der rechte rand

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Druckzeitpunkt: 27.07.2024, 02:13:39

Aktuelle News

Ärger mit der Querfront

von Lucius Teidelbaum
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 183 - September | Oktober 2012

Erstmals erschien die Zeitschrift »Compact« im Dezember 2010. Das am Kiosk erhältliche Magazin ist das Organ der Querfront-Truppe »Volksinitiative gegen das internationale Finanzkapital«, die sich 2009 um Jürgen Elsässer, den Chefredakteur des Blattes, formierte.

Anfänglich grenzte sich der Gründer und Chefredakteur der Zeitschrift »Compact«, Jürgen Elsässer, noch nach Rechtsaußen ab (s. drr Nr. 103, 104), als es 2006 die ersten kritischen Hinweise auf seinen Kurs nach Rechts gab. Mittlerweile zeigt er sich jedoch immer offener für die Rechte und paktiert mit Islamisten. So war er im April 2012 mit einer deutschen Reisegruppe im Iran, um an einer Privataudienz mit dem Präsidenten des Landes, dem Holocaustleugner und Islamisten Mahmud Ahmadinedschad teilzunehmen. Elsässer und seine Mitstreiter waren sich mit dem Autokraten sicher auch in ihrer Haltung zu Israel und dessen Einfluss in der Welt einig. 2009 rief die »Volksinitiative« zum Protest gegen den Besuch des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu auf: »Am 30.11. findet in Berlin eine Veranstaltung der besonderen Art statt: eine gemeinsame deutsch-israelische Regierungssitzung. Wie darf man das verstehen? Ist Frau Merkel so nebenbei auch Kanzlerin Israels geworden? Und Herr Netanjahu so ganz nebenbei auch zum deutschen Premierminister avanciert?« Auf der Homepage von »Compact« heißt es dazu passend: »Wer den Begriff »Konzentrationslager« auf die deutsche Vergangenheit beschränkt, wird die Realität von Abu Ghraib und Guantánamo nicht beschreiben können. Wer vom »Zionismus« nicht reden darf, muss auch vom Faschismus schweigen.«
Das seit Anfang 2010 erscheinende Magazin »Compact« illustriert, wofür Elsässer und seine »Volksinitiative gegen das internationale Finanzkapital« stehen. Es ist ein Konglomerat von Verschwörungstheorien, rechtem Populismus, Geschichtsrevisionismus, Homophobie und Antifeminismus. Das Magazin versteht sich als ein »einzigartiges publizistisches Experiment« und als »Gegengift zur politischen Korrektheit, also zur Ideologie der Neuen Weltordnung, die in den Massenmedien und auch in der linken Presse zum unantastbaren Tabu geworden ist.«


Die Auflage des Blattes lag nach eigenen Angaben im Mai 2012 bei 12.000 Exemplaren. 1.700 Stück sind abonniert und 7.500 Hefte gehen an die Kioske, wovon aber nur etwa 2.800 tatsächlich verkauft werden. Die Werbung im Magazin zeigt, an wen sich das Blatt wendet. Es finden sich Anzeigen vom extrem rechten »Ares Verlag«, dem »neu rechten« Strategieblatt »Sezession«, dem rechtsesoterischen und rechtspopulistischen »Kopp Verlag« und der »Preußisch Allgemeinen Zeitung«. »Compact« selbst warb für sich und einen von dem Blatt veranstalteten Vortrag mit dem rechten EU-Gegner Karl-Albrecht Schachtschneider auch in der »neu rechten« Wochenzeitung »Junge Freiheit« (JF).
Mit seiner »Volksinitiative« und »Compact« versucht sich Elsässer an einer Sammlungsbewegung. Doch statt der erhofften Massen findet sich nur ein Narrensaum zusammen, der kaum unterschiedlicher sein könnte. Elsässers Truppe ist eine wilde Mischung aus Ex-Linken, enttäuschten Rechten, Verschwörungs-IdeologInnen, Marktradikalen und einigen Muslimen. Mit den Worten des Herausgebers ausgedrückt, sollen sich in dem Magazin »demokratische Linke und demokratische Rechte, intelligente Muslime und intelligente Islamkritiker, Occupisten und Teaparty-Gänger« sammeln. Auch in der friedensbewegten Szene versuchen Elässer und Co. AnhängerInnen zu rekrutieren. Nationalpazifistische Argumente, Antiamerikanismus, Israel-Hass und Verschwörungstheorien bieten die Grundlage, um in einem Teil der Bewegung an bestehende Denkstrukturen anzudocken.
Das Magazin setzt auf rechte, populistisch aufgemachte Titel wie »Schulfach Schwul – Die sexuelle Umerziehung unserer Kinder« (Nr. 9/2011), »Raubtier-Feminismus – Nein danke!« (Nr. 7/2011), Sarrazin »Der nächste Bundeskanzler« (Nr. 10/2010) oder »Grass? Hat Recht!« (Nr. 5/2012). Solche Themen sind anschlussfähig an die extreme Rechte. Mit seinem heterogenen Charakter ist »Compact« derzeit aber (noch) kein extrem rechtes Blatt. Es ist ein Scharnier zwischen der extremen Rechten und den angrenzenden Grauzonen.


Der politische Kern der »Compact« ist Nationalismus, was auch an der häufig verwendeten Ansprache der LeserInnen als »wir Deutschen« festzustellen ist. Das Schwerpunkt-Thema der letzten Hefte ist das Feindbild EU und die Forderung »Zurück zur D-Mark!« (Nr. 10/2011). Mit seinem D-Mark-Nationalismus will das Blatt in breiten Bevölkerungsteilen punkten. Einen Eindruck vom Anti-EU-Populismus der »Volksinitiative« konnte man am 9. November 2011 bei einem Vortrag bei der rechten Berliner »Burschenschaft Gothia« gewinnen. Sie hatte zu einem Vortrag zum Thema »Die Eurokrise – Ursachen und Verursacher« eingeladen. Der Referent war der Berliner Peter Feist von Elsässers »Volksinitiative« und Autor im »Kai-Homilius-Verlag«, wo »Compact« und Feists Buchreihe erscheinen. Feist versteht sich als »Kommunist« und »alter Dialektiker« und betonte: »Mein Gegner ist das internationale Finanzkapital, das hat sich seit der DDR nicht geändert«. Er behauptete: »Es gibt keine größere Macht als das internationale Finanzkapital«, eine »Finanzoligarchie« arbeite gar an der Zerstörung der Nationalstaaten. Weil Teile der Linken das nicht erkennen, hätte er sich von ihr abgewendet. Heute müsse man den »Nationalen Widerstand« gegen Brüssel organisieren und die »Nation (…) retten, nicht den Kommunismus vorbereiten«.
Die »Stärkung des deutschen Nationalstaats gegen die EU-Diktatur« ist für Feist eine der wichtigsten Forderungen an eine Partei, die er unterstützen könnte. Doch dafür sei man noch immer auf der Suche nach einem passenden Projekt. Die Partei »Die Freiheit« sei, so Feist, nicht die richtige. Einige seiner »konservativen Freunde« seien von der Partei wegen deren »Kotau in Jerusalem« wieder abgerückt, erzählte er. 2010 hatte der Vorsitzende der Partei, René Stadtkewitz, mit Vertretern europäischer Rechtsparteien Israel besucht und aus antimuslimischen Motiven mit rechten Israelis eine Kooperation begonnen. Ursprünglich hätten Elsässer und Co. die Gründung einer eigenen Partei geplant, berichtete Feist. In ihr sollten dann die rechte und neoliberale »Partei der Vernunft« (PdV), Teile von »Die Freiheit« und den »Freien Wählern Berlin« aufgehen. Die Gründung sollte eigentlich nach der Konferenz »Bürger gegen Euro-Wahn – eine Wahlalternative« der »Volksinitiative« am 28. Januar 2012 der Öffentlichkeit verkündet werden. Doch seit dem ist von einer Parteigründung nichts mehr zu hören.

