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Druckzeitpunkt: 13.05.2025, 07:30:25

Aktuelle News

Expansionsfantasien im Ländle

von Kian Blume
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 203 Juli | August 2023

Das »Königreich Deutschland« ist auf Expansionskurs – so zumindest die Vorstellung des selbst ernannten »Königs« und seiner Gefolgschaft. Verschiedene Ortsgruppen in Baden-Württemberg träumen vom eigenen Anwesen fernab von Strukturen der Bundesrepublik. Eine Gruppe aus der Region Ulm hat bereits sehr konkrete Pläne, eine weitere Gruppe in Freiburg ist von ihrem Ziel noch weit entfernt.

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Peter Fitzek verkauft sich und seine Projekte aktuell auch über YouTube wie hier im Interview mit Bewusstseinstrainer Bruno Würtenberger, der über sich selbst sagt: »Meine Vision ist es, Dir zu helfen das Leben Deiner Träume zu verwirklichen.« © @derrechterand Archiv Screenshot

Wenn es nach den Vorstellungen des selbst ernannten »Königs« Peter Fitzek (s. ddr Nr. 165) und seinem Kernteam geht, soll das »Königreich Deutschland« (KRD) durch die Gründung von Dorfprojekten deutschlandweit wachsen. Auf ihrer Website werben sie für das Leben im »Gemeinwohldorf« mit einem »selbstbestimmte(n) Leben – ohne Impfpass, Maske und Zentralbankkonto«. Nach außen tritt das KRD gezielt harmlos, ökologisch, freiheitsliebend und gemeinwohlorientiert auf. Antisemitische Verschwörungsideologie gehört jedoch genauso zum Programm wie Kontakte zu bekannten »Reichsbürgern« und zur extremen Rechten. So ist auch der selbst ernannte »Volkslehrer« und wegen Volksverhetzung verurteilte Neonazi Nikolai Nehrling ein gern gesehener Gast des »Königreichs«. Dessen selbst erklärtes Ziel ist ein »komplette(r) Neuanfang des deutschen Staates«.

Das KRD unterhält unter anderem eine Immobilie in Wolfsgrün im Erzgebirgskreis. Eine Jugendstilvilla im Stadtteil Eibenstock soll als Seminarhaus dienen. In Bärwalde, in der sächsischen Oberlausitz, hat sich Mitte letzten Jahres ein »Gemeinwohldorf« gegründet. Eine weitere Immobilie befindet sich in der Lutherstadt Wittenberg (Sachsen-Anhalt), wo im Juni dieses Jahres ein Tag der offenen Tür stattfand. Im Vorfeld warb Fitzek dafür in einem Video mit seinem Kommen und kündigte an, über geplante Projekte zu berichten, die noch nicht öffentlich seien.

Große Ambitionen im Ländle
Mit dieser Ankündigung spielt Fitzek vermutlich auch auf das »Dorfprojekt Süd« an. In der Gemeinde Obersontheim im baden-württembergischen Landkreis Schwäbisch-Hall verfolgen Angehörige des KRD aktuell das Ziel, ein Hofgrundstück zu erwerben und es dem »Königreich« zu stiften. Federführend am Projekt beteiligt ist eine Heilpraktikerin aus dem Raum Ulm. Für das »Dorfprojekt Süd« hat sie mit rund neun weiteren Personen große Ambitionen: Zielobjekt der Gruppe ist eine Immobilie in der Gemeinde Obersontheim. Das Gehöft in Alleinlage für 1,5 Millionen Euro Kaufpreis umfasst 18 Hektar Land inklusive eigenem Waldstück und Wasserquelle. Inzwischen kam es auch zu Gesprächen mit dem KRD, in denen die geplante Stiftung und anschließende Nutzung des Grundstücks besprochen wurden. Im Videocall empfiehlt ein William vom KRD-Kernteam, der für die Gründung von »Gemeinwohldörfern« zuständig sein soll, vor dem Kauf einer Immobilie nicht als KRD aufzutreten. Im Süden rechne er noch mit weniger Zuspruch aus der Bevölkerung als im Osten Deutschlands. Finanziell könne sich das »Königreichs« nicht an dem Kauf beteiligen. Dies könnte an der schlechten Finanzlage liegen, auf die ein Artikel der kritischen Plattform Sonnenstaatland im März dieses Jahres hinwies.
Eine Anfrage gegenüber dem zuständigen Polizeipräsidium Aalen ergab, dass die Aktivitäten der Gruppe bisher scheinbar unter dem Radar der Behörden verliefen. Man wisse nur von »vereinzelten Aktivitäten des KRD«, heißt es in der Antwort des Präsidiums – gleiches gilt für das Landesamt für Verfassungsschutz.

Unter dem Radar
Baden-Württemberg gilt inzwischen als Hotspot für die Szene der Reichsbewegten aller Couleur. Der Verfassungsschutz rechnet im Ländle rund 3.800 Personen dem Spektrum zu. Auch in Freiburg gibt es seit Februar letzten Jahres eine KRD-Gruppe, die sich bisher unter dem Radar der Öffentlichkeit bewegen konnte. Zur Ortsgruppe gehört Niclas Dreier, der für das KRD Imagefilme produziert. Laut eigenem LinkedIn-Profil ist er Leiter des KRD-eigenen Filmstudios, auf Instagram gibt er sich selbst den royalen Titel »Videoherzog«. Die Telegramgruppe der Freiburger Ortsgruppe zählte zuletzt rund 50 Mitglieder.

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Frappierend dabei ist: Die Ortsgruppe hat scheinbar unbemerkt regelmäßig Treffen in Räumlichkeiten des Stadtteilzentrums Vauban veranstaltet. Das Quartier Vauban gilt als grüner Vorzeigestadtteil und ist ein Paradies für die »Bio-Bohème«. Im alternativen Öko-Milieu versucht das »Königreich« anzuschließen und fällt dabei mancherorts gar nicht auf. Es geht ihnen dabei nicht nur um ein friedliches Leben im Exil: Im Telegram-Kanal der Gruppe »Dorfprojekt Süd« zweifelt ein Mitglied unkommentiert an der medialen Darstellung zu den Razzien gegen die »Patriotische Union« und ihre »angeblichen« Putschpläne. Ein anderer gibt eine Leseempfehlung zu dem Buch »Was heißt Deutsch sein?« des völkischen Esoterikers Herman Wirths.

Das betroffene Stadtteilzentrum reagierte auf die Treffen unmittelbar und sperrte den Zugang für die beteiligten Personen. Nun soll ein Kodex über die Vergabe der Räume im Haus abgestimmt werden. Solche Reaktionen aus der Zivilgesellschaft machen Hoffnung.

Unbequem sein

von Andreas Speit
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 212 - Januar | Februar 2025

Abgewogene Aussagen und betonte Bekenntnisse. Kein extrem rechter Anschlag und kein NS-Gedenktag ohne Mahnungen und Warnungen. Bedächtige Reaktionen demokratischer Parteien und grundgesetznaher Medien, die längst Rituale für individuellen Halt in haltlosen Zuständen und gesellschaftliche Sicherheit in unsicheren Zeiten sind.

»Nie wieder ist jetzt« ist seit Anfang des vergangenen Jahres nach dem Bekanntwerden eines Treffens unter anderem von AfD- und CDU-Mitgliedern zum Thema »Remigration« in Potsdam eines dieser Bekenntnisse. Ende 2024 griff es in Magdeburg ein Redner bei einer AfD-Kundgebung nach dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt kurz vor Heiligabend auf. Mehr als ein Fauxpas – vielmehr eine gezielte Provokation.
So ist doch die Formel bekanntlich eine aktualisierte Anlehnung an den Schwur von Buchenwald. Am 19. Mai 1945 sprachen Überlebende des Konzentrationslagers bei einer Gedenkfeier für die geschätzten 51.000 Ermordeten nahe Weimar diesen Schwur aus. »Nie wieder« war die Botschaft und der Auftrag. Die Instrumentalisierung durch die AfD ist Strategie, die den Skandal als medialen Begleitsound sucht und weiterhin die Relativierung der nationalsozialistischen Verbrechen anstrebt. Sechs Menschen starben durch die Tat von Taleb Al Abdulmohsen in Magdeburg, knapp 300 Menschen wurden teilweise schwer verletzt. Die Gleichsetzung mit den Opfern des Nationalsozialismus bestätigt, wie wenig im Milieu der AfD der Schmerz und das Leid aller Betroffenen, ihrer Familien und Freunde in der Geschichte und Gegenwart wirklich beachtet und berücksichtigt werden. Ein Höcke, ein Björn, ein Gauland, ein Alexander sind eben nicht die einzigen Funktionsträger der selbsternannten Alternative, die heute für die Zukunft die Vergangenheit umschreiben wollen. Diese Geschichtsumschreibung gehört zur DNA der AfD, die sich so selbst in die rechtsradikale Vergangenheitsbewältigung einordnet. Zum AfD-Jargon der Fake News gehört eben auch die Fake History.

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Zwischen Ritual und Realität
Diese Indienstnahme ist aber nicht nur dem vermeintlich geschickten Handeln der AfD geschuldet. Rituale und Formeln – sowohl durch Politik und Medien als auch durch Zivilgesellschaft und Gedenkinitiativen – können ihren Gehalt und ihre Kraft verlieren, wenn Kontext und Konflikte unausgesprochen bleiben. Das staatliche Bekenntnis gegen »Rechtsextremismus« sowie das offizielle Gedenken wegen der NS-Verbrechen setzten Engagierte über Jahrzehnte von unten nach oben durch. Die Auseinandersetzung begann im Westen der Republik nicht erst mit der 68er-Bewegung, die danach fragte, wo der Papa im Krieg war und was die Mutter wusste. Mit der Zeit verstärkte »die Linke« jedoch diese Auseinandersetzung – mit all ihren eigenen Ausblendungen im »antiimperialistischen Kampf«. Im Osten der Republik blockierte die Selbstwahrnehmung als antifaschistischer Staat die Auseinandersetzung. Hüben wie drüben mussten Täter*innen und Mitläufer*innen nicht lange fürchten, verantwortlich gemacht zu werden. Das familiäre Gespräch wurde gemieden.

