunter hochrangige Politiker*innen, und hoben die traditionelle Autonomie des Gebiets auf, das am 31. Oktober offiziell zum »Unionsterritorium« erklärt wurde. Die BJP-Regierung will den neuen, direkten Zugriff nutzen, um das Gebiet für den Landerwerb und wohl auch für die gezielte Ansiedlung von Hindus zu öffnen. Auf lange Sicht soll das bislang muslimisch geprägte Kashmir hinduistischer Dominanz unterworfen werden. Ende Oktober 2019 bekam Modi Unterstützung durch den Besuch von Abgeordneten des EU-Parlaments. 22 der 27 Besucher*innen waren Mitglieder der im EU-Parlament vertretenen extrem rechten Parteien wie des »Rassemblement National«, der »Prawo i Sprawiedliwo??«, der »Brexit Party«, der »Lega«, der »Alternative für Deutschland«, des »Vlaams Belang« und »VOX«. Diese Parteien vertreten eine strikte Anti-Immigrationspolitik und Anti-Islam-Politik.

Ebenfalls im Schatten des Himalayas, allerdings nicht im Nordwesten, sondern ganz im Nordosten des Landes, in Assam, findet eine zweite Großoperation der BJP-Regierung statt. Assam, in Europa meist nur wegen seines Tees bekannt, ist der indische Bundesstaat mit dem zweitgrößten Anteil an Muslim*innen; mehr als ein Drittel seiner Bevölkerung hängt dem islamischen Glauben an. In der Region gibt es seit jeher eine gewisse Einwanderung aus dem angrenzenden, muslimisch dominierten Bangladesh, die in der Bevölkerung nicht selten auf Ablehnung stößt. Die BJP, die seit Mai 2016 den Bundesstaat regiert, hat sich der Sache angenommen und ein Update des »National Register of Citizens« durchgesetzt, in dem sämtliche Einwohner*innen Assams mit indischer Staatsbürgerschaft verzeichnet sind – jedenfalls theoretisch. Real sind von Assams gut 32 Millionen Einwohner*innen 1,9 Millionen nicht registriert; sie stehen nun im Verdacht, nicht legalisierte Einwanderer*innen aus Bangladesh zu sein. Die indische Regierung gibt an, gegenwärtig seien bereits annähernd 1.000 »Ausländer« in sechs Lagern in Assam interniert. Berichten zufolge lassen die Behörden weitere Lager für eine gewaltige Zahl an »Ausländern« errichten. Prinzipiell sind nicht legalisierte Einwander*innen von der Abschiebung bedroht.

Das ist nun aber der Punkt, an dem eigentlich die neue »Citizen Amendment Bill« ansetzt. Denn die 1,9 Millionen Einwohner*innen Assams, die nicht im »National Register of Citizens« verzeichnet sind, sind zwar ganz überwiegend Muslim*innen; allerdings zählen zu ihnen auch zehntausende Einwanderer*innen aus Bangladesh. Sie können nun geltend machen, vor der Verfolgung aus Bangladesh geflohen zu sein, und entsprechend dem neuen Gesetz Antrag auf Verleihung der indischen Staatsbürgerschaft stellen. Die Muslim*innen unter den 1,9 Millionen können das nicht. Das Update des »National Register of Citizens« in Verbindung mit der »Citizen Amendment Bill« sorgt also letztlich dafür, dass alle Hindus im Land bleiben dürfen, während viele Muslime es perspektivisch verlassen müssen. Wie in Kashmir zielt die BJP-Politik auch in Assam darauf ab, die Prägung des Bundesstaates durch Hindus zu verstärken.

Modell für ganz Indien
Und: Indiens BJP-Innenminister Amit Shah, der im RSS sozialisiert wurde, hat bereits vorgeschlagen, ein »National Register of Citizens« nach Assams Modell für ganz Indien zu erstellen. Damit könne man sicherstellen, erläuterte er Anfang Dezember, »dass wirklich jeder Eindringling identifiziert und aus Indien ausgewiesen wird« – vielleicht schon bis 2024. Dafür, dass es ausschließlich Muslim*innen trifft, sorgt die »Citizens Amendment Bill«. Das Gesetz habe in Verbindung mit dem geplanten Einwohnerregister »das Potenzial, Indien in ein Mehrheits-Gemeinwesen mit abgestuften Bürgerrechten zu verwandeln«, warnte im Dezember die bekannte Soziologin Niraja Gopal Jayal von der Jawaharlal Nehru University in New Delhi gegenüber der BBC. Von einer »Delegitimierung der Staatsbürgerschaft von Muslimen« sprach Mukul Kesavan, ein indischer Historiker und Publizist; die BJP-Agenda ziele darauf ab, die Diskriminierung von Muslim*innen offen »zu institutionalisieren«. Die hindunationalistische Ideologie würde damit soziale Realität.