»Rinks« und »lechts«
Für »Compact« schreiben AutorInnen von rechts wie von links. Niki Vogt aus Elbingen (Rheinland-Pfalz) verfasste unter dem Pseudonym »Josefine Barthel« den homophoben Leitartikel »Schulfach Schwul«. Ansonsten schreibt sie Online-Texte für den »Kopp Verlag«. Ebenfalls Autor von »Compact« ist Rolf Stolz aus Köln, Mitglied von »Bündnis90/Die Grünen« und regelmäßiger Autor einer Kolumne in der JF. Artikel von ihm erschienen auch in den rechten Blättern »Sezession«, »wir selbst« und den »Burschenschaftlichen Blättern«. Auch der JF-Autor Jan von Flocken schreibt in »Compact«. Mit Michael Klonovsky, einem Freund der »Neuen Rechten« und »Chef vom Dienst« beim »Focus«, gab er das Buch »Stalins Lager in Deutschland 1945-1950« heraus. Auch der regelmäßige Kolumnist von »Focus Money« und Gründer der PdV Oliver Janich ist Autor in Elsässers Blatt, ebenso der ehemalige Direktor des Bundesrates und niedersächsische Ex-Kultusminister Georg-Bernd Oschatz (CDU). Der Honorarprofessor an der Verwaltungshochschule Speyer hielt am 7. Oktober 2001 die Festansprache beim österreichischen »Ulrichsbergtreffen« von Veteranen der Wehrmacht und der Waffen-SS. Ein ganz anderer Autor der »Compact« ist Stephan Steins, Herausgeber der antizionistischen und antiamerikanischen Internetzeitschrift »Die Rote Fahne«. Er forderte einst einen »Schuss mehr gesunden Patriotismus und Konservatismus«. Und der Österreicher Hannes Hofbauer schreibt nicht nur für »Compact«, sondern auch regelmäßig für das antiimperialistische Magazin »Intifada« aus Wien. Der Islam-Konvertit und Anwalt Andreas Abu Bakr Rieger schreibt ebenfalls für »Compact« und ist Autor in deren Buchreihe (»Weg mit dem Zins«). Rieger ist Vorsitzender der muslimischen Konvertiten-Sekte »al-Murabitun« und Herausgeber der »Islamischen Zeitung«, die in ihrem Online-Shop auch die »Compact« anbietet. »Al-Murabitun« wurde in den 1970ern in Spanien gegründet und knüpft in Deutschland auch an das Gedankengut der »Konservativen Revolutionäre« der Weimarer Republik an. Auf der Jahresversammlung der radikal-islamischen »Kaplan-Bewegung« 1993 sagte Rieger: »Wie die Türken haben wir Deutschen in der Geschichte schon oft für eine gute Sache gekämpft, obwohl ich zugeben muss, dass meine Großväter bei unserem gemeinsamen Hauptfeind nicht ganz gründlich waren.«

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Das Umfeld
Hinter der »Compact« steht der nach seinem Verleger benannte »Kai-Homilius-Verlag«. 1994 als Verlag für Reiseführer gegründet, war das Unternehmen anfänglich eher links zu verorten. Der heute in Werder (Havel) ansässige Verlag bezeichnet sich selbst als »politisch nicht korrekt«. Für den Inhaber Homilius sei »das alte rechts-links-Schema unbrauchbar geworden«. Das Verlagsangebot ist stark antiamerikanisch, antizionistisch und verschwörungstheoretisch geprägt. Es gibt Bücher mit Titeln wie »Zionismus und Faschismus. Über die unheimliche Zusammenarbeit von Zionisten und Faschisten« oder »Ariel Sharon – ein hoffähiger Faschist«. Eine Video-Reihe von »Compact«, zumeist Mitschnitte von Vortragsveranstaltungen, vertreibt der »Schild-Verlag« aus Elbingen (Rheinland-Pfalz). Er warb für sein Sortiment per Anzeige auch in der JF.

Querfront
Die extreme Rechte in Deutschland beobachtet Elsässers Projekte mit Sympathie, wovon zum Beispiel positive Berichte in der JF oder der »National-Zeitung« (NZ) zeugen. So lobte die NZ die »Querfront gegen den Euro«. Auch organisatorisch ist »Compact« fest in den rechten Blätterwald eingebunden. Den Verkauf und das Anzeigen-Geschäft übernimmt der »Berliner Medien Vertrieb« (BMV). Er ist laut einer Anzeige in der JF aus dem Jahr 2008 ein »Auslagerungsprojekt« der »neu rechten« Wochenzeitung und organisiert den Anzeigen-Vertrieb für die JF, das marktradikale Kampfblatt »eigentümlich frei«, das erzkatholische Magazin »Komma« und das rechtslastige Mittelstandsmagazin »Der Selbstständige«. Auch mit dem Magazin »Unzensuriert« von dem Politiker der extrem rechten »Freiheitlichen Partei Österreichs« (FPÖ) und Mitglied der rechten »Wiener Burschenschaft Olympia«, Martin Graf, gibt es einen Austausch von Online-Bannern auf den Websites.
Die Überschneidung von Teilen der Linken und Teilen der extremen Rechten findet sich nicht nur in der AutorInnenschaft, sondern auch in der LeserInnenschaft. Laut einer LeserInnenumfrage, an der sich 2011 »mehrere hundert« Personen beteiligten, ist der typische Leser von »Compact« männlich (85 Prozent). 21 Prozent der LeserInnenschaft informieren sich außerdem mit der JF und anderen rechten Publikationen. Neun Prozent geben an, sie lesen die Tageszeitung »Junge Welt« oder andere linke Zeitschriften. Ob das aber schon für eine große Querfront reicht, ist fraglich.

Zwei Jahre Pandemie

von Sören Frerks
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 196 - Mai | Juni 2022

Nachdem die PEGIDA-Bewegung an Mobilisierungskraft verloren hat, sehnt die »Neue Rechte« mit den Corona-Protesten die nächste Chance zur nationalen Revolte herbei.

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QAnon Fahne in Berlin © Mark Mühlhaus / attenzione

Wer in die Reihen der gegenwärtigen Proteste gegen die Corona-Schutzmaßnahmen schaut, bekommt den Eindruck, dass vor allem eine Mischszene von der »Alternative für Deutschland« (AfD) über Neonazis bis zu rechten Hooligans versucht, darin zum Taktgeber zu werden. Mancherorts führen Rechte die Aufmärsche an oder setzen diese wie zum Beispiel in Bautzen, Greiz und Cottbus gegen die Polizei durch.
Bei den Ideolog*innen und Propagandist*innen der »Neuen Rechten« nährt das die Sehnsucht nach einem Volksaufstand. Auf die Ernüchterung nach den PEGIDA-Jahren folgte in der Pandemie ein neuer Impuls – auf den Straßen und in der neurechten Diskussion. Das dürfte auch daran gelegen haben, dass sich für sie ihre eigenen Prophezeiungen bewahrheiteten – zumindest in Momentaufnahmen.

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Erst Skepsis, dann Größenwahn
Neun Tage nach Ausrufung der Pandemie in der Bundesrepublik meinte der Querfront-Phantast Heino Bosselmann in »Sezession«: »Stellt sich innerhalb des nächsten Monats nicht die‚ von der ›Wissenschaft‹ prognostizierte Durchseuchung mit all ihren furchtbaren Folgen ein, werden sich die Menschen die massiven Einschränkungen ihrer Grundrechte nicht mehr bieten lassen. Ihre Angst dürfte zunächst in kecken Unmut, dann aber in Widerstand umschlagen. Das würde die Gesellschaft spürbar verändern, mit unklarer Prognose.« Die Pandemie wurde immer mehr zum nationalrevolutionären Fanal auserkoren, damals noch verbunden mit einer gewissen Demut vor dem, was kommen könnte: »Nur schreibt sich das eben allzu leicht hin, solange man nicht intubiert ist oder (…) auf ein Bett in der Intensivstation hofft.«


Spätestens der herbeigewünschte und letztlich doch gescheiterte »Sturm auf den Reichstag« im August 2020 machte die Marschrichtung klar. »Fast jeder wird sich auf den Weg machen«, um »in Millionenstärke etwas auf die Straße« zu bringen, begeisterte sich die angegraute Eminenz des neu-rechten »Instituts für Staatspolitik«, Götz Kubitschek. Sein Ziel wie so oft: »den Protest zu verstetigen«.
Obwohl solch rechte Herren ihre eigenen Selbstüberschätzungen regelmäßig in elitärer Skepsis ertränken, schüren die Aufmärsche und deren Kontinuität den Wunsch nach dem Aufstand. Und so wünscht der »Sezession«-Verleger Kubitschek: »Hoffen wir, dass nach jeder Demonstration, nach jeder neuen Zwangsmaßnahme wieder tausend Bürger diesem Staat verlorengehen.«

Persönliche Wahrheiten
Der »Compact«-Chefredakteur Jürgen Elsässer wiederum entledigte sich erst jüngst der wissenschaftlichen Evidenz von weltweit bald sechs Millionen erfassten Toten durch COVID-19 anhand seines eigenen Krankheitsverlaufs. Der Tenor: Die »Panik-Medizin halluziniert« die Gefahr herbei und ohnehin habe die fehlende Impfung sein persönliches Risiko für einen schweren Verlauf gesenkt. In Wirklichkeit sei alles eine »Corona-Inszenierung« des Staates, dem er sowieso »abgrundtiefes Misstrauen« entgegenbringe – sei es nun bei BSE, Schweinegrippe oder der Pandemie. Nicht ohne zu betonen: »Das BRD-Regime ist schwach und hält sich nur an der Macht, weil sich zu Viele zu wenig trauen.« Schon ist man mitten drin in der Welt der Verschwörungserzählungen und so wird aus jeder Krise ein Anlass zur Revolte.