Erinnerungskonflikte
Ehrenamtlich Engagierte recherchierten jedoch in ihrer Freizeit, organisierten »alternative Stadtrundgänge«, suchten Zwangsarbeiter*innen auf, um für ihre Entschädigungen mitkämpfen zu können, unterstützten mit Petitionen Betroffene für die Anerkennung als »Opfer des Nationalsozialismus« und stritten um die Einrichtung von Gedenkstätten sowie die Deutung der Verbrechen. Willkommen waren sie weder in der Politik noch in der Gesellschaft. Verdrängen und Vergessen war das Motto und das Momentum. Das KZ Neuengamme bei Hamburg, in dem 42.900 Menschen starben, konnte erst 2006 zu einer Gedenkstätte ausgebaut werden. 1989 und 1993 besetzten Roma das Gelände, um Abschiebungen entgegenzuwirken. Auf Bannern in der Gedenkstätte hieß es: »In Auschwitz vergast – bis heute verfolgt.«
Die Konflikte des Gedenkens scheute Esther Bejarano nicht. Die Auschwitzüberlebende verband Erinnern und Ermahnen immer damit, widersprüchlich und widerständig zu sein. Oft erklärte Bejarano, die 2023 mit 96 Jahren verstarb: »Wir sind manchmal unbequem.« Die Akkordeonistin im »Mädchenchor von Auschwitz« erinnerte mit ihren Musikprojekten allerdings nicht nur an das Leid, sie erzählte auch vom Widerstand. Ohne diese Unbequemen, die es sich nicht bequem machten in all dem Leid und Elend der Geschichte und Gegenwart, würden »Asoziale«, Homosexuelle, Zwangssterilisierte, Deserteure und noch viele mehr kaum Anerkennung erfahren. Die »Rote Kapelle« wäre weiterhin bloß ein »Kommunistennest« und die Angehörigen des »Stauffenberg-Kreis« nichts anderes als »Vaterlandsverräter«. Das konservative Milieu haderte lang mit den gescheiterten Adolf-Hitler-Attentätern. Fast scheint es so, als sei diese Anerkennung der Tatsache geschuldet, dass dieses Milieu nicht gerade viele Widerständige anführen konnte. Die neurechte Wochenzeitung »Junge Freiheit« erkannte diese Option, um sich vom Nationalsozialismus zu distanzieren. Claus von Stauffenberg wurde auch ihr »Held«, der aus Pflicht zum Vaterland handelte, ohne das Vaterland zu verraten.

Die »Auschwitzkeule«
Dieses Moment, wem gedacht werden soll, wabert stets in der Gedenk- und Erinnerungspolitik mit. Der Staat und die Gesellschaft sollten Menschen gedenken, die sie selbst nach 1945 sehr lange ablehnten. Ein zumindest skeptischer Blick fiel nicht erst nach den Folgen des Angriffes der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 auf jüdische Menschen in Deutschland. »Die Deutschen werden den Juden Auschwitz nie verzeihen«, soll der österreich-israelische Arzt und Autor Ziv Rex pointiert haben. Der Spiritus Rector der »Neuen Rechten« Armin Mohler beklagte 1989, dass »die Deutschen« seit 1945 am »Nasenring« der Vergangenheitsbewältigung vorgeführt werden, um als »Volk« nicht mehr zum Volk zu werden. Martin Walser wetterte 1998 bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels über die »Moralkeule« Auschwitz. Der Literat nahm 20 Jahre später die Aussage zurück. Zu spät, viel zu spät. Walser, der bis heute so geschätzte Literat, hatte dem rechten Diskurs Positionen und Argumentationen geliefert. Gegenwärtig fragt man sich im konservativen Feuilleton, ob Walser nicht gar weitsichtig war. Aus der Mitte der meinungspräsenten Gesellschaft wird diese »Auschwitzkeule« geschwungen, welche die Ambivalenz zwischen dem erstrittenen öffentlichen Gedenken und dem privaten Erinnern forciert. Aleida Assmann machte in den 1980er Jahren das Ende des »kollektiven Beschweigens« aus. In staatlichen Institutionen wurde über die Jahre hinweg allerdings eine Geschichte der NS-Vergangenheit dargelegt und ritualisiert, die in privaten Sphären anders erzählt und manifestiert wurde. »Opa war kein Nazi« ist eben nicht nur eine Position der extremen Rechten. 1995 zeigte die »Wehrmachtsausstellung« den Vernichtungskrieg der Wehrmacht von 1941 bis 1944 in Bildern und widerlegte damit die Mär von der »sauberen Wehrmacht«. Die Anschläge kamen aus dem extrem rechten Lager, die Anfeindungen erfolgten aber ebenso aus dem konservativen Spektrum. Lange her, doch die Prozesse gegen Wehrmachtsangehörige und KZ-Mitarbeitende in den vergangenen Jahren deuten eine generationsübergreifende Abwehr der Aufarbeitung an. Mal recht nüchtern mit der Anmerkung, die Beschuldigten seien doch nun so betagt, mal recht barsch mit der Ansage, jetzt müsse aber auch mal Schluss sein.

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Unbequemlichkeit des Erinnerns
Schluss, Aus, Ende klingt im Haus der Mordenden und Mitlaufenden immer wieder an, weil in dem Haus die Widerständigen und Widerstehenden kaum mehr da sind – nicht weil Zeitzeug*innen versterben. Der Nationalsozialismus hat die familiäre Tradition von sozialen Streiks bis emanzipatorischen Kämpfe gekappt. Der Stalinismus kappte nicht minder diese Widerstandskultur. Die rote Uroma konnte nicht mehr erzählen, wie sie Streiks organisierten, Flugblätter verteilten und notfalls Waffen besorgten. Erst mit der 68er-Bewegung scheinen in den Familien die Erzählungen von Protest und Polizeigewalt, Hausbesetzung und Haft, Befreiungen und Berufsverbot generationsübergreifend weitergegeben zu werden. Einer, der in Texten immer wieder auf die lange Widerstandstradition vom »Bauernkrieg« oder »Vormärz« anspielte, sorgte sich aber auch wegen der satten Zufriedenheit nach 1968. In »Botschaft an eine Enkelin« lässt Franz Josef Degenhardt eine »Großmama« dem ihr unbekannten Nachwuchs eine Nachricht zukommen: »Glaub ihnen nicht«, wenn sie von der »verrückten Alten« mal reden, die Brandsätze in Geldtempel warf, denn »sie lügen sich immer alles zurecht, damit sie so weiter leben können«.
Das Vergangene ist nicht nur nicht vergangen, die Geschichte prägt die Zukunft. Die Wahlerfolge der AfD, das Zögern der staatlichen Sicherheitsstrukturen bei der Einordnung der Partei führen mit zu den verstärkten Angriffen auf Gedenkstätten und Anfeindungen der Erinnerungskultur. Das Milieu der AfD will verlorenes Terrain im vorpolitischen Raum zurückgewinnen. Die Geschichtslosigkeit der weißen Mehrheitsgesellschaft lässt KZ-Gedenkstättenbesuche von Schulklassen zudem mehr und mehr als »Pflichttermine« erscheinen, auch weil die Kämpfe um das Erinnern nicht erzählt und somit nicht erinnert werden. Die Ambivalenz zwischen öffentlichem Gedenken und privatem Erinnern verschärft sich. Das »Nicht schon wieder!« oder »Was geht uns das an?« ist nicht erst durch die Migrationsgesellschaft eine erinnerungspolitische Herausforderung geworden. Es gab und gibt immer ein Ringen um Einordnen und Ehren. Es bedingt immer ein Unbequemsein. Die laufenden Angriffe und Anfeindungen sollten weitere Forderungen nicht unterbinden. Der Tag der Befreiung, der 8. Mai 1945, muss ein »Feiertag« werden, forderte Bejarano. Lasst uns die Niederlage Nazi-Deutschlands feiern!

Widerstand gegen das NS-Regime. Ähnlich wie die Punks waren auch die Meuten ideologisch schwer zu greifen. Sie stammten aus der Arbeiter:innenschicht, aber ihr einziges Flugblatt endet mit den Worten „Es lebe der Broadway“. taz.de/Jugendlicher…

#AntifaMagazin der rechte rand (@derrechterand.bsky.social) 2025-05-09T05:56:51.929Z

Muttersprache und Vaterland

von Lucius Teidelbaum
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 132 - September | Oktober 2011

In Deutschland führen Sprachpuristen seit über hundert Jahren einen Kampf gegen das „Fremdwörterunwesen“. Bereits in der völkischen Bewegung im Kaiserreich wurde gegen eine „Verwelschung“ angekämpft und „Verdeutschungs-Wörterbücher“ verfasst, wie es Thilo Sarrazins Urgroßonkel Otto Sarrazin (1842-1921) tat. Auch heute noch führen Sprachkonservative den „Kampf gegen das Fremdwortunwesen“ und das „Anglizismen-Problem“.

Sprache dient den Sprachpuristen bei genauerer Betrachtung erkennbar als Projektionsfläche. Über sie leben sie einen Nationalismus aus, der anderswo tabuisiert scheint. Ihr Verständnis von Sprache ist dabei statisch. Im Widerspruch zu der Realität nehmen sie sie nicht als eine sich ständig weiterentwickelnde Kommunikationsform wahr, sondern als unveränderlich. Die Versuche von Sprachkonservativen einen sprachlichen Status Quo aufrecht zu erhalten, sind allesamt gescheitert und müssen es letztendlich auch, weil sie dem Wesen der Sprache zu wider laufen.

 

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Der auf die Sprachebene verlagerte Nationalismus verrät sich selbst durch seine Sprache, beispielsweise wenn Klemens Weilandt auf einer Regionalversammlung des „Verein Deutsche Sprache (VDS)“  zum Thema: „Auf Samtpfoten – Über Anglizismen, die sich (fast) unerkannt seuchenartig ausbreiten und einnisten“ referiert.

Die deutschen Sprachpuristen fordern nicht nur einen „Kulturprotektionismus“ auf Sprachebene, sie praktizieren auch einen kulturpolitischen Antiamerikanismus. „Denglisch“ schreiben sie einer angeblichen kulturellen Hegemonie der Vereinigten Staaten zu. Sie haben Angst vor dem „Eindringen angloamerikanischer Wörter in die Alltagssprache“ und dem daraus folgenden „Identitätsverlust der betroffenen Völker und Volksgruppen“. In den „Sprachpolitische Leitlinien“ des „VDS“ heißt es entsprechend: „Immer mehr Sprecher und Schreiber in Europa übernehmen angloamerikanische Wendungen in ihren Sprachgebrauch. Diese Entwicklung ist nicht nur eine Modeerscheinung – sie schwächt vielmehr auch die sprachliche und kulturelle Eigenständigkeit der europäischen Länder bis hin zur politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Abhängigkeit Europas von den USA. Die sprachliche Eigenständigkeit als wichtigstes Merkmal der wirtschaftlichen und kulturellen Selbstbehauptung der europäischen Länder droht so allmählich verloren zu gehen.“

Die rechten Hüter

Der 1997 gegründete gemeinnützige VDS mit Geschäftsstelle in Dortmund ist die einflussreichste Organisation in der Lobby der Sprachschützer. Er zählte nach eigenen Angaben im Jahr 2011 rund 34.000 Mitglieder in über 100 Ländern und seine Vereinszeitung „Sprachnachrichten“ erscheint in einer Auflage von 30.000 Exemplaren. Im Jahre 2008 beschloss er eine Kooperation mit dem deutschtümelnden „Verein für Deutsche Kulturbeziehungen im Ausland“ (VDA). Es gelingt dem VDS auch prominente Fürsprecher zu gewinnen. Laut ihrer Homepage gehören zu den Mitgliedern unter anderem der Sänger Reinhard Mey, der Spiegel-Autor Matthias Matussek, und der Komödiant Dieter Hallervorden. Die Mitgliedschaft von konservativen Rechten wie dem verstorbenen Paneuropa-Union-Chef Otto von Habsburg oder der Vorsitzenden des „Bundes der Vertrieben“, Erika Steinbach, verwundert dagegen kaum.

