Editorial / Kommentar Ausgabe 181

von der Redaktion

Magazin »der rechte rand« Ausgabe 181 - November / Dezember 2019

Liebe Leser*innen,
eine verschlossene Holztür verhinderte in Halle an der Saale am 9. Oktober dieses Jahres, dass Stephan Balliet in der Synagoge einen Massenmord in der jüdischen Gemeinde verübte. Am Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag wollte er möglichst viele Menschen in dem Gotteshaus ermorden. Ort und Datum hatte er bewusst gewählt, den Anschlag live gestreamt, bei dem er eine Frau auf der Straße und einen Mann in einem Dönerimbiss erschießt. Bis heute ist weder vom Landesinnenminister noch der Polizeileitung nachvollziehbar erklärt worden, warum an diesem Feiertag keine Sicherheitskräfte vor Ort waren. Die gestiegene Bedrohung durch den weiter erstarkenden Antisemitismus wurde in Sachsen-Anhalt ignoriert. Wären Polizeikräfte zum Schutz der Gemeinde an jenen Tag abgestellt gewesen, hätte sie möglicherweise die Morde verhindern könnten.

Die Reaktionen der offiziellen Politik spiegeln das ganze Ausmaß der falschen Lageeinschätzung wider. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) sagte, dass solch ein Angriff in Deutschland nicht vorstellbar gewesen wäre, und Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) meinte, ein solcher Angriff sei »ein Alarmzeichen«. »Unvorstellbar« und »Alarmzeichen«?

Wer 2019 so denkt, glaubt auch die ausgemachten Feind*innen der extrem rechten Szene nicht schützen zu müssen. Hier scheinen all die Opfer rechter Gewalt und die Ermordeten des NSU nicht wahrgenommen worden zu sein. Selbst die Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke (CDU) am 2. Juni 2019 scheint vergessen – oder wird ausgeblendet. Denn eines möchten die Bundesregierung und das Bundesamt für Verfassungsschutz nicht, dass von rechtem Terror gesprochen wird, der jederzeit morden könnte.


Dieser Terror ist längst international inspiriert und virtuell agil. Die Drohungen der sogenannten »Atomwaffen Division« sind der offene Aufruf, weltweit Morde zu begehen. Erst Anfang November versuchte ein mutmaßliches Mitglied des Netzwerkes aus Amerika nach Deutschland einzureisen.


Das Attentat von Halle hatte das Massaker von Christchurch und den Angriff von El Paso als Vorbild. Alleine bei diesen Anschlägen starben durch extrem rechte Täter 73 Menschen. Diese Szene hat ihre Feinde – ob Migrant*innen, Muslime, Jüd*innen oder antifaschistisch Engagierte, Politiker*innen und Aktive aus der Umweltbewegung – im Visier.


Befeuert werden diese Taten durch die Ideologie des »Großen Austauschs«. Unablässig wiederholen AfD, Pegida und Co ihre Anfeindungen mit ihren wenig verklausulierten Gewaltphantasien. Die neue Hassfigur Nummer Eins ist Greta Thunberg als »Botschafterin« von »Fridays for Future«. Der AfD-Bundestagsabgeordnete Marc Jongen beschimpfte sie als »krankes Kind« und in Facebook-Kommentaren wird ihr der Tod gewünscht. Und Neonazi-Onlineshops bieten rechte Propagandautensilien mit »FCK Greta« an. Was vor drei Jahren bei Angriffen von Hooligans auf Proteste von »Ende Gelände« im Lausitzer Braunkohlerevier zu erahnen war, manifestiert sich nun: Die Klimabewegung ist zum nächsten großen Feindbild der gesamten Rechten geworden.

Fanden sich bisher vor allem antifaschistische Aktivist*innen und Parlamentarier*innen auf Feindeslisten wieder oder erhielten Emails mit Absendern wie »NSU 2.0« und »Staatsstreichorchester«, berichten mittlerweile auch Klimaforscher*innen von entsprechenden Nachrichten.
Wer 2019/20 noch denkt, ich bin ja nicht betroffen, ich muss nichts sagen, sollte sich nicht wundern, dass niemand mehr etwas sagen kann, wenn man selbst zum Ziel wird.

Eure Redaktion