Versucht die »Sezession« den Schein der seriösen Debatte zu wahren, ist bei »Compact« die Vulgarität Elsässers ständiger Aufmacher. Das neue personifizierte Feindbild ist vor allem der jetzige Gesundheitsminister Karl Lauterbach, der das Cover (2/2022) mit einem stilisierten Hitlerbart ziert. Vor einem Jahr fragte der Titel gar rhetorisch: »Wollt ihr den totalen Lockdown?«, passend zur Holocaust-Relativierung durch »Judensterne« mit der Aufschrift »ungeimpft« auf den Corona-Märschen. »Compact« gibt sich propagandistisch als Mobilisierungsblatt – eine Ausrichtung, die sich bezahlt machen dürfte. Mit geschätzt mehreren zehntausend verkauften Exemplaren hat das Magazin die größte Strahlkraft im gesamten Rechtsaußen-Milieu.

Futter für die Straße
Die einst fabulierte Distanz zwischen der »Neuen Rechten« und der gewaltförmigen Praxis, so es sie überhaupt gab, ist längst Geschichte. In einer »Compact«-Ausgabe zeigt sich Elsässers Kumpane Martin Sellner zufrieden mit den Auseinandersetzungen auf den Straßen gegen die »biopolitische Diktatur«: »Die Corona-Proteste haben sich gewandelt (…) und sind kämpferischer geworden.« Nicht ohne im Folgenden indirekt Empfehlungen für das Agieren zu geben und zu fabulieren: »Es darf keinen zweiten ›Reichstagssturm‹ geben«, der »in einer sinn- und folgenlosen Aktion verpufft«. Soll heißen, ganz oder gar nicht. Dazu passt, dass Sellners »Identitäre Bewegung« die Aufmärsche zum Anlass nimmt, ihr gescheitertes Biedermeier-Image abzulegen. Gerade in Cottbus, wo »Identitäre«, AfD und Neonazi-Hooligans eng zusammenstehen, haben sich die Reihen weiter geschlossen. Der Kampf um die Straße und die Parlamente, den schon die NPD propagierte, ist in der Debatte und der Agitation der »Neuen Rechten« in vollem Gange.

Inszenierung und Narrativ

von Felix Schilk
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 201 - März | April 2023

Politische Konversionen gibt es in beide Richtungen. Dass die Ex-Linken lauter und sichtbarer sind, hat strukturelle Gründe.

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Jürgen Elsässer mit Putin Titel vom Compact Magazin auf der Buchmesse 2018 in Leipzig. © Mark Mühlhaus / attenzione

Henning Eichberg gilt als eine der Gründungsfiguren der »Neuen Rechten« in Deutschland. Mit den Ideen des »Ethnopluralismus« und der »nationalen Identität« wollte er die aus dem modernen Universalismus entspringende Entfremdung bekämpfen. Weil er sich dabei auf den Philosophen Michel Foucault berief und Begriffe der kulturellen Vielfalt und der Dezentralisierung gegen Imperialismus und Kolonialismus ins Feld führte, galt er in den 1970er Jahren als Querfronttheoretiker und Nationalrevolutionär. 1982 ging er nach Dänemark und wurde dort Professor für Sportsoziologie und Mitglied der Sozialistischen Volkspartei. Sein Denken blieb antiuniversalistisch und volksbezogen, allerdings entfernte er sich im Laufe der Zeit habituell und moralisch von der »Neuen Rechten«, in der er kurz vor seinem Tod »fremdenfeindliche Hetzer« mit »militärischem Habitus« und »narzisstischem Körperkult« erkannte. Ob Eichberg dadurch vom Rechten zum Linken wurde, kann man unterschiedlich beurteilen. Interessant ist aber, wie stark sich sein Weg aus der »Neuen Rechten« von dem der zahlreichen ex-linken Renegaten in die »Neue Rechte« unterscheidet.


Jürgen Elsässer galt bis in die Zeit nach 9/11 als linker Journalist, obwohl er schon immer durch einen militärischen Habitus und einen narzisstischen Körperkult auffiel. Er debütierte im Umfeld des Kommunistischen Bundes, entdeckte in den 1990er Jahren seine Faszination für den serbischen Nationalismus und erklärte in den Nullerjahren die USA und das »globale Finanzkapital« zum Hauptfeind. Seine im September des letzten Jahres erschienene Autobiografie »Ich bin ein Deutscher. Wie ein Linker zum Patrioten wurde« ist eine endlose Schilderung persönlicher und beruflicher Streitereien. Mit Elsässer hielt es niemand lange aus. Auf der privaten Ebene das gleiche Bild: Frauen, im Buch detailliert nach ihrer »Fickbarkeit« bewertet, wurden verlassen und übergriffig behandelt. Schuld am Niedergang der Linken soll aber der Feminismus sein, der als »hinterfotziges Mittel im Linienkampf missbraucht worden war«. Kritische Leser*innen erkennen schnell, dass Selbstgerechtigkeit und Misogynie die Hauptachsen von Elsässers politischem Koordinatensystem bilden.

Triumph der Selbstgerechtigkeit
Wenn man Eichberg mit Elsässer vergleicht, sieht man die wesentlichen Gründe für das Phänomen der Renegaten wie in einem Brennglas. Eichbergs kulturkritische Entfremdungskritik, die man in den letzten Jahren so ähnlich auch bei den Querdenker*innen studieren konnte, ist der Missing Link zwischen rechtem Authentizitätsfimmel und linksanarchistischem Zivilisationsressentiment. Seine durch die Sportsoziologie vermittelte geschlechtersensible Reflexion des männlichen Körperpanzers brachte ihn aber auf Distanz zu seinem politischen Herkunftslager. Ähnlich erging es vor einigen Jahren wohl der ehemaligen neurechten Influencerin Lisa Licentia, die die Ränkespiele und LGBTQI-Feindlichkeit in den Reihen der »Identitären« und der »Alternative für Deutschland« (AfD) als Grund für ihren Ausstieg nannte. Der rote Faden in Elsässers Biografie ist der Hass auf Feminismus, Political Correctness und Selbstreflexion. Er mag einige inhaltliche Kehrtwenden vollzogen haben, ist sich habituell aber treu geblieben. Ex-linke Renegat*innen wie Elsässer sind deshalb viel lauter und unangenehmer als ex-rechte Renegat*innen wie Eichberg oder Licentia.


Die Abkehr vom rechten Milieu geht in der Regel mit Scham, Reue und emotionaler Arbeit einher, die einen zeitweiligen Rückzug aus der Öffentlichkeit erfordert und den Wunsch nach Wiedergutmachung aufkommen lässt. Die Ankunft im rechten Milieu ist hingegen häufig ein Triumph von Überlegenheitsgefühlen, Geltungssucht und Selbstgerechtigkeit, der ostentativ zelebriert wird. Egal ob Horst Mahler, Bernd Rabehl, Reinhold Oberlercher oder Günter Maschke, sie alle genossen oder genießen die selbstgewählte Rolle als Enfant terrible. Und weil sich Selbstgerechtigkeit besser inszenieren und erzählen lässt, sind in der Öffentlichkeit vor allem die ex-linken Renegat*innen präsent. Man kann sie als Figuren in einem Ich-fixierten Mythos verstehen. Ihr Weg von links nach rechts ist vor allem eine öffentlich kommunizierte Konversionserzählung, die wie jede rechte Geschichtspolitik in erster Linie identitätsstiftend ist. Das typische Narrativ der ex-linken Renegat*innen, sich selbst treu geblieben zu sein, entlastet von der Verantwortung für die eigene biografische Vergangenheit.