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Dem VDS nahe steht der „IFB Verlag Deutsche Sprache GmbH“ mit Sitz in Paderborn. Zu dessen Autoren gehört auch Prof. Dr. Menno Aden aus Essen. Er ist Mitglied des VDS-Vorstandes, Vorsitzender der braunen „Staats- und Wirtschaftspolitischen Gesellschaft“ und „Alter Herr“ des „Corps Franconia“ Tübingen. Der Rechtsanwalt zählte im Übrigen auch zu den Erstunterzeichnern des „Manifestes gegen den Linkstrend“ in den Unionsparteien.

Der 2000 gegründete „Verein für Sprachpflege e. V. (VfS)“ mit Sitz in Erlangen ist ähnlich ausgerichtet wie der VDS. Der VfS gibt das Blatt „Deutsche Sprachwelt (DSW)“ mit einer Auflage von bis zu 50.000 Stück heraus. Erster Vorsitzender ist Thomas Paulwitz aus Erlangen, der seit 2002 Beiträge für die „Junge Freiheit (JF)“ verfasst und dem extrem rechten „Zuerst!“ (01/2010) ein Interview gab. Zudem ist er „Alter Herr“ der „VDSt zu Erlangen“ (Anm. des Autoren: „Verein Deutscher Studenten“) und Träger des „Gerhard-Löwenthal-Preis“, einer Auszeichnung aus dem Kreis um die JF.

Sprach“reinheit“ als Ziel

In Ignoranz um das Wesen von Sprachen wird versucht, die deutsche Sprache „rein“ zu halten beziehungsweise von Neuzugängen, die als „undeutsch“ wahrgenommen werden, zu „reinigen“. Auch wenn beispielsweise Prof. Dr. Walter Krämer, erster Vorsitzender des VDS, bestreitet „Fremdwortjäger“ zu sein. Doch in Wahrheit geht es den Sprachpuristen genau darum. Der Diskurs um das „Denglische“ lebt von der Vorstellung eines „reinen“ Deutsch, dass es vor englischen Vokabeln (Anglizismen) zu schützen gälte. An diesem Diskurs kann problemlos die extrem Rechte anschließen. Auch dort wird über Anglizismen diskutiert. Während jüngere Kameraden häufig lieber trendy sein möchten, kritisieren Traditionalisten und Angehörige der völkischen Szene diese Entwicklung. Bei ihnen heißt auch im Alltag das T-Shirt „T-Hemd“, das Internet „Weltnetz“, die CD „Lichtscheibe“ und aus dem Webmaster wird der „Netzwart“.

Unser INTRO aus der neuen Ausgabe 213 von der Redaktion vom #AntifaMagazin – jetzt online lesen. »Liebe Leser*innen,es gibt kein Entkommen…«www.der-rechte-rand.de/archive/1212…

#AntifaMagazin der rechte rand (@derrechterand.bsky.social) 2025-04-03T17:38:15.715Z

Intro 213


Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 213 - März | April 2025

Liebe Leser*innen,
es gibt kein Entkommen. Der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, Donald Trump, und seine Administration dominieren die Schlagzeilen, die Nachrichten, Kommentare, Kurznachrichten, Interviews und Dekrete. Ideen, Ankündigungen, Entscheidungen, zurückgenommene Beschlüsse und Gerichtsverfahren schütteln die nationale und internationale Politik – sehr zum Gefallen von Trumps Unterstützer*innen. Der Präsident sorgt für Aufregung und Empörung. Derweil setzen die zweite und dritte Reihe die im »Project 2025« entworfenen Leitlinien um. Fabian Virchow geht in seinem Text näher darauf ein. Aus dem Nonstop Output sticht ein Herzensprojekt von Trump hervor: Kanada möge doch endlich der 51st State der USA werden und der Premierminister Gouverneur – dann gäbe es keinen Grund mehr für die erhobenen Zölle. Kanada würde die USA auch nicht mehr übervorteilen. Solche existenziellen Drohgebärden würden in anderen Konstellationen als Kriegserklärung aufgefasst. Aber Trump hatte schon in der Vergangenheit eine Carte blanche – Mitte 2024 hatte er beim Supreme Court erreicht, dass Ex-Präsidenten für offizielle Amtshandlungen vor Strafverfolgung geschützt sind. Einen Teil seiner Macht hat er nicht trotz dieser Attitüde, sondern wegen seiner Missachtung aller zivilgesellschaftlichen und bürgerlichen Regeln. Das schließt auch die ein, die gerne von Konservativen für sich in Beschlag genommen werden. Seine Fans feiern ihn dafür, verknüpft mit der Drohung in Richtung derjenigen, die widersprechen. Das wird euphemistisch als »Disruption« der Verhältnisse begrüßt. Eine geradezu reaktionäre Lust auf den Rollback mit modernen Mitteln. Nicht ohne Grund sind die Chefs großer Internet- und Pressekonzerne mit auf den Zug aufgesprungen. Die Perspektive von hohen Gewinnen für wenige und Identitätspolitik für eine Hälfte und Zurücksetzung der anderen Hälfte der Bevölkerung erscheinen als erstrebenswertes Ziel. Trump macht es mit »The Art of the Deal« vor.

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Die »Disruption« ist auch hierzulande spürbar. Die vorgezogene Bundestagswahl ist gelaufen, der Wahlkampf wird von relevanten Teilen der CDU/CSU aber weitergeführt. Hauptziel von Spott und Häme sind Die Grünen. Dass die AfD der Union Stimmen im nahezu siebenstelligen Bereich abgenommen hat, scheint eher das Manöver »rechts überholen« zu befeuern. Wider besseres Wissen, entgegen wissenschaftlicher Erkenntnisse und der Erfahrungen des letzten Jahrzehnts. Die Aussicht auf eine Regierungsbeteiligung der AfD – zumindest auf Landesebene – ist kein realitätsfernes Szenario, wie Marcel Hartwig beschreibt. Natascha Strobl macht sich im Interview stark für die Fokussierung auf die soziale Frage und die Stärkung der Zivilgesellschaft als wirksame Mittel gegen die weitere Verschiebung nach rechts. Sich gemeinsam gegen die Zerstörung der liberalen Demokratie zu stellen, wird einiges fordern: manchmal Gelassenheit mit den Mitstreiter*innen, immer aber Zuversicht, Mut und Ausdauer.

Eure Redaktion

Die neue Ausgabe ist da. Hast du das #AntifaMagazin im Abo? Wenn nicht, warum nicht?www.der-rechte-rand.de/aboDas Magazin von und für Antifaschist*innen seit 1989. #antifa

#AntifaMagazin der rechte rand (@derrechterand.bsky.social) 2025-04-01T13:51:03.730Z

Marine Le Pen

von Bernard Schmid
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 212 - Januar | Februar 2025

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Noch ist Marine Le Pen in kein staatliches Amt gewählt – bislang bekleidete sie nur innerparteiliche Posten, als Parteichefin von 2011 bis 2022 und seither als Fraktionsvorsitzende – und aufgrund eines anhängigen Gerichtsverfahrens erscheint ihre politische Zukunft sogar theoretisch ungewiss. Doch schon führt sie sich nahezu wie eine Staatschefin auf. Staatspräsident Emmanuel Macron hält am Abend des 31. Dezember 2024 eine Neujahrsansprache im Fernsehen? Noch am Nachmittag des Silvester-Tags präsentiert Marine Le Pen, ebenso wie ihr Nachfolger im Parteivorsitz, der 29 Jahre junge Jordan Bardella, ihre eigene Neujahrsrede, übertragen über die sozialen Medien. Macrons Premierminister François Bayrou reist am 30. und 31. Dezember 2024 auf die, vierzehn Tage zuvor durch eine Wirbelsturmkatastrophe hart getroffene, Inselgruppe Mayotte, ein französisches »Überseegebiet« zwischen Madagaskar und Mosambik. Marine Le Pen kündigt ihre eigene Reise dorthin an, vom 5. bis 7. Januar 2025.

Bei Redaktionsschluss dieses Artikels war hingegen noch unklar, ob Le Pen tatsächlich, wie eine Reihe von Staats- und Regierungschefs, an der Amtseinführung von US-Präsident Donald Trump am 20. Januar teilnehmen würde. Die Fraktionschefin des neofaschistischen »Rassemblement National« (RN, »Nationale Sammlung«) behauptete, dorthin offiziell eingeladen worden zu sein. Allerdings bestanden daran zunächst Zweifel, da sie dies auch Anfang 2017 bei der ersten Amtsübernahme von Donald Trump behauptet hatte. Damals blieb sie allerdings im Erdgeschoss des »Trump Hotels« in New York hängen und wurde nicht zu ihm vorgelassen. Ob sich die Zeiten diesbezüglich geändert haben?