Die Verlockung der Narrative
Dass die ex-linken Renegat*innen so viel sichtbarer sind, liegt aber auch daran, dass die Renegat*inneninszenierung strukturell rechts ist. Ein verbreitetes Motiv ist das »Erweckungserlebnis«, wie es auch für apokalyptische Texte und Verschwörungserzählungen typisch ist. Als guter Populist reklamiert der ex-linke Renegat den gesunden Menschenverstand und dünkt sich zugleich als Teil einer Elite, die den Mainstream hinter sich gelassen hat. Er kultiviert männliche Tugenden wie Stärke, Opferbereitschaft und Mut und kann alte Feindbilder und Dichotomien einfach durch neue ersetzen.
Generell funktionieren rechtes Denken und Schreiben viel stärker über Narrative als die mehr durch Analyse und theoretische Konsistenz, aber auch Dogmatik und Orthodoxie geprägten linken Texte. Narrative sind flexibler als Theorie und anschlussfähiger an unterschiedliche politische Sozialisationen. So kann jede*r die rechten Erzählungen nach Gusto variieren, solange er oder sie die großen Motive von Dekadenz, Menschenrechtsimperialismus und fehlender Souveränität beständig wiederholt. Es stimmt ja, dass sich Rechte seltener an begrifflicher Unschärfe oder ideologischen Inkohärenzen stoßen und das richtige Pathos für wichtiger als die Wahrheit erachten. Die Querfront wird daher überwiegend von rechts gesucht. Das macht es den ex-linken Renegat*innen verhältnismäßig leicht, ihre Schreibe auf rechts zu drehen.

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Gekränkte Autodidakt*innen
Der Vergleich von Eichberg und Elsässer zeigt auch die Auswirkung unterschiedlicher Berufsbiografien. Eichberg habilitierte sich mit einer historischen Arbeit über den modernen Sport und verfolgte danach eine relativ geradlinige wissenschaftliche Karriere. Elsässer hat als Lehrer gearbeitet und ist in allen anderen Bereichen Autodidakt. Es ist kein Zufall, dass dieser Typus bei den ex-linken Renegat*innen ebenso häufig auftritt wie der des gescheiterten und zum Publizisten gewordenen Akademikers. Während die wissenschaftliche Arbeit dafür sensibilisiert, die eigenen und fremden Theoriegebäude systematisch von außen zu betrachten, zeichnen sich Autodidakt*innen dadurch aus, dass sie Wissen häufig selektiv und interessengeleitet rezipieren. Sie sind Schatzsucher*innen und Entdecker*innen, erleben Lektüre als Abenteuer und tendieren zu intellektueller Überheblichkeit. Das macht sie anfälliger für Narrative und verständnisloser für gesellschaftliche Paradigmenwechsel. Weil sie keine Methoden gelernt, sondern Wissen akkumuliert haben, droht ihnen mit jedem Generationenwechsel eine kränkende Entwertung ihres kulturellen Kapitals.


Die Renegat*innenpose ermöglicht es, dieses entwertete Wissen auf neue Weise zu kapitalisieren. Überhaupt lassen sich rechts bessere Geschäfte machen als in der notorisch klammen linken Szene. Laut Georg Seeßlen ist die politische Konversion daher auch ein vielversprechender Ausweg aus der ökonomischen Erfolglosigkeit: »Nehmen wir an, der ‹Linke›, der seine biographischen Ziele erreicht hat, neige eher zu einer Verbürgerlichung oder zu einer Einrichtung in einer, sagen wir, post-linken, selbstreflexiven Schrumpfkultur, so können wir im Konvertiten wohl einen Menschen sehen, der noch immer nicht geworden ist, was er hat werden sollen.«

Agent provocateur
Viele sozialpsychologische Studien zeigen einen Zusammenhang von biografischen Kränkungen und Autoritarismus, der sich in Form des klassischen extremen Rechten, aber auch als Reichsbürgerei, verschwörungsideologischer Eifer oder esoterischer Weltschmerz äußern kann. Schon Richard Hofstadter hat in seinem klassischen Text über den »Paranoid Style in American Politics« auf eine Verbindung von paranoiden Persönlichkeitsstrukturen und Renegat*innentum hingewiesen.
Jüngst haben Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey das Phänomen eines libertären Autoritarismus skizziert, der sich darin zeigt, dass er Freiheit nicht sozial und politisch, sondern rein individualistisch denkt. Dieser Autoritarismus sucht nach Selbstwirksamkeit und findet sie in trotzigen Gesten der Provokation und Selbstviktimisierung, die das rechte Lager eher goutiert. Libertären Spontis, Situationist*innen und Maoist*innen fällt die politische Konversion daher leichter als bürokratiefixierten Stalinist*innen.


Mit diesen Motiven vor Augen könnte man nun Risikoprofile für Renegat*innenbiografien erstellen. Wo antiuniversalistische Entfremdungskritik und elitäre Dekadenzdiagnosen auf einen narrativen Schreibstil treffen, ist der reaktionäre Turn vorgezeichnet. Wo Demut als Schwäche vor dem Feind gering geschätzt wird, droht die One-Man-Show des abtrünnigen Revolutionärs. Zwischen ihm und der neurechten »Ein-Mann-Kaserne« (Götz Kubitschek, Sezession Nr. 50/2012) liegen nur noch biografische Einschnitte, die der Renegat nicht selbstreflexiv verarbeitet, sondern zum Erweckungserlebnis umdeutet.

Intro

Redaktion
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 201 - März | April 2023

Liebe Leser*innen,

Ende Februar folgten nach Polizeiangaben etwa 13.000 Personen dem Aufruf von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer zur Kundgebung »Aufstehen für den Frieden« in Berlin – die Veranstalter*innen sahen 50.000 Menschen. Im Vorfeld hatte Wagenknecht erklärt: »Jeder, der ehrlichen Herzens mit uns für Frieden demonstrieren möchte, ist willkommen.« Eine Einladung auch an die extreme Rechte wie die AfD, die versucht, sich als »Friedenspartei« zu inszenieren. Noch einen Tag vor der Kundgebung in Berlin hatte Björn Höcke bei einer AfD-Veranstaltung in Richtung Wagenknecht erklärt: »Ich bitte Sie: Kommen Sie zu uns!« Auch Jürgen Elsässer und sein rechtsradikales »Compact«-Magazin jubeln schon. Hatte das Magazin bereits im Dezember 2022 Wagenknecht als »[d]ie beste Kanzlerin. Eine Kandidatin für rechts und links« bezeichnet, erklärt der selbsternannte »Nationalrevolutionär« Elsässer nach der Kundgebung: »Um die Kriegstreiber zu stoppen, braucht es eine Querfront. Die Linken allein sind zu schwach, die Rechten ebenso.« Und mit der Zeile »Das einige Volk aber, das kann nicht besiegt werden« stimmt er das Lied »El pueblo unido« an, das in den 1970er Jahren zu einem Symbol des linken Widerstands in Chile gegen die Diktatur Augusto Pinochets wurde. Stehen wir wirklich am Beginn einer – vor allem von rechts – herbeigeredeten »Querfront« oder erleben wir bloß eine massive Umdeutung linker Symboliken? Diesen und anderen Fragen gehen wir in unserer aktuellen Ausgabe nach, denn der jetzt zu beobachtende Kitt des Antiamerikanismus war schon in den 1980er Jahren originärer Teil der westdeutschen Friedensbewegung – wenn auch aus anderen Gründen als heute. Angereichert um diverse Verschwörungsmythen traf man sich auch 2014 in der »Mahnwachen-Bewegung« für eine prorussische, antiamerikanische und national orientierte Sammlungsbewegung mit antisemitischen Versatzstücken. Dort trieben nicht nur Elsässer und Ken Jebsen ihr Unwesen. Überdies verlieh der vermeintlich linke Diether Dehm dem Ganzen durch seine Beteiligung den Charakter einer »Querfront« gegen den liberalen Westen und seine Werte mit Putin als Galionsfigur. Während der Corona-Pandemie kam es zu einem erneuten Schub an Verschwörungserzählungen, deren Feindbilder Neonazis und als »links« gelesene Spektren wie Esoteriker*innen und Hippies einen. Gerade zu Beginn der Proteste gegen die Corona-Maßnahmen sahen sich Anhänger*innen der Extremismustheorie in ihrem Hufeisenmodell bestätigt. Dabei sollte damals wie auch heute klar sein, dass die als »links« begriffenen Akteur*innen lediglich ohne politischen Kompass umherirrlichtern. Für Linke ist eine Zusammenarbeit mit Faschist*innen ebenso wenig eine Perspektive wie das Wohl Deutschlands als Maxime einer Politik, die nichts weiter als Nationalismus ist. In diesem Sinn wünschen wir mit unserer neuen Ausgabe eine anregende Lektüre.

Eure Redaktion

 

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»Interessantes zu Büchern«

von Ernst Kovahl
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 189 - März | April 2021

#Erosionen

Wie die »Neue Rechte« durch Konservative immer weiter salonfähig gemacht wird.

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Buch über das “Institut für Staatspolitik” und die Faschist*innen des 21. Jahrhunderts
erschien 2020 und ist im Buchhandel erhältlich.

Sie verstehen es einfach nicht. Noch immer glauben deutsche Konservative, man könne die radikale Rechte durch das Einbinden in politische Diskurse bekämpfen. Ihr Glaube, es genüge schon, ihre vermeintlich »bessere« Position und Haltung auf gemeinsamen Podien oder im Internet diskursiv der »Neuen Rechten« entgegen zu stellen, überzeuge die andere Seite schon vom Guten und Schönen, ist nicht einmal mehr naiv, sondern nur noch fahrlässig. Vor zwei, drei Jahren hieß diese Strategie »Mit Rechten reden«. Ihre Wirkungslosigkeit – vielmehr: ihre Wirkung ins Gegenteil – ist inzwischen ausreichend belegt. Statt die radikale Rechte zu schwächen, stärkt jede Einladung auf ein Podium, jede öffentliche Debatte mit Demokrat*innen, jede Erweiterung ihrer Reichweite und jeder Versuch, sie im Diskurs mit ihren hervorgehobenen Vertreter*innen zu stellen, ihre Positionen. Die Bücher aus ihren Kleinstverlagen erhalten so unverdiente Bekanntheit. Ihre randständigen Thesen finden Eingang in die Debatten und die Videos mit ihren völkischen und antidemokratischen Autor*innen werden im Internet vielfach geteilt. So funktioniert die Arbeit der »Neuen Rechten« im vorpolitischen Raum, so funktioniert der Kampf um Hegemonie in den Schützengräben der Zivilgesellschaft.

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Patrick Bahners ist eine »Edelfeder« des konservativen Feuilletons. Der Kulturredakteur der großbürgerlichen, konservativen Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) war 2011 mit seinem Buch »Die Panikmacher. Die deutsche Angst vor dem Islam« auch einer breiteren Öffentlichkeit aufgefallen. In dieser Streitschrift positionierte er sich gegen islamfeindliche Einstellungen und provozierte damit die radikale Rechte. Über sich selbst schreibt er, er sei Antifaschist und sein »Interesse an den Gedanken der heutigen Neofaschisten« gelte »ausschließlich der Vereitelung ihrer Projekte«. Dennoch verlinkte er am 26. Januar 2021 auf seinem Twitter-Account einen Artikel von Ellen Kositza von der Website der neu-rechten Zeitschrift »Sezession« über den neuen Roman »Krass« des in der Rechten beliebten Autoren Martin Mosebach. Bahners kommentierte, ihr Text sei »eine kluge und gehaltvolle Besprechung«. Kositza, das weiß auch Bahners, ist nicht irgendwer. Sie ist neben Götz Kubitschek die zentrale Akteurin des neu-rechten »Instituts für Staatspolitik«, eine überzeugte Ideologin. Ihre Positionierung hat Gewicht.
Gegen die zahlreiche Kritik auf Twitter verteidigte sich Bahners und wertete das Blatt zu einem legitimen Teil der öffentlichen Debatte auf: »Es finden dort rechtsintellektuelle Debatten statt wie linksintellektuelle Debatten in linksintellektuellen Zeitschriften.« Und er ging noch weiter bei seiner Verteidigung der Zeitschrift »Sezession«: »Meine Meinung: Lass sie ruhig ihre Reichweite haben, ihre Argumente unter die Leute bringen. Dann wird man sehen, wen sie überzeugen.« Zwar kritisierte er auch in dieser Debatte wiederholt die Inhalte und die politische Ausrichtung von Autorin, Institut und Zeitschrift, verteidigte aber immer wieder die Präsenz letztlich faschistischer Positionen in der Gesellschaft. So bezeichnete er das »Aussperren« rechter Verlage von den Buchmessen und das »Verbannen« rechter Bücher aus Buchhandlungen als »illiberale Mittel«, mit denen »nichts zu gewinnen« sei. Die Strategie der »Neuen Rechten«, wie sie die Festungen und Kasematten der Gesellschaft erobern will, hat er nicht verstanden. Allen Ernstes fragte er: »Warum sollen Extremisten nicht Interessantes zu Büchern sagen können?«


Neu ist das alles nicht. Immer wieder fanden Autor*innen der »Neuen Rechte« und ihre Thesen bereitwillig Platz auf den Seiten der FAZ, immer wieder wurden ihre Bücher positiv besprochen. Immer wieder mäandern Mitarbeiter – es sind eigentlich immer Männer – des Blattes zwischen den politischen und publizistischen Milieus von Neoliberalen, Konservativen und der »Neuen Rechten«, zum Beispiel der frühere Leiter des Ressorts Geisteswissenschaften der FAZ Lorenz Jäger, der aktuell in dem neu-rechten Coffeetable-Magazin »Cato« publiziert, oder ihr London-Korrespondent Philip Plickert, der selbst in der »Sezession« und der Wochenzeitung »Junge Freiheit« veröffentlichte.
Was bleibt? Fast nichts. Der Reputation von Patrick Bahners hat seine Empfehlung des Textes aus der »Sezession« nicht geschadet, eine kritische Debatte in seiner Zeitung wurde nicht erkennbar. Der Vorgang ist somit nur ein weiterer Baustein bei der Normalisierung der Rechten, nur ein weiterer kleiner Tabu-Bruch, ein weiterer Twitter-Sturm und irgendwann einmal nur eine weitere Fußnote in einer Studie über den scheinbar unaufhaltsamen Aufstieg der radikalen Rechten. Die »Erosion der Abgrenzung«, vor der Anfang der 1990er Jahre der damalige CDU-Spitzenpolitiker Friedbert Pflüger warnte, schreitet voran. Das antidemokratische und völkische Denken der »Neuen Rechte« sickert in die Debatten und die Politik. Es wäre ein Leichtes, ihr das zu verweigern. Doch es sind Konservative und Bürgerliche, die ihr die politischen Landgewinne in der Gesellschaft erst ermöglichen. Wieder einmal.

Der Sonderfall?

von Florian Weis
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 207 - März | April 2024

Rechtsruck und Brexit, aber keine dauerhaft starke rechte Partei.

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Der damalige Vorsitzende der »United Kingdom Independence Party« (UKIP) Nigel Farage 2014 zu Gast bei der »Jungen Alternative«. © Roland Geisheimer / attenzione

Lange schien zu gelten: Deutschland ist eine Ausnahme in Europa, wenn es um den scheinbar unaufhaltsamen Aufstieg rechtspopulistischer bis hin zu faschistischen Parteien ging. Eine – in diesem Falle gute – historische Tabuisierung sowie die Dummheit der hiesigen extremen Rechten waren wesentliche Gründe dafür. Dann kam die »Alternative für Deutschland« (AfD) auf und vollzog in vielen Schritten den Weg hin zu einer Partei, in der aggressive Faschist*innen immer stärker wurden. So blieb Spanien übrig, bis »Vox« ein nationaler Faktor wurde, wenngleich die Partei 2023 einen leichten Rückschlag erlebte. Spätestens seit dem 10. März 2024, fast genau fünfzig Jahre nach dem Sturz der rechten Diktatur durch die Nelkenrevolution, ist nun auch Portugal keine löbliche Ausnahme mehr in Europa.
Bleiben also nur noch das Vereinigte Königreich und Irland als Ausnahmen von der schlechten neuen europäischen Normalität? In beiden Ländern werden spätestens im Januar oder Februar 2025 die nationalen Parlamente gewählt. Auf den ersten Blick scheint es so, dass es bei der Sondersituation bleiben wird. Bei genauerem Hinsehen fällt das Urteil jedoch weniger eindeutig aus. Die Gründe dafür sind zum einen das strikte britische Mehrheitswahlrecht, zum anderen der Brexit und die tiefgreifenden politischen Verschiebungen, die er bewirkt hat. Bei Wahlen für das Unterhaus konnte, von einer Ausnahme abgesehen, keine rechtspopulistische oder gar offen faschistische Partei Mandate gewinnen. Die wesentliche Ausnahme war 2015 die »United Kingdom Independence Party« (UKIP), die spektakuläre 13 Prozent der Stimmen errang, aufgrund des Wahlrechts aber nur einen Sitz bekam. Weder Oswald Mosleys »Schwarzhemden« vor und nach dem Zweiten Weltkrieg noch die »National Front« (NF) in den 1970er und 1980er Jahren, noch die »British National Party« (BNP) in den Folgejahrzehnten, allesamt mehr oder weniger unverhohlen faschistische Parteien, konnten bei regulären Wahlen Unterhaussitze gewinnen. Allerdings stellten sowohl Mosleys Formationen als auch die NF aufgrund ihrer intensiven Straßengewalt eine große Bedrohung für Linke, Jüdinnen und Juden, Schwarze und andere Minderheiten dar. Rechtspopulistische Einzelkandidat*innen oder solche am rechten Rand der Konservativen konnten insbesondere bei Nachwahlen kurzzeitig erfolgreich sein, doch ein nationaler Durchbruch gelang nie.