Strategische Innenpolitik
Weitgehend fest dürfte dagegen stehen, dass die RN-Politikerin in Paris in den letzten Monaten eine wichtige Schlüsselrolle bei der französischen Regierungsbildung spielte. Dies gilt sowohl für die Einsetzung der Minderheitsregierung des am 5. September 2024 durch Emmanuel Macron ausgewählten, knapp drei Monate später durch die Nationalversammlung gestürzten Konservativen Michel Barnier als auch für die Nachfolgeregierung unter dem Christdemokraten François Bayrou.
Am 23. Dezember 2024, dem Tag der Ernennung der Mitglieder des Regierungskabinetts von François Bayrou – er selbst war zehn Tage zuvor durch Staatspräsident Macron eingesetzt worden –, erklärte der nordfranzösische Regionalpräsident Xavier Bertrand, ein als moderater Konservativer geltender bürgerlicher Politiker, er habe es abgelehnt, in eine »mit dem Segen von Marine Le Pen gebildete Regierung« einzutreten. Wahrscheinlich ist, dass seine ursprünglich geplante Ernennung zum Justizminister an einem ausdrücklichen Veto der RN-Politikerin – Staatspräsident Macron konsultierte Marine Le Pen erklärtermaßen telefonisch – scheiterte. Seitens des RN wird Bertrand vorgeworfen, er habe sich wiederholt abschätzig bis verbal aggressiv über die Rechtsaußenpartei geäußert. Bertrand war 2015 in Abgrenzung von ihr zum Regionalpräsidenten in Lille gewählt worden. Zuvor war Anfang Dezember 2024 das Kabinett Barnier nach nur zehnwöchiger Regierungszeit gekippt worden. Dabei erwies sich letztlich die RN als treibende Kraft. Denn von ihrer Tolerierung in der Nationalversammlung hing die Regierung Barnier de facto ab. Das war ein Novum, eine Premiere in der Geschichte der Fünften Republik. Noch nie hatte eine Regierung auf der Unterstützung der extremen Rechten basiert.
Die RN hatte dabei keine feste Doktrin zur umstrittenen Haushaltspolitik, im Unterschied zur Linken – mehr Umverteilung durch Steuern für die höheren Einkommensklassen und Kapitalbesteuerung und der bürgerlichen Rechten – weniger Ausgaben für Soziales, Bildung, Gesundheit. Vielmehr oszillierte ihre Argumentation ständig zwischen beiden Polen hin und her, ohne allerdings den Widerspruch zwischen den beiden Grundpositionen zu markieren. Da auch die eigene Basis zunehmend gegen die Regierung eingestellt war, entschied sich die RN nun dazu, Barnier politisch über die Klinge springen zu lassen.
Die extrem rechte Partei stimmte somit dem Misstrauensvotum der Linksparteien zu, die von vornherein gegen die Austeritätspolitik Sturm liefen. Dabei waren die Antragsbegründungen von beiden Seiten einander diametral entgegengesetzt. Marine Le Pen betonte, die Linksopposition sei, so die Rednerin wörtlich, »unser Instrument«, wenn ihre Partei nun deren Misstrauensantrag zustimme. Und Abgeordnete der heterogenen Linksopposition ihrerseits wetterten, die Regierung habe »ihre Ehre verloren«, weil sie sich auf Techtelmechtel mit der extremen Rechten eingelassen habe und darauf setze, sich mit ihrer Hilfe an der Macht zu halten.

In Erwartung von Prozess und Urteil
Marine Le Pen verfolgt aber auch eine ganz eigene Agenda. Denn in dem Prozess, der ihr und ihrer Partei seit September 2024 wegen der Hinterziehung mehrerer Millionen von Geldern des Europaparlaments für den eigenen Parteiapparat gemacht wird, forderte die Staatsanwaltschaft am 13. November 2024 für Le Pen drei Jahre auf Bewährung plus zwei Jahre mit elektronischer Fußfessel sowie einen mehrjährigen Entzug des passiven Wahlrechts.

Bevor das Urteil verkündet wird, was für den 31. März 2025 in Aussicht gestellt ist, würde Marine Le Pen gerne eine vorgezogene Präsidentschaftswahl herbeiführen. Denn findet diese planmäßig 2027 statt, könnte ihr Name auf den Wahlzetteln fehlen. Ihrem innerparteilichen Mitstreiter und möglichen künftigen Kontrahenten Jordan Bardella möchte sie da nicht das Feld überlassen. Also würde sie gerne Macron politisch in die Enge treiben, um ihn aus dem Amt zu drängen. Auf diese Weise knüpft die RN, die in den Monaten zuvor strategisch vor allem darauf setzte, den Beweis ihrer bürgerlichen Respektabilität und erstmals auch ihrer Regierungsfähigkeit – durch sogenannten konstruktiven Umgang mit einem regierenden Kabinett – und ihres »Verantwortungsbewusstseins« anzutreten, wieder mit dem seit Jahrzehnten gepflegten Image als »Anti-System-Partei« an.

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Auch fand im Vorfeld der Urteilsverkündung – besonders unmittelbar nach Bekanntwerden der Strafforderungen der Staatsanwaltschaft – bereits eine rege Polemik über die Frage der unmittelbaren Rechtskräftigkeit des Urteils statt. Üblicherweise wird diese in der Mehrzahl der Strafrechtsfälle nach dem erstinstanzlichen Urteil ausgesetzt, um im Fall der Anrufung höherer Instanzen den Ausgang des Berufungs- respektive Revisionsverfahrens abzuwarten. Doch kann eine Strafrechtskammer mit eigener Begründung den sofortigen Vollzug eines Urteils anordnen, beispielsweise bei sofortigem Haftantritt wegen erwiesener Gefährlichkeit des Verurteilten oder besonderen Unrechtsgrads.

Einen solchen sofortigen Strafantritt forderte die Staatsanwaltschaft im Hinblick auf Marine Le Pen. Geht das Gericht darauf ein, würde dies voraussichtlich bedeuten, dass ihr ab Ende März 2025 schon der Entzug des passiven Wahlrechts droht, denn eine Verurteilung gilt als äußerst wahrscheinlich. Dagegen erhob sich aus unterschiedlichen Gründen – von Seiten ihrer Basis, doch aus anderen Motiven auch von anderen politischen und sonstigen Persönlichkeiten – ein Sturm von Widersprüchen. Auch der frühere Innenminister von Emmanuel Macron vor September 2024, Gérald Darmanin, erklärte lautstark, es sei der Demokratie abträglich, käme es zur sofortigen Umsetzung des Urteils. Nun wurde eben dieser Darmanin am 23. Dezember 2024 zum neuen Justizminister ernannt. Das ist zumindest ein pikantes Detail. Allerdings wird Darmanin auch im neuen Amt den Richterinnen und Richtern kein Urteil vorschreiben können, diese sind statutarisch unabhängig.

Sollte Marine Le Pen neben einer Reihe weiterer Granden der RN verurteilt werden und dieser Richterspruch nicht die sofortige Rechtsvollstreckung beinhalten, hätte sie wohl vor einem höchstrichterlichen Urteil in dritter Instanz genügend Zeit, um die Präsidentschaftswahl vorzubereiten, auch wenn diese turnusmäßig 2027 stattfindet. Andernfalls wird wohl Jordan Bardella an ihrer Stelle die Kandidatur bestreiten. Den Ausgang des Verfahrens wird Jean-Marie Le Pen – der Vater von Marine Le Pen und Gründer des »Front National«, der später in RN umbenannt wurde – nicht mehr erleben. Er starb am 7. Januar 2024 im Alter von 96 Jahren.
In beiden Fällen gilt allerdings, dass sich jedenfalls im Beispielsfall von Donald Trump erwies, dass Richtersprüche nicht notwendig abschreckende Wirkung auf Wählerinnen und Anhänger ausüben; unter Umständen können Verurteilungen durch viele von ihnen auch als »Ausweis der Verfolgung durch das System« und damit quasi als Ritterschlag interpretiert werden.

Die anderen doch auch …
Einen weiteren faktischen Verbündeten hat Marine Le Pen dabei auch in Gestalt des nun amtierenden neuen Premierministers François Bayrou. Auch er wurde nämlich in erster Instanz wegen illegaler Parteienfinanzierung des Mouvement Démocrate (Modem, Demokratische Bewegung) über das Europäische Parlament verurteilt – wegen der damals laufenden Ermittlungen musste er übrigens 2017 als Justizminister unter Macron zurücktreten –, in Berufung dann aber »aufgrund Mangels an Beweisen« Anfang Februar 2024 freigesprochen.

Seine Partei als juristische Person sowie mehrere ihrer sonstigen früheren Europaparlamentsabgeordneten wurden jedoch verurteilt. Ähnlich wie später der RN wurde ihnen vorgeworfen, ständiges Personal ihrer Parteizentrale fälschlich als angebliche Mitarbeiter*innen des Europaparlaments ausgewiesen zu haben, woraufhin dieses es bezahlt hatte. Allerdings ist die Beweislage im Falle der RN wesentlich erdrückender, denn hier wurde reichlich belastendes Material in deren Parteizentrale beschlagnahmt. Dazu zählen Dokumente zur Arbeitszeiterfassung bei Parteiangestellten, die belegen, dass sie entgegen anderslautenden falschen Angaben nie in Brüssel oder Strasbourg tätig waren, und E-Mail-Wechsel, aus denen sich unter anderem ergibt, dass vorgebliche parlamentarische Mitarbeiter »ihre« Europaparlamentsabgeordneten gar nicht kannten.

Und das gilt für jedes Land, das diesen Weg einschlägt. Nicht nur den #USA. Es fängt übrigens nicht mit Faschismus an, sondern damit, Faschisten Macht zu überlassen oder zu übergeben. #afdverbotjetztGroßes Interview mit @nataschastrobl.bsky.social im heute erscheinenden #AntifaMagazin

#AntifaMagazin der rechte rand (@derrechterand.bsky.social) 2025-03-31T09:22:10.756Z

Der lange Weg der Befreiung

Layout: Sören Frerks, Fotos: Mark Mühlhaus
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 212 - Januar | Februar 2025

Der 8. Mai steht für die Befreiung der Menschheit von der Barbarei.
Mit der Schlacht von Stalingrad und dem D-Day begann das Ende des Nationalsozialismus. Doch bis dahin sollte der Rassen und Kriegswahn der Nazis und ihrer Verbündeten weltweit noch viele Millionen Leben kosten. In den langen Monaten und Jahren dazwischen befreiten die Alliierten in Europa rund 1.000 NS-Konzentrations-, Vernichtungs- und Außenlager. Sie sahen den entmenschlichten Horror des Holocausts und das schiere Glück der Überlebenden.
Wenn wir in diesem Jahr den 80. Jahrestag des Sieges über den Faschismus feiern, wollen wir gerade in diesen Zeiten Gesicht und Haltung zeigen.

Dieses Plakat bitte downloaden, ausdrucken und aufhängen und gerne auch teilen. Im Büro, im Hausflur, im Klassenzimmer, in der Uni und natürlich auch in den sozialen Medien. Damit viele an die Jahrestage der Befreiung erinnert werden und an den Gedenkveranstaltungen teilnehmen.

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Erinnern und Gedenken
© der rechte rand, Layout: Sören Frerks, Fotos: Mark Mühlhaus

 

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Brandgefahr

von Volkmar Wölk
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 209 - Juli | August 2024

»Die Flut steigt weiter, und unser Sieg hat sich nur verzögert«

Eines wenigstens ist sicher nach dem zweiten Wahlgang in Frankreich: Jordan Bardella, Jungstar des »Rassemblement National« (Nationale Sammlungsbewegung, RN) und Zögling von Marine Le Pen, wird nicht der Nachfolger des neoliberalen Gabriel Attal als Ministerpräsident, obwohl der RN im ersten Wahlgang die mit Abstand stärkste politische Kraft geworden war. Stattdessen wird er jetzt seinen Sitz im Europaparlament einnehmen und dort als Fraktionsvorsitzender der »Patrioten für Europa« um die Gefolgsleute von Viktor Orbán die Politik der extremen Rechten betreiben. »Das Schlimmste vermeiden«, wie die auflagenstarke Wochenzeitschrift »Nouvel Observateur« nach dem ersten Wahlgang titelte, ist also gelungen.

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Warnung vor der Brandgefahr und dem Hass des »Rassemblement National« in Frankreich.


Ist es also bloß das berühmte Pfeifen im Walde, wenn Marine Le Pen unmittelbar nach der Wahl Optimismus verbreitet mit der Aussage »Die Flut steigt weiter, und unser Sieg hat sich nur verzögert«? Ist etwas dran an der Prognose, der Sieg der extremen Rechten habe sich lediglich verzögert? Immerhin ist ihr RN mit 143 Mandaten weit entfernt von der Mehrheit der 577 Sitze in der Nationalversammlung, obwohl die Siegesgewissheit bei Bardella so groß gewesen war, dass er verkündet hatte, er wolle nur dann Ministerpräsident werden, wenn seine Partei die absolute Mehrheit bekomme. Dazu wären 289 Sitze notwendig gewesen.

»Reconquête« (»Wiedereroberung«) atomisiert
Und trotzdem steht zu befürchten, dass Le Pen richtig liegt mit ihrer Voraussage. Die drittstärkste Kraft im Parlament war an den Urnen mit 37,1 Prozent in absoluten Zahlen der Wahlsieger. Der linke Wahlsieger, das Bündnis »Neue Volksfront« (Nouveau Front Populaire, NFP), verfügt über 182 Sitze, hat aber real nur die zweitmeisten Stimmen erreicht. Noch schlimmer traf es das den Präsidenten Macron stützende Parteienbündnis »Ensemble«, das nur noch 168 Sitze erhielt. Trotz des Verlusts von mehreren Dutzend Abgeordneten muss es froh sein, dass die Niederlage nicht noch drastischer ausfiel.
Le Pen kann stolz darauf verweisen, dass ihr RN fast drei Millionen Stimmen mehr erhalten hat als der NFP. Und dass die Zahl der Abgeordneten ihrer Partei in nur sieben Jahren von sechs auf 145 gewachsen ist. In der Tat: »Die Flut steigt weiter.« Und sie steigt schnell.


Le Pen kann zudem darauf verweisen, dass es gelungen ist, eine durchaus relevante Kraft im Lager der extremen Rechten förmlich zu atomisieren. Von »Reconquête«, der Partei des Journalisten Éric Zemmour, die bei der Europawahl noch mehr als fünf Prozent der Stimmen und fünf Abgeordnete geholt hatte, sind nur noch Trümmerteile geblieben. Marion Maréchal, Zugpferd der Partei und Nichte von Le Pen, hat die Partei gemeinsam mit drei der Europaparlamentarier verlassen, gefolgt von allen Vizepräsidenten und einem großen Teil der Partei. »Reconquête« hatte in der Vergangenheit einen wichtigen Anteil daran, gerade besser situierte Konservative für die extreme Rechte zu gewinnen. Weil die Positionen dieser Partei in manchen Bereichen sogar radikaler sind als die des RN, leistete sie zugleich einen Beitrag zur Strategie seiner Selbstverharmlosung.
Und wenn Marine Le Pen in der Stunde der Niederlage eine Erfolgsgeschichte erzählt, dann wird sie nicht vergessen zu erwähnen, dass aus der Brandmauer der Konservativen gegen die extreme Rechte wichtige Stücke herausgeschlagen worden sind. Diese halten nunmehr nur noch 45 Sitze im Parlament, doch hielt sich der Rückgang noch in Grenzen.

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Trotzdem sind die konservativen »Republikaner« (Les Républicains, LR) als Partei nahezu handlungsunfähig. Der Vorstand will den Vorsitzenden ausschließen; dieser wehrt sich juristisch. Jener Parteiführer ohne Partei, Éric Ciotti, wollte seine LR in ein Wahlbündnis mit dem RN führen. Nur eine Minderheit der Kandidierenden der Konservativen folgte ihm dabei. Der größere Rest folgte dem Aufruf zu einer »Republikanischen Front«, die den Verzicht des jeweils schlechter positionierten Kandidaten beinhaltete, wenn jemand vom RN im betreffenden Wahlkreis führte. Auch dieses Abkommen hat dazu beigetragen, dass die Verluste des LR relativ milde ausfielen.
Wenn also Le Pen behauptet, durch die Wahl habe sich der Sieg ihrer Partei lediglich verzögert, dann hat sie dafür gewichtige Argumente. Hinzu kommt, dass die regionale Verteilung der Stimmen für den RN gleichmäßiger ausfällt als in der Vergangenheit. Zu den traditionellen Schwerpunkten im Südosten Frankreichs und im Nordosten sind weitere Regionen hinzugekommen. Der Einbruch der extremen Rechten in frühere Bastionen der Kommunistischen Partei Frankreichs (PCF) ist fast vollendet. So hat deren Parteichef Fabien Roussel seinen Wahlkreis dort verloren. Einen Wahlkreis, der seit 1962 ununterbrochen von der PCF gehalten worden war. Deutliche Rückschläge dagegen hat es für den RN im Gürtel um Paris gegeben. Dort dominiert nunmehr der linke »La France insoumise« (»Das nicht unterworfene Frankreich«, LFI) um Jean-Luc Mélenchon.

Kassandra war eine Optimistin
Aber: Es war wider Erwarten gelungen, ein linkes Wahlbündnis ins Leben zu rufen, das gezeigt hat, dass der Aufstieg des RN tatsächlich aufzuhalten ist. Es war gelungen, dieses Bündnis unter dem Vorzeichen der Logik einer »Politik des Bruchs« mit dem Neoliberalismus zu sammeln, ihm sehr schnell ein Programm für die ersten hundert Tage zu geben, das den Weg zu einer sozialen und ökologischen Transformation bereitet. Es war doch gelungen, außerparlamentarische Bewegungen einzubeziehen – ob über die Kandidatur eines prominenten Sprechers der Bürger*innen-Initiativen gegen die Schnellbahnstrecke Lyon-Turin oder die des prominenten Antifa-Aktivisten Raphaël Arnault. Er wurde von den Behörden als Sicherheitsrisiko eingestuft und wird künftig für LFI im Parlament sitzen.
Es war doch gelungen, eine Dynamik zu entwickeln, die zwischen den Wahlgängen mehr als hundert zivilgesellschaftliche Organisationen – von Greenpeace und Oxfam bis zur Liga für Menschenrechte – in einer gemeinsamen antifaschistischen Kundgebung mit mehreren zehntausend Teilnehmenden zusammenführte. Auch alle Gewerkschaften unterstützten den NFP, obwohl sie sich traditionell in Frankreich nicht in Wahlkämpfe einmischen. Auch der Versuch, gerade junge Menschen im und für den Wahlkampf zu aktivieren, war ein Erfolg.


Und doch steht zu erwarten, dass die Zusammenarbeit nicht lange Bestand haben wird. Längst haben die Hinterzimmergespräche begonnen mit dem Ziel, den Erfolg des NFP nachträglich zu konterkarieren. Eine Diffamierungskampagne besonders gegen LFI und Jean-Luc Mélenchon persönlich läuft bereits seit längerer Zeit und wird intensiviert. Während das Linksbündnis – verständlicherweise – den Anspruch erhebt, die Regierung zu stellen, werden im Vorfeld persönliche Eitelkeiten einzelner Beteiligter deutlich. LFI hat sich im Vorfeld der Wahlen gegenüber seinen Partnerparteien in vielen Punkten kompromissbereit gezeigt und in Kauf genommen, dass sie selbst am wenigsten vom Mandatszuwachs der Linksparteien profitiert. Aber die Nachgiebigkeit dürfte nicht beliebig dehnbar sein. Die Probleme dürften vor allem bei den in sich vielfach gespaltenen Sozialdemokraten liegen, die als Sozialistische Partei (PS) firmieren. Es ist schwer vorstellbar, dass eine Politik des Bruchs mit dem Neoliberalismus mit Abgeordneten wie dem ehemaligen Präsidenten François Hollande umzusetzen sein wird, der selbst die Verkörperung des Neoliberalismus ist und dessen Produkt der aktuelle Präsident Macron ist.


»Tatsache ist, dass die sozialistische Partei alle ihre Versprechen und Ideale verraten hat. Es ist klar, dass die als ‹Volksfront› bezeichnete Bastelei noch immer die Last dieses Erbes trägt«, urteilt der Philosoph Jacques Rancière in einem Interview mit dem »Philosophie Magazin«. Und so gibt es fast erste Anzeichen dafür, die Sozialisten könnten das Linksbündnis nur als Mittel zum Zweck mitgetragen haben. Der NFP hat keine eigenständige Mehrheit, könnte nur als Minderheitsregierung handeln. Das gilt zwar auch für das Parteibündnis, das Macron stützt. Dieses jedoch ist viel weniger programmatisch festgelegt, sondern an der Machtausübung ausgerichtet. Und genau diese Möglichkeit der Teilhabe an der Macht dürfte die Sozialdemokraten verführbar für Angebote aus dem bisherigen Regierungslager machen.


Wie könnte ein solches Angebot aussehen? Posten in einer Regierung, die vom konservativen LR über Ensemble bis hin zum PS reicht. Fügt man diese drei Kräfte zusammen und rechnet etliche unabhängige Abgeordnete hinzu, kommt man in den Bereich der absoluten Mehrheit. Die Unterstützung durch die in Frankreich deutlich nach rechts gewanderte Medienlandschaft wäre sicher. Die Sorgen der Unternehmer*innen wegen eines Linkskurses im sozialen Bereich, der ihre Gewinne kräftig schmälern würde, wären gebannt. Der Jubel aus dem Ausland, besonders aus Deutschland, über diese Lösung wäre nicht zu überhören. Bereits jetzt hat es SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert vermieden, seinen französischen Genoss*innen zu ihrem Erfolg zu gratulieren. Vom früheren SPD-Staatsminister Michael Roth kommt vehemente Hetze gegen den LFI und besonders gegen Mélenchon.
Nennt mich also ruhig Kassandra, aber dieser Weg der französischen sozialistischen Partei – aus staatspolitischer Verantwortung, versteht sich – ist absehbar. Die Folgen ebenso. Eine Neuauflage der Volksfront bei kommenden Wahlen wäre damit undenkbar. Und Marine Le Pen würde, zurückgelehnt in ihrem Sessel, kommentieren: Ich habe es doch gleich gesagt. Unser Sieg hat sich nur verzögert.