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Brexit-Kampagne als Gamechanger
Auch wenn die UKIP 2015 nur einen Sitz errang, versetzte ihr Anteil von einem Achtel aller Stimmen die konservative Führung um den damaligen Premierminister und heutigen Außenminister David Cameron in Panik. Um die UKIP einzudämmen, hatte Cameron vor den Wahlen 2015 ein Referendum über einen modifizierten Verbleib oder den Austritt aus der EU versprochen. Sein dreifaches Kalkül, der UKIP den Wind aus den Segeln zu nehmen, die EU zu Zugeständnissen an Großbritannien zu zwingen und anschließend ein Referendum zu gewinnen, scheiterte spektakulär: 52 Prozent der Brit*innen stimmten bei einer vergleichsweise hohen Wahlbeteiligung von 72 Prozent für den Austritt aus der EU. Die UKIP verlor bei der nächsten Wahl fast alle Wähler*innen, nachdem ihr schillernder Anführer und zeitweiliger Europaabgeordnete Nigel Farage sie verlassen hatte, aber der Schaden war unwiderruflich angerichtet. Und Farage hatte Gefallen an seiner Rolle als rechter Provokateur und Treiber der Konservativen gefunden. 2019 errang seine damalige Brexit-Partei bei den – angesichts des bevorstehenden Austritts aus der EU weitgehend sinnfreien – Europawahlen in Großbritannien 30 Prozent der Stimmen bei einer geringen Wahlbeteiligung von 37 Prozent. Kurz danach wurde Boris Johnson Premierminister und gewann die Unterhauswahlen im Dezember 2019 deutlich mit rund 44 Prozent der Stimmen. Er folgte in wesentlichen Teilen der Agenda von Farage und vollzog den Brexit. Die »Brexit Party« wurde zur »Reform Party«, deren führende Figur wiederum Farage ist, wobei sie in diesem Jahr durch den vorherigen stellvertretenden Vorsitzenden der Konservativen, Lee Anderson, spektakulären Zuwachs erfuhr. Programmatisch ist die »Reform Party« wie alle Projekte von Farage bewusst vage und schillernd angelegt, hat aber einen national-populistischen Kern. Sie verbindet wirtschaftsliberale Elemente wie etwa Steuersenkungen und Freihandelsabkommen mit einer Verteidigung des staatlichen Gesundheitsdienstes NHS, Einwanderungsfeindlichkeit mit Forderungen nach mehr direkter Demokratie, Bekämpfung von Corona-Schutzmaßnahmen mit Forderungen nach niedrigeren Energiepreisen. Alle Farage-Parteien sind keine faschistischen Formationen, aber populistische Ressentimentsparteien.

Trumpisierung der Konservativen
Der vielleicht wichtigste innenpolitische Effekt der Brexit-Kampagne ist die Verwandlung der konservativen Partei in einer – wenn auch nicht ganz so konsequent unwiderruflichen – Weise wie diejenige der Republikaner in den USA. Rishi Sunak mag als Premierminister zumindest im Auftreten an einen klassischen britischen Konservativen erinnern, was für seine schrillen Vorgänger*innen, Boris Johnson und Liz Truss, schwerlich gelten kann. Doch die von Sunak geführte Partei hat sich in den letzten acht Jahren sowohl von einem traditionellen politischen Konservativismus entfernt als auch von den konservativen Revolutionär*innen um Margaret Thatcher und der Zeit unter David Cameron. Sunak hat eine gesellschaftliche Modernisierung und Diversifizierung der Partei – der Frauenanteil an der Spitze der Konservativen hat sich ebenso stark erhöht wie derjenige von Minister*innen aus »ethnischen« Minderheiten – umgesetzt. Parallel dazu wurde eine verheerende Austeritätspolitik vorangetrieben. Schrille Kulturkämpfer*innen wie Priti Patel und Suelle Braverman stehen nicht nur für eine rigorose Anti-Migrationspolitik (»Ruanda-Plan«), sondern auch für eine stetige Eskalation der Formen politischen Auseinandersetzung. Ob sich die Partei nach einer wahrscheinlichen Niederlage bei den bevorstehenden Wahlen weiter in Richtung der Trump-Republikaner radikalisiert, oder ob sie einen seriöseren Reformprozess einleitet, bleibt abzuwarten. Die Gefahr der dauerhaften Trumpisierung ist groß – ein Erbe der Brexit-Kampagne, das den fatalen Austritt aus der EU überdauert hat.

Brexit

Redaktion "der rechte rand" im Gedenken an die ermordete Jo Cox

Magazin »der rechte rand« - Ausgabe 161 - Juli 2016

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Jo Cox memorial Parliament Square, London CC BY-SA 4.0 Philafrenzy

Denkbar knapp hat sich Großbritannien in einem Referendum am 23. Juni 2016 für den Austritt aus der »Europäischen Union« (EU) entschieden. 51,89 Prozent der WählerInnen stimmten für den Brexit, 48,11 Prozent für den Verbleib im europäischen Staatenbund. Regional fiel die Entscheidung teils sehr unterschiedlich aus. London, Nordirland und Schottland stimmten mehrheitlich für den Verbleib, der Rest des Landes dagegen. In dem traditionell europaskeptischen Land schwand in den letzten Jahren die Zustimmung – nun ist Großbritannien das erste Land, das aus der Union aussteigt.

Das neuerliche Referendum hatte Großbritanniens Premierminister David Cameron ins Spiel gebracht, um die zunächst auch von ihm vertretene EU-Kritik in Teilen seiner »Conservative Party« ruhigzustellen. Umgehend nach der verlorenen Abstimmung verkündete der Pro-Europäer seinen Rückzug, da er die Regierung mit dieser Entscheidung nicht mehr führen könne und wolle. In den letzten Wochen vor der Abstimmung wurde die tiefe Spaltung der Konservativen, der »Tories«, immer deutlicher: ein neoliberaler Flügel, der für den Verbleib in der EU warb (»Remain«), und ein Flügel, der nahe am Kurs der rechtspopulistischen »UK Independence Party« (UKIP) segelte. Die politische Trennlinie in dieser Frage verläuft quer durch die Mitgliedschaft, die Fraktion und die Regierungsmitglieder der Konservativen – auch nach dem Referendum.

Eindeutig fiel die Reaktion der europäischen Rechten aus: Marine Le Pen, Vorsitzende des »Front National« (FN) schlägt verbale Brücken zum »Arabischen Frühling« und sieht den »Frühling der Völker« als »unvermeidlich« heraufziehen. Aus Österreich gratuliert Heinz-Christian Strache, Bundesparteiobmann der »Freiheitlichen Partei Österreichs« (FPÖ), »den Briten zu ihrer wiedererlangten Souveränität.« Ähnliche Töne schlägt Matteo Salvini von der »Lega Nord« an: »Danke Großbritannien, endlich verändert sich Europa«, und »Europa hat jetzt die Gelegenheit sich von der Europäischen Union zu befreien«. Die »Alternative für Deutschland« (AfD) äußert sich etwas reservierter, sieht die Sache aber wie ihre Brüder und Schwestern im Geiste: »Die europäische politische Elite verweigert sich hartnäckig der Lektion aus England. Die EU wird delegitimiert, weil sie in allen Belangen versagt hat.« Einzig Beatrix von Storch lässt sich etwas gehen und gesteht im Fernsehinterview, dass sie »vor Freude« geweint habe.