Wenn es nicht so scheiße schlimm wäre – Musk perfekt dargestellt.www.youtube.com/watch?v=KjVo…

#AntifaMagazin der rechte rand (@derrechterand.bsky.social) 2025-03-02T17:32:31.472Z

Zurück in die ganz alte BRD

von Floris Biskamp
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 212 - Januar | Februar 2025

Die Wirtschafts- und Sozialpolitik der AfD

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AfD-Kundgebung in Bitterfeld-Wolfen © Mark Mühlhaus / attenzione

Will man die wirtschafts- und sozialpolitische Positionierung der AfD verstehen, muss man sie in die allgemeine Parteiideologie einbetten. Das von der Partei gezeichnete Bild einer idealen Gesellschaft sieht ungefähr so aus: Weiße Mittelschichts-Deutsche leben in heterosexuellen Partnerschaften und haben mindestens 2,1 deutsche Kinder, um die sich die Mutter zu Hause kümmert. Die Väter fahren fünf Tage pro Woche mit ihrem deutschen Verbrennerauto von ihrem Eigenheim zu ihrem (Industrie-)Arbeitsplatz, an dem sie mindestens Facharbeiter sind. In der Freizeit pflegen sie deutsche Traditionen und leben ihre »freie Meinungsäußerung« im Internet aus. Die ideale Wirtschaft imaginiert die AfD als relativ harmonische Einheit aus dieser hart arbeitenden Mittelschicht auf der einen Seite und anständigen, innovativen und fürsorglichen kleinen oder mittelgroßen »Familienunternehmen« auf der anderen. Wie in Deutschland üblich bezeichnet sie sowohl die »Mittelschicht« als auch die »Familienunternehmen«, also sowohl Facharbeiter*innenfamilien als auch Multimillionär*innen, als »Mittelstand«. Die Staatsvorstellung ist na-tional und traditionalistisch: Der Staat soll sich so weit wie möglich zurückhalten, aber das geschilderte Modell und den Wettbewerb aktiv absichern – eben ordoliberal. Er soll einen nationalen Ordnungsrahmen schaffen und die Einzelnen auffangen, wenn sie unverschuldet in eine Notlage geraten oder nach einem leistungsreichen Leben in den Ruhestand gehen. All das fasst die Partei unter dem Schlagwort »Soziale Marktwirtschaft« und knüpft damit an kulturell etablierte Bilder von Wirtschaft und Gesellschaft an.


In der Vorstellung der AfD kam die deutsche Gesellschaft diesem Ideal in der Vergangenheit einmal recht nahe, ist aber in den letzten Jahrzehnten vom rechten Weg abgekommen – der Kern des Programms ist BRD-Nostalgie. Das, was von diesem Ideal noch übrig sei, werde nun bedroht – insbesondere durch »Massenmigration«, durch »Klimaideologie«, durch die »demografische Katastrophe«, durch »korrupte Politiker«, durch »woke Ideologie« sowie durch internationale Institutionen, die nationale Souveränität zersetzten.

Bundestagswahl: Fokus auf die Wirtschaftspolitik
Mit ihrem Programmentwurf für die Bundestagswahl 2025 legt die AfD zum ersten Mal seit über zehn Jahren wieder ein bundesweites Programmdokument vor, in dem die Wirtschafts- und Sozialpolitik im Vordergrund steht.



Die entsprechenden Kapitel stehen im Entwurf ganz vorne und nehmen deutlich mehr Raum ein als früher. Die Entscheidung, die wirtschafts- und sozialpolitischen Programmpunkte im Schaufenster in die erste Reihe zu rücken, sollte vor dem Hintergrund der gesamtgesellschaftlichen Debattenlage interpretiert werden. Deutschland befindet sich nach zahlreichen Indikatoren in einer wirtschaftlichen Krise. Viele Wähler*innen haben in den letzten Jahren erhebliche Reallohnverluste erlitten und die Ankündigungen von Werksschließungen und Stellenabbau bei großen Industriebetrieben nähren die Ängste vor Deindustrialisierung und Arbeitsplatzverlust.

Fast alle Beobachter*innen und Akteur*innen aus Wissenschaft, Politik und Wirtschaft sind sich darin einig, dass es grundlegender wirtschaftspolitischer Impulse bedarf. Sie können sich aber nicht darauf einigen, worin diese bestehen sollen. Somit ist abzusehen, dass sozioökonomische Themen im Wahlkampf eine erhebliche Rolle spielen werden. Entsprechend wird sich die AfD hier sichtbarer aufstellen. Dies gilt umso mehr, weil sie in der Wirtschafts- und Sozialpolitik bislang nur wenig wahrgenommen wird. Auf Feldern wie Migration oder Islam muss die AfD kaum noch etwas sagen, weil ihre Position hinlänglich bekannt ist und ihre Aussagen kaum noch Nachrichtenwert haben. Auf sozioökonomischen Feldern hat die Partei dagegen allen Grund ihr Profil zu schärfen.

Gängige Halbwahrheiten
In Bezug auf die Position, die die AfD in Wirtschafts- und Sozialpolitik bezieht, zirkulieren einige Halbwahrheiten, die zunächst ausgeräumt werden sollten. Die erste lautet, die Partei sei sozioökonomisch »nach links« gerückt, stehe also anders als früher für mehr Staatsintervention und Umverteilung – wenn auch beschränkt auf ein ethnisch definiertes deutsches Volk. Diese These ist besonders bei denjenigen beliebt, die meinen, die Linke habe sich mit einer allzu »kosmopolitischen« Orientierung zu sehr der »Identitätspolitik« gewidmet und daher »die Arbeiterklasse verloren«, was die Rechten nun mit ihrer neuen »kommunitaristischen« Ausrichtung ausnutzen würden. Das ist eine plausibel klingende Erzählung, sie passt aber kaum zu den Daten. Auch in ihrem jüngsten Programmentwurf bekennt sich die AfD lautstark zur Freiheit des Marktes und zu einem Verständnis von Leistungsgerechtigkeit, bei dem es vor allem darum geht, dass Menschen, die ökonomisch zu wenig »leisten«, bloß nicht zu viel »Leistung« vom Wohlfahrtsstaat erhalten sollen. Wie unter anderem Matthias Diermeier herausarbeitete, finden die meisten Wähler*innen der Partei das auch gut so – die die Partei unterstützenden Milliardäre ohnedies.

Dennoch ist die Gegenthese, der zufolge die wirtschafts- und so-zialpolitische Position der AfD heute immer noch genauso neoliberal ist wie in den Gründungsjahren, ebenfalls nur eine Halbwahrheit. Es stimmt zwar, dass man die Position in der Gründungszeit und die Position von heute jeweils als »neoliberal« kategorisieren kann, jedoch hat sich vieles verändert. Wenn man am Neoliberalismusbegriff festhalten möchte, muss man sagen, dass die Partei heute anders neoliberal ist als früher. In ihrer Gründungsphase folgte sie einer recht kohärenten und wissenschaftlich grundierten national-ordoliberalen Doktrin. Im Laufe der Zeit wurde diese Doktrin durch eine Kombi-nation verschiedener ideologischer Versatzstücke aufgebrochen. Insbesondere wurde die Programmatik viel nationalistischer und illiberaler. Deutlich mehr als in den Anfangsjahren verspricht die AfD auf der einen Seite den Schutz der Interessen bestimmter realer und imaginierter Gruppen, die sich angeblich um Deutschland verdient machen, sowie auf der anderen Seite die Abwehr vermeintlich gefährlicher Gruppen, die Deutschland und seinen Fleißigen angeblich nur schaden. Eine weitere Halbwahrheit besagt, dass die Debatte in der Partei durch einen Konflikt zwischen einem »solidarisch-patriotisch« beziehungsweise »völkisch-antikapitalistisch« orientierten Lager auf der einen und einem wirtschaftsliberalen Lager auf der anderen Seite geprägt sei. Auch das ist eingängig, entspricht den Daten aber nur in Teilen. Zwar gibt es die »solidarisch-patriotische« Position im Umfeld von Björn Höcke durchaus. Zugleich beziehen jedoch einige andere, die mit extrem rechten, üblicherweise als »völkisch« bezeichneten Äußerungen auffallen, scharf marktliberale Positionen.

Klientelpolitik
Schaut man sich die Policy-Vorschläge aber etwas genauer an, zeigt sich eine deutliche Unwucht: Ökonomisch käme eine Realisierung des AfD-Programms vor allem einkommens- und vermögensstarken Bevölkerungsgruppen zugute – sehr viel eher dem »Mittelstand« im Sinne von »familienunternehmerisch« tätigen Multimillionär*innen als dem »Mittelstand« im Sinne von Facharbeiter*innen. Dafür sorgt insbesondere die stark regressive Steuerpolitik, aber auch Teile der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik deuten in diese Richtung. Die Partei weckt zwar rhetorisch die Erwartung, dass ihre Politik Rentner*innen, Kurzzeitarbeitslosen und Kranken, die zuvor ihre Leistungsbereitschaft gezeigt haben, eine stabile Absicherung böte. Allerdings macht sie keine relevanten Vorschläge, die die entsprechenden Sicherungssysteme wirklich stärken könnten. Bei Arbeitslosengeld und Bürgergeld sollen im Gegenteil sogar Einschnitte erfolgen, was auch die Position von Arbeitnehmer*innen verschlechtern würde.

Alleinstellungsmerkmale: Klima- und Russlandpolitik
Auf dem wirtschafts- und sozialpolitisch sehr relevanten Feld der Klima- und Energiepolitik kann die AfD zwei Alleinstellungsmerkmale bieten, die allenfalls das BSW gefährden könnte. Das erste ergibt sich aus der Leugnung des menschengemachten Klimawandels. Die anderen Bundestagsparteien unterscheiden sich zwar deutlich voneinander, wenn es darum geht, wie viel Bedeutung sie der Klimapolitik beimessen. Jedoch sind sie sich zumindest offiziell darin einig, dass es einen menschengemachten Klimawandel gibt, der vor allem durch die Emission von Treibhausgasen verursacht wird. Die AfD bestreitet dagegen eben dies und lehnt entsprechend alle Maßnahmen zur Begrenzung der globalen Erwärmung ab.
Das zweite Alleinstellungsmerkmal liegt auf dem Feld der Russlandpolitik: Die meisten Parteien im Bundestag sind sich seit 2022 darüber einig, dass eine Unabhängigkeit von russischem Gas unumgänglich ist, die AfD sieht das jedoch anders – ebenso wie das BSW. Auch wenn es noch gewisse innerparteiliche Konflikte darum gibt, wie nahe man Russland genau stehen möchte, bezieht die Partei als ganze die Position, dass Russland ein zuverlässiger Handelspartner sei und jegliche Sanktionspolitik beendet werden solle – vor allem, weil sie Deutschland wirtschaftlich schadet.