Kampagnenpartei

Eine treibende Kraft für den Brexit war die rechte Kampagnenpartei UKIP unter ihrem bisherigen Vorsitzenden Nigel Farage. 1993 gegründet, arbeitete die Partei fast 25 Jahre auf den Bruch mit der verhassten EU hin. Auf das Referendum war die Partei bestens vorbereitet. Ihr Agieren bestand im Kern aus einer rechten Kampagne gegen die EU. Hetze gegen MigrantInnen und gegen Menschen islamischen Glaubens, für den Erhalt der »britischen Kultur«, Abkehr vom Klimaschutz oder Verschärfung des Strafrechts – das Programm von UKIP gewann zuletzt an Attraktivität; auch vor dem Hintergrund islamistischer Anschläge und der geschürten Furcht vor Zuwanderung nach Europa. Die steigende Zustimmung ließ sich an den Wahlurnen ablesen – bei Kommunalwahlen und vor allem bei den Wahlen zu jenem Parlament, das so vehement bekämpft wird, dem Europaparlament. Während die Partei bei den Europawahlen 1994 nur ein Prozent der Stimmen und keinen Sitz bekam, waren es 1999 schon sieben Prozent und drei Mandate. 2004 wurden es 16,8 Prozent, und 2009 reichten 16,5 Prozent für UKIP zur zweitstärksten Partei. 2014 kam für die Rechtspartei der endgültige Durchbruch: Mit 26,6 Prozent wurde sie bei den Europawahlen stärkste Kraft in Großbritannien. 24 Abgeordnete vertraten die Partei seitdem im Europaparlament. Seit 2009 arbeitete UKIP in der Fraktion »Europa der Freiheit und der Demokratie« (seit 2014 »Europa der Freiheit und direkten Demokratie«, EFDD) – unter Farage im Fraktionsvorsitz – mit verschiedenen rechten Parteien zusammen, unter anderem der »Lega Nord« (Italien), der »Dänischen Volkspartei« (DF) oder der »Slowakischen Nationalpartei«. Aus Deutschland gehört seit kurzem Beatrix von Storch (AfD) der Fraktion an. Neben den sicheren Finanzeinnahmen für Abgeordnete und Fraktion nutzte Farage das Parlament für Attacken gegen die EU und ihre offiziellen RepräsentantInnen.

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Auf nationaler Ebene hingegen blieb UKIP aufgrund des britischen Mehrheitswahlrechts bei Wahlen bisher eher erfolglos, obwohl sie bei den Unterhauswahlen im Mai 2015 immerhin 12,6 Prozent der Stimmen bekam und mit einem Abgeordneten im Parlament sitzt.

Rechtspartei

Ein grober Blick auf UKIP zeigt Parallelen zur deutschen »Alternative für Deutschland« (AfD). Im Vordergrund stand lange Zeit eine vereinfachte und holzschnittartige Kritik an Europa, seinen Institutionen und seiner Politik. In den Reihen beider Parteien fanden sich immer wieder Neonazis, offene RassistInnen, Waffen-Narren sowie Intellektuelle und AktivistInnen anderer Organisationen der extremen Rechten – ohne jedoch die Parteien in Gänze zu dominieren. So sind weder UKIP noch die AfD in ihrer Gesamtheit faschistisch oder neonazistisch, enthalten aber relevante Bausteine faschistischer Bewegungen. Das Potential der WählerInnen reicht dabei weit über das klassische Spektrum der Rechten hinaus. Gesellschaftliche Mobilisierungen, vor allem beim Thema Zuwanderung, aktivieren WählerInnen. Dabei stehen die beiden Parteien immer auch in einem interessanten Spannungsverhältnis von Nähe und Distanz zu den konservativen und bürgerlichen Parteien, die zwischen Abgrenzung, begrenzter Bereitschaft zur Zusammenarbeit und Übernahme von Positionen changieren. Beide Parteien, AfD und UKIP, konnten ihren Erfolg in einer Phase beginnen, als es im Spektrum des etablierten Konservatismus nachhaltig rumorte und die alten Koalitionen der bürgerlichen Gesellschaft nicht mehr hielten. Und so schaffen sie es, ein klassenübergreifendes und reaktionäres Bündnis von Mob und Elite an die Wahlurnen und auf die Straßen zu bringen – gegen Europa, gegen den Sozialstaat, gegen Geflüchtete, gegen Linke und gegen die Idee von Moderne und Gleichheit.

Rechter Anschlag

In den Wochen vor dem Referendum verschärfte sich der Ton. Der populäre konservative, ehemalige Bürgermeister von London, Boris Johnson, stieß zur »Leave«-Fraktion. Die Hetze gegen Flüchtlinge aus islamischen Ländern, gegen ArbeitsmigrantInnen vor allem aus Osteuropa und die Stimmungmache für die Bewahrung der eigenen kulturellen Identität (»Wir wollen unser Land zurück«) waren die rechten Parolen von UKIP und Co. Trauriger und brutaler Höhepunkt des Wahlkampfes war der Mord an der antirassistischen Abgeordneten Jo Cox (»Labour Party«) am 17. Juni 2016, die sich deutlich gegen den Brexit positioniert hatte und eine wichtige Unterstützerin des linken Labour-Chefs Jeremy Corbyn war. Unter dringendem Tatverdacht wurde der über 50-jährige Thomas Mair verhaftet. Er ist Sympathisant und Aktivist der extremen Rechten. Während der Tat rief er »Britain First«, ein Indiz für seine nationalistische Gesinnung und ein Verweis auf eine gleichnamige Organisation. Mair hatte in der Vergangenheit Terror-Anleitungen bestellt und ist auf Fotos bei öffentlichen Auftritten rechter Gruppen zu sehen. Die Parallelen der Tat zum versuchten Mord an Henriette Reker im Oktober 2015 während des Wahlkampfes in Köln sind unübersehbar. Eine Monate dauernde öffentliche Debatte und Hetze um ein auch emotional besetztes Thema der Rechten führte am Ende zur Tat. In beiden Fällen fühlte sich ein in den 1990er Jahren politisierter Neonazi dazu berufen, ein Fanal zu setzen.

Krise

Die Entscheidung Pro-Brexit hat das Land in eine Krise gestürzt – in eine ökonomische, eine politische und eine gesellschaftliche. Die sozialen Versprechungen von UKIP als Begründung für den EU-Ausstieg, zum Beispiel mehr Geld für das gebeutelte Gesundheitswesen, wurden sofort nach der Wahl kassiert – sie entpuppten sich als Wahlkampf-Lügen. Politisch sind das Land und die gesamte Gesellschaft gespalten – nicht nur die Konservativen, sondern auch die Linke. Gleich nach dem Referendum verabschiedeten sich die drei Hauptfiguren des Wahlkampfes von der politischen Bühne. Cameron hat als Verfechter des Verbleibs in der EU verloren, Johnson verlor einen internen Machtkampf bei den »Tories« und wurde von der neuen Premierministerin Theresa May am 13. Juli zum Außenminster ernannt. Und Nigel Farage? Nun, er wolle »sein Leben zurück« und trat vom Vorsitz der UKIP zurück. Sein Mandat als Europaabgeordneter möchte er hingegen nicht niederlegen. Die Umsetzung für die maßgeblich von ihnen forcierte Entscheidung wollen sie nicht tragen, den Austritt Großbritanniens aus der EU nicht organisieren, die Verhandlungen nicht führen müssen. Sie hinterlassen der Gesellschaft ein durch Hetze und Lügen vergiftetes Klima.

Erste Auswirkungen hat die Brexit-Kampagne bereits: Laut dem »National Police Chiefs’ Council« sind allein die offiziell registrierten »Hate-Crimes« nach dem Referendum sprunghaft angestiegen. Rassistische Pöbeleien, Drohungen, Schläge – betroffen davon sind alle, die nicht in das Bild der »echten Briten« passen: OsteuropäerInnen, Menschen -jüdischen oder islamischen Glaubens, Menschen mit Vorfahren außerhalb Großbritanniens. »Wir sind möglicherweise geschockt, aber wir sollten nicht überrascht sein«, fasst die antifaschistische und anti-rassistische Organisation »Hope not Hate« die Ereignisse auf ihrer Website zusammen. »Die giftige Art und Weise der Debatte um das Referendum hat tief sitzenden Hass entfesselt.« Und den Worten folgen Taten.