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Politisch relevant wird diese doppelte Alleinstellung, weil eine aktive Klimapolitik sowie ein Verzicht auf billiges russisches Gas kurzfristig in der Tat erhebliche negative Folgen für Wirtschaft, Wohlstand und gewohnte Formen der Lebensführung in Deutschland haben. Alle anderen Parteien müssen hier mit Zielkonflikten umgehen und politisch schwierige Abwägungen anstellen. Weil die AfD jedoch die entsprechenden Probleme schlicht verleugnet, kann sie einfach behaupten, dass es gar keine Zielkonflikte gibt. Damit kann die Partei zur routinierten politischen Mobilisierung übergehen. Die Ablehnung von Klimapolitik und Russlandsanktionen wird in das oben genannte Weltbild eingebettet und nationalistisch, populistisch sowie verschwörungsideologisch ausgedeutet: Die faulen politischen Eliten gefährdeten mit ihrer korrupten, irrationalen und ideologischen Politik den Wohlstand und das gewohnte Leben der ehrlichen »Mitte«.

Diese Positionen sind moralisch und faktisch unhaltbar. Sie basieren nicht nur auf falschen Annahmen. Eine entsprechende Politik würde bereits mittelfristig erhebliche negative Auswirkungen produzieren, die auf einen deutlich größeren Wohlstandsverlust hinausliefen, als umgekehrt ein Verzicht auf fossile Energieträger. Das heißt aber nicht, dass man bei Wahlen damit keinen Erfolg haben könnte.

Hat wer mitgezählt, wie viele Spendenskandale es mit der AfD schon gab? Scheint auch so ein deutscher Einzelfall zu sein, dass Reiche den Faschisten Geld spenden. Immer wieder. www.zdf.de/nachrichten/…

#AntifaMagazin der rechte rand (@derrechterand.bsky.social) 2025-02-19T12:20:50.696Z

Rückkehr der Schwarzhemden?

von Florian Weis
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 210 - September | Oktober 2024

Über die Macht und Grenzen des gewalttätigen Mobs, der nach den Morden von Southport in Großbritannien wütete.

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Nigel Farage
Roland Geisheimer / attenzione

Am 29. Juli 2024 ermordete ein siebzehnjähriger junger Mann in der nordwestenglischen Stadt Southport drei Mädchen im Alter von sechs bis neun Jahren und verletzte weitere acht Kinder und zwei Erwachsene zum Teil schwer. Der Mörder ist in Wales als Kind von Einwander*innen aus Ruanda geboren worden. Die Polizei stufte die Taten als Morde und Mordversuche, jedoch nicht als Terroranschlag ein. Nichtsdestotrotz verbreiteten sich in den sozialen Medien in kürzester Zeit Gerüchte und Lügen, der Attentäter sei ein Geflüchteter und Muslim. Am 30. Juli griff dann ein Mob – ein Begriff, der bei aller gebotenen Vorsicht hier angemessen erscheint – in Southport mit heftiger Gewalt Polizist*innen und eine Moschee an. In den folgenden Tagen weiteten sich die Riots auf viele andere Städte aus, wobei die Midlands, Liverpool und große Teile Nordenglands Schwerpunkte der Gewalt waren, die auch Belfast in Nordirland und, in geringerem Maße, London erreichten.
Die von hoher Brutalität gekennzeichneten Angriffe richteten sich in erster Linie gegen Polizist*innen, Geflüchtete und – wirkliche oder vermeintliche – Muslime. Die Gewalt und die Zerstörung von privatem wie öffentlichem Eigentum, zum Sinnbild wurde die Spellow Lane Library in Liverpool, erinnerten an die anders gelagerten Riots 2011. Das Ausmaß der Gewalt gerade gegen die Polizei überstieg jedoch frühere Konfrontationen.

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Rechter Mob in Southport.

Proteste und staatliche Reaktionen
Die Welle der Gewalt hielt mehrere Tage an, ehe sie dann stark abebbte. Daran haben Gegenproteste und Solidaritätsaktionen in vielen Städten, die nach einigen Tagen sichtbar wurden, einen großen Anteil, mehr aber noch das massive staatliche Vorgehen von Regierung, Polizei und Justiz. Viele Instrumente, die aus antifaschistischer und liberal-libertärer Sicht höchst problematisch erscheinen,, erwiesen sich in den ersten August-Tagen als außerordentlich wirksam gegen die massive Gewalt: eine überregional einsetzbare Riot Police, Schnellverfahren vor Gerichten, die in dieser Kürze und mit solch hohen Strafen in Deutschland kaum möglich wären, eine öffentliche Anprangerung der Gewalttäter*innen durch Fotos und Namensnennungen. Bereits nach wenigen Tagen waren erste Personen zu teils mehrjährigen Haftstrafen verurteilt worden, die bisher längste verhängte Strafe beläuft sich auf neun Jahre. Die Altersspanne der festgenommenen und angeklagten Personen reicht von 11 bis 70 Jahren; in Großbritannien ist die Strafmündigkeit niedriger als in Deutschland. Fast alle Verurteilten sind Jungen oder Männer, wenngleich sich in den größeren Menschenmengen, die sie unterstützten, auch viele Frauen fanden.

Hinter den gewalttätigen Ausschreitungen stand keine zentrale Organisation, Führung oder geschlossene Ideologie wie bei den Organisationen des Faschisten aus der Oberschicht, Sir Oswald Mosley, in den 1930er und 1940er Jahren. Das machte die rechte Gewalt zunächst unberechenbar. Angefeuert durch die seit Jahren ausgeprägte Hetze in den einschlägigen sozialen Medien konnte die Mobilisierung schnell gelingen und eskalieren, sich jedoch angesichts der staatlichen Entschiedenheit und zivilgesellschaftlicher Gegenwehr nicht halten. Die neue Labour-Regierung unter Premierminister Keir Starmer, ein ehemaliger Leiter der Strafverfolgung in England und Wales, und Innenministerin Yvette Cooper erwies sich als handlungswillig und -fähig. Beide stehen für eine harte innenpolitische Linie im Sinne von Tony Blairs Slogan von 1997 »tough on crime, tough on the causes of crime«.

Richtungskampf auf der Rechten
Der »böse Geist« der britischen Politik des letzten Jahrzehnts, Nigel Farage, dessen »Reform UK Party« am 4. Juli 2024 über 14 Prozent der Stimmen und fünf Unterhausmandate gewann, übte sich in dem für Rechtspopulist*innen üblichen Spagat von Distanzierung gegenüber der Gewalt bei gleichzeitigen Verständnisbekundungen für die vermeintlichen Ursachen der Eskalation. Die besonders vulgäre und extreme Frauenverachtung des ehemaligen Kickboxers und Influencers Andrew Tate hatte Farage schon im Wahlkampf, bei dem seine Partei einen großen Stimmenzuwachs unter jungen Männern erzielte, für sich zu nutzen versucht, indem er sich als eine etwas moderatere, aber in der Wirkung auf junge Männer ähnliche Figur wie Tate bezeichnet hatte. Eben dieser Andrew Tate hatte über seine Social-Media-Kanäle nun die Krawalle angestachelt.

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Das Ziel von Farage ist es, entweder die konservative Partei noch weiter nach rechts zu drängen und in eine Partei der Art seines Freundes Donald Trump zu verwandeln, oder sie als die rechte Hauptalternative zur sozialdemokratischen Labour Party zu ersetzen. Beide Szenarien sind bedrohlich für die Zukunft der britischen Demokratie. Von den zunächst sechs Kandidat*innen für die Nachfolge von Rishi Sunak an der Spitze der Konservativen hat sich erwartungsgemäß der einzig wirklich zentristische Kandidat, Tom Tugenhat, eindeutig gegen die Ausschreitungen und für eine harte Reaktion ausgesprochen, allerdings auch einige rechte Hardliner*innen wie die frühere Innenministerin Priti Patel, die mittlerweile aus dem Rennen ausgeschieden ist. Andere Vertreter*innen des rechten Parteiflügels, wie Robert Jenrick und mehr noch Kemi Badenoch und Suella Braverman, ließen diese Klarheit vermissen, die bei Angriffen auf Polizei, Staat und Eigentum für Konservative selbstverständlich sein sollte.


Ob sein ambivalentes Reagieren Nigel Farage schaden wird, darf angesichts der Erfahrungen in anderen europäischen Ländern und seiner eigenen wiederholten Comebacks bezweifelt werden. Entscheidender wird auf lange Sicht sein, ob die neue Labour-Regierung reale Verbesserungen für die Lebensverhältnisse in jenen Teilen Nordenglands und der Midlands erreichen kann, in denen die Riots besonders massiv waren, und ob die konservative Partei den seit spätestens 2016 anhaltenden Trend einer rechtspopulistischen Radikalisierung stoppen und eine »Brandmauer« zur rechten Gewalt herstellen will und kann.

Gegen Antisemiten und gegen Rassisten „Ich fühle mich als Sieger, nicht als Opfer“ #Holocaust Überlebender Leon Weintraub »Die Diskussion endete mit einem Faustschlag, der wohlgemerkt von dem damals 80-jährigen Leon Weintraub ausging.«taz.de/Holocaust-Ue…

#AntifaMagazin der rechte rand (@derrechterand.bsky.social) 2025-02-05T10:03:44.307Z

 

Zeitgeschichtliche Differenz

von David Begrich
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 211 - November | Dezember 2024

Dass und wie die politische Kultur Ostdeutschlands aufgrund ihrer Vorgeschichte in der DDR anders tickt als im Westen, gerät in der politisch medialen Debatte um den Erfolg der AfD in Ostdeutschland rasch aus dem Blick. Davon will die Partei profitieren.

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Eine ostdeutsche Identität als Volk, das sich wehren kann, und auch Bezüge zur DDR werden nicht nur von der AfD bei Veranstaltungen und Wahlen propagandistisch genutzt. Auch auf der Straße spielt die Identitätspolitik in Ostdeutschland eine Rolle.
© Mark Mühlhaus / attenzione

Zum Ende des Wahlkampfs in Thüringen im vergangenen August hatten die AfD-Wahlkampfstrategen einen besonderen Termin angesetzt: eine kollektive Ausfahrt mit dem Moped der Marke »Simson« im von Höcke avisierten, aber letztlich nicht gewonnenen Wahlkreis Greiz in Ostthüringen. Begleitet von dem rechten Streamer Sebastian Weber und dem Filmautor Simon Kaupert vom »Filmkunstkollektiv« ging es mit Geknatter durch den Wahlkreis. Dass sich Björn Höcke auf dem DDR-Kultmoped »Simson S51« in Szene setzt, ist kein Zufall. Die AfD macht gern Politik mit Emotionen. In Ostdeutschland sucht sie dabei Anschluss an die kulturelle Erinnerung und das Bewusstsein der Ostdeutschen für die zeitgeschichtliche Differenz ihrer Alltagserfahrungen zu Westdeutschland. Die »Simson« scheint hierfür ein ideales Objekt der Verdinglichung ostdeutscher kultureller Erinnerung, gerade im ländlichen Raum. Sie war in der DDR DAS Geschenk zur Jugendweihe, weil sie Jugendlichen und jungen Erwachsenen ein Stück elternunabhängige Mobilität und damit Freiheit verlieh. Mit der Indienstnahme der lebensweltlichen Bedeutung des »Simson«-Mopeds verknüpft die AfD die kulturelle Erinnerung an sie mit dem, was Björn Höcke als politische Botschaft übermitteln will: eine politisierte Emotion, die über die Erinnerung an die »Simmi« hergestellt wird. »Simmi«, so der von Höcke verwendete Kosename für das Ost-Moped, stehe für »alte Tradition« und »Gemeinschaft«, aber auch »für die Jugend«. Höcke spielt die genehmen Fragmente einer ostdeutschen Identitätskarte dort aus, wo er seine ostdeutschen Adressat*innen für eine nationalistische Gesamterzählung der AfD in Dienst nehmen will, um diese als Gegenentwurf zum von ihm verachteten amerikanisierten und westlich dekadenten Liberalismus zu präparieren.

Das »deutschere« Deutschland
Ostdeutschland, das aus Sicht der extremen Rechten wohl eigentlich als Mitteldeutschland bezeichnet werden sollte, erscheint der AfD seit langem als das eigentliche, weil deutschere Deutschland. Dieser Befund ist keineswegs nur über die nach wie vor hohe Homogenität der Bevölkerung und einen signifikant geringeren Anteil von Migrant*innen charakterisiert. Ebenso von Bedeutung ist die in Ostdeutschland quer durch die politischen Lager verlaufende Skepsis bis Ablehnung gegenüber mannigfaltigen Aspekten der Westorientierung der alten Bundesrepublik. Ihre Ursache hat dies in der zeitgeschichtlichen Erfahrung mehrerer ostdeutscher Generationen, die der alten Bundesrepublik entgegengesetzt sind. Sie erlebten die Systemauseinandersetzung des kalten Kriegs nicht aus der Perspektive des Westens, sondern jener der DDR. Dieses andere politisch-historische Koordinatensystem prägt bis heute Denk- und Verhaltensmuster der Erwachsenengenerationen in Ostdeutschland. Von daher deuten Menschen im Osten ihre Gegenwart anders als in Westdeutschland. Nirgendwo tritt das derzeit offener zu Tage als in der Debatte um den Ukraine-Krieg. Eine Mehrheit der Ostdeutschen lehnt die Unterstützung der Ukraine mit Waffen ab und misstraut der Parteinahme des Westens zu ihren Gunsten. Mehr noch: Die Empathie eines Teils der Ostdeutschen gilt Russland oder gar der russischen Politik in Europa und damit wohl auch dem russischen Angriffskrieg. Ihre politische Artikulation finden diese Positionen, inhaltlich durchaus unterschiedlich akzentuiert, in den Politikangeboten von AfD und BSW.

Die Endlichkeit politischer Ordnungen
Eine Bezugnahme auf ostdeutsche Erfahrungs- und Erinnerungs­räume ist für die AfD indes nicht neu. Bereits in den ostdeutschen Landtagswahlkämpfen des Jahres 2019 suchte die Partei rhetorisch Anschluss an das zeitgeschichtliche Bewusstsein der Ostdeutschen. Eine durchaus nachvollziehbare Strategie. Haben doch schon in der Frühphase der AfD die zeitweiligen Mobilisierungserfolge von PEGIDA gezeigt, wie gut der Mythos des widerständigen Ostens gegen »die da oben« funktioniert. 2014/2015 wurden bei PEGIDA mit dem Slogan »Wir sind das Volk« Anspielungen auf die Montagsdemonstrationen 1989 gemacht, womit sich eine vermeintliche Legitimation durch »das Volk« gegeben und gleichzeitig an die wirkmächtige Erzählung vom Systemumsturz angeknüpft werde. Dieses Motiv nahmen die Corona-Proteste und die ostdeutschen Bauernproteste wieder auf und radikalisierten es. Mit Slogans wie »Vollende die Wende« appellierte die AfD an die kollektive zeitgeschichtliche Erfahrung der Ostdeutschen von der Endlichkeit politischer Ordnungen, die den Westdeutschen gänzlich fehlt. Zugleich setzte sich die Partei in den ostdeutschen Landtagswahlkämpfen als legitime Erbin der Bürgerrechtsgruppen der DDR ein, die konsequent heutige Formen politischer Obstruktion benenne und ihr politisch entgegentrete. Die damit in der politischen Kommunikation verbundene Parallelisierung der gesellschaftlichen Umstände in der Spät-DDR mit jenen in der Gegenwart der Bundesrepublik geschieht durchaus in der Absicht, die Situation im Land so darzustellen, als befinde sich die Bundesrepublik auf einer abschüssigen Bahn Richtung Diktatur. Kein Wunder also, dass das später in Teilen gekippte Verbot der Zeitschrift »Compact« von rechts mit dem Verbot der sowjetischen Zeitschrift »Sputnik« am Ende der DDR verglichen wurde.

Kalkül und Chance
Ostdeutschland als besondere politische Ressource für die AfD zu erschließen, dafür plädiert seit Jahren der rechte Publizist Benedikt Kaiser. In dem 2020 erschienenen Aufsatz »Die Besiegten von 1990« in der Zeitschrift »Sezession« argumentiert Kaiser unter Bezug auf die rechten Vordenker Hans Joachim Arndt und Caspar von Schrenk-Notzing, die Ostdeutschen verharrten im Status der Besiegten von 1989/90, da sich ihr Anspruch auf die Verwirklichung ihres politisch auch national gefärbten Eigensinns mit der deutschen Einheit nicht eingelöst habe. Kaiser beschreibt Ostdeutschland für die AfD denn auch als »Laboratorium (…), in dem die politische Rechte auf engem Gebiet und unter 12,5 Millionen Deutschen jene kulturellen, politischen und mentalitätsspezifischen Restbedingungen findet, die für ihre Renaissance als ernstzunehmende und gesellschaftsprägende Kraft nötig wären«. Damit setzt Kaiser fort, was in den 1990er und 2010er Jahren in den NPD-Zeitschriften »Deutsche Stimme« und »Hier&Jetzt« wiederkehrend erwogen wurde: dass die extreme Rechte zur Normalisierung ihrer Politik in ganz Deutschland zunächst im Osten nicht nur dauerhaft etabliert, sondern Anschluss gefunden habe an die Mentalitäten dort. Vom Osten aus könne sodann der angestrebte Umbau der Gesellschaft von rechts beginnen. Verbunden mit dieser Vorstellung sind die Erfahrung und die Diagnose der extremen Rechten, es werde für sie in Westdeutschland vorerst erheblich schwerer sein, die Resonanzräume für rechte Politik und Machtbeteiligung zu öffnen.

Vom DDR-Pionierlied zur »patriotischen Hymne«?
Im Wortsinn auf der Klaviatur ostdeutscher Identität spielt die Coverversion des DDR-Schulbuchlieds »Unsere Heimat«, das der rechte Musiker Sacha Korn 2021 zusammen mit dem Kabarettisten Uwe Steimle (s. drr Nr. 201) in Kooperation mit dem Kampagnen-Netzwerk »Ein Prozent« veröffentlicht hat. Der Text des Lieds, das alle Grundschüler*innen in der DDR lernten, ist eine schlichte Beschreibung der Schönheit der Natur, verbunden mit der Botschaft, dass »die Heimat dem Volke gehört«. Damit war in der DDR zweifelsohne der Bezug zum Volkseigentum gemeint. Für die extreme Rechte ist diese Aussage jedoch in ihrer inhaltlichen Mehrdeutigkeit ebenso in Richtung Nationalismus lenkbar. Das dazugehörige Video schafft auf der Bildebene Assoziationen, welche die Ambivalenz des Lebensgefühls vieler in der DDR aufgewachsener Menschen anspricht: Es geht um jene prägenden Erinnerungsräume, die in der Bundesrepublik keine Repräsentation auf Augenhöhe beziehungsweise eine kulturelle Abwertung durchliefen. Das DDR-Kinderlied »Unsere Heimat«, so war bei der Veröffentlichung von der extrem rechten Agentur ein »Ein Prozent« zu lesen, solle zur »patriotischen Hymne« werden.


Die gegenwärtig wiederkehrenden ostdeutschen Identitätsdebatten führen in ihrem breiten Strom allerhand reaktionär-regressives Treibgut mit sich, aus dem sich die AfD je nach tagespolitischer Lage zu bedienen weiß. Ostalgie, Diktatur-Vergleiche und das Anspielen der emotionalen Ambivalenz kollektiver Erinnerung an die DDR und die Transformationszeit sind der Garant dafür, dass, wenn die AfD oder ihr politisches Umfeld auf ostdeutsche Themen Bezug nimmt, dies auch deshalb Wirkung entfaltet, weil derzeit keine andere Partei die ostdeutschen Themen so offensiv besetzt, wie die AfD es tut. Wer die Aneignung ostdeutscher Themen durch die AfD als einen Fall nostalgischen Sandmännchenkitschs abtut, unterschätzt, auf welche Weise mit der kulturellen Erinnerung der Ostdeutschen emotionale Politik gemacht werden kann. Das ist kein Plädoyer für regressive Ostalgie, sondern für einen historisch-kulturell sensiblen und kundigen Umgang mit den ostdeutschen Resonanzräumen in der Gegenwart.

Volksverhetzer Merz mit Verstoß gegen § 130 StGB?Es braucht nicht nur Zuckerberg oder Musk im Netz. Es braucht auch Lügen im #Bundestag und Hetze und Hass – es genügt der Kandidat #Merz der #CDU in AfD-Manier.

#AntifaMagazin der rechte rand (@derrechterand.bsky.social) 2025-02-03T09:52:55.992Z