Die Eroberung der Fläche

von Tilo Giesbers
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 208 - Mai | Juni 2024

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Kommunalpolitik betrifft viele Bereiche. © Mark Mühlhaus / attenzione

Die Kommunalwahlen im Mai und Juni waren für die AfD ein großer Erfolg, vor allem in Ostdeutschland. Aus antifaschistischer Perspektive ist es fünf nach zwölf. Die AfD ist im Osten nun vielerorts stärkste Kraft. Im Verbund mit anderen Rechtsaußenparteien und Wählergemeinschaften existieren oft sogar klare rechte Mehrheiten. Mehr noch: Insgesamt gibt es kaum noch Kommunen mit Mehrheiten links von Union, FDP und Co. Selbst in Leipzig oder Halle ist das Geschichte. Nur wenige Städte wie Potsdam oder Jena konnten sich eine potenziell progressive Mehrheit erhalten. Gewählt wurde in Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt, in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern, in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und dem Saarland sowie in den Hamburger Bezirken.

Die Feinanalyse offenbart: Insgesamt konnten mindestens 12.231 Kandidierende der AfD nach den vorliegenden vorläufigen Ergebnissen mindestens 6.672 Mandate in 1.593 Gremien erlangen. Das entspricht nahezu einer Verdopplung der 3.368 Sitze von 2019 in den neun Bundesländern und einer Steigerung um gut die Hälfte der damals 1.008 Gremien mit AfD-Vertreter*innen. Bundesweit kam die Partei bei den jeweils letzten Wahlen damit auf mindestens 8.501 kommunale Sitze in 2.448 Gremien.

Auf allen Ebenen
Die Präsenz der AfD auf den Verwaltungsebenen ist sehr unterschiedlich ausgeprägt. Bis auf die Stadt und Region Saarbrücken sowie den Kreistag im baden-württembergischen Sigmaringen stellt die Partei künftig in fast allen Gremien der Kreisebene Verordnete. In den Gemeindeverbänden sind etwa ein Viertel AfD-Verordnete, in den kreisangehörigen Städten und Gemeinden jede*r Sechste und in den Gemeindeteilen nur gut sieben Prozent. In den Landkreisen und kreisfreien Städten der Bundesländer gehört nun jede*r fünfte Verordnete zur AfD. In den Bundesländern zeigen sich hierbei – auch aufgrund der teilweise sehr spezifischen Verwaltungsstrukturen und Wahlgesetzgebungen – große Unterschiede. In Rheinland-Pfalz ist die Partei nur in gut einem Prozent der Räte der kreisangehörigen Städte und Gemeinden vertreten. In Sachsen-Anhalt sind es dagegen rund 57 Prozent, in Sachsen rund 62 Prozent und im Saarland zwei Drittel. Bei den Vertretungen der Gemeindeteile stechen Sachsen und Sachsen-Anhalt mit 13 beziehungsweise 16 Prozent der Gremien hervor.

Von den insgesamt vergebenen Sitzen stellt die Partei in den Kreisen und kreisfreien Städten in Westdeutschland zwischen neun Prozent in Hamburg und fast 15 Prozent der Mandate in Rheinland-Pfalz. Im Osten liegt sie hier zwischen 26,5 Prozent in Thüringen und 29 Prozent in Sachsen. Bei den eigenständigen, kreisangehörigen Kommunen sind es in Rheinland-Pfalz 0,4 Prozent, in Sachsen und Sachsen-Anhalt jeweils mehr als jeder sechste Sitz.

»Strukturprobleme«
Durch die Presse ging in den letzten Tagen die Meldung, die AfD könne viele ihrer Mandate nicht besetzen, was für ihre strukturelle Schwäche spreche. Tatsächlich ist die Zahl der unbesetzten Mandate noch deutlich höher als medial und von der Partei selbst behauptet. So wurde die AfD Brandenburg mit der Angabe zitiert, sie könne 41 ihrer Sitze nicht ausfüllen – real sind es 97. In Sachsen sind es nicht 113, wie zu lesen war, sondern 252. Insgesamt sind es im Osten 599 Mandate, im Westen neun – alle im Saarland. Dass das Phänomen in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg nicht auftritt, liegt am dortigen Wahlsystem, in dem praktisch keine unbesetzten Mandate möglich sind. Dort ging die Partei in mehreren Städten und Gemeinden mit zu wenigen Kandidat*innen stattdessen komplett leer aus.

Mag es auch (noch) an Personal mangeln: Die unbesetzten Mandate sind kein Zeichen von Strukturproblemen, sondern im Gegenteil Ausdruck eines erfolgreichen Strukturaufbaus. Aktuell wird die AfD trotz des Rückgangs der letzten Monate von einem Umfragehoch getragen. Das führt auch zu mehr Mitgliedern und Kandidat*innen. Genau deshalb ist die Zahl der Gremien mit AfD-Kandidaturen im Vergleich zu vor fünf Jahren um gut die Hälfte gestiegen. Wenn sich diese Entwicklung fortsetzt, werden viele der aktuell noch »strukturschwachen« Ortsverbände bei den nächsten Wahlen genug Bewerber*innen aufbieten und zusätzlich in etlichen Kommunen Neuantritte mit wieder »zu wenigen« AfDler*innen zu beobachten sein.

Umgekehrt musste die AfD auch Rückschläge hinnehmen. So gab es mehr als 150 Gremien, zu denen die AfD 2019 antrat, in diesem Jahr aber nicht mehr. Die Gründe dafür sind mannigfaltig: von altersbedingtem Rückzug oder Umzug über Austritte aufgrund der angeblich überraschenden Radikalisierung und/oder Angst um den Job im öffentlichen Dienst bis hin zu parteiinternen Machtkämpfen und persönlichen Querelen. Hinzu kommt eine unbekannte Zahl von Gremien, zu denen die AfD aus formalen Gründen nicht zugelassen wurde – etwa weil sie sich nicht auf eine einzige Liste einigen konnte.

Frauenanteil schwach, aber steigend
Nach bisherigem Stand (23.6.2024) gingen bei diesen Kommunalwahlen 1.080 oder 17,8 Prozent der 6.064 besetzten AfD-Mandate an Frauen. Damit liegt ihr Anteil rund vier Prozent höher als noch 2019. Gleichwohl ist der Frauenanteil 3,3 Prozent geringer als auf den Wahllisten, auch aufgrund der oft hinteren Platzierungen. Zwar fällt der Frauenanteil an Mandatsträger*innen gegenüber den Kandidierenden überall ab, im Westen aber viel deutlicher als in Ostdeutschland. Lag der Anteil der Bewerber*innen im Osten mit 19,4 Prozent noch deutlich unter dem Westniveau von 23,3 Prozent, dreht sich das Verhältnis auf einen Anteil von 18,4 Prozent an den realen Mandaten im Osten und nur noch 15,9 Prozent im Westen. Eine detaillierte Analyse, ob Frauen im Westen noch schlechtere Listenplätze bekommen und/oder im Osten eher gewählt werden, könnte interessant sein, ist aber an dieser Stelle nicht zu leisten.

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Bei den bundesweiten Gremien mit AfD-Sitzen liegen Ost und West (jeweils ohne Berlin) nun gleichauf bei 1.236 zu 1.227. Bei den real besetzten Mandaten ist der Osten mit 4.655 zu 3.151 (59,6 zu 40,4 Prozent) deutlich vorn. Allerdings wird der Westen in den kommenden beiden Jahren bei den Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen, Bayern, Hessen und Niedersachsen wieder auf- und überholen, falls der Aufschwung der AfD nicht gebrochen wird.

»Die Heimat« und »Freie Sachsen«
Die in »Die Heimat« umbenannte NPD und ihr nahestehende Listen wie das »Bündnis Zukunft Hildburghausen« um Tommy Frenck in Thüringen, die »Wählergemeinschaft Heimatliebe« um Sven Krüger oder die Wählergruppe »Heimat und Identität« um Andreas Theißen (beide Mecklenburg-Vorpommern) erreichten mindestens 104 Sitze. Davon gehen acht an Frauen, sechs Mandate bleiben unbesetzt. Die Liste der Mandatsträger*innen liest sich teilweise wie eine Auswahl der NPD-Landtagsfraktionen vor mehr als zehn Jahren: Jürgen Gansel, Johannes Müller, Mario Löffler (alle Sachsen), Michael Andrejewski und David Petereit (Mecklenburg-Vorpommern). Dazu kommen weitere bekannte Kader wie Andreas Karl (Sachsen-Anhalt), Klaus Beier und Manuela Kokott (Brandenburg), Peter Schreiber und Carmen Steglich (Sachsen). Einen besonderen Erfolg konnte »Die Heimat« im Ortsteil Gohrau von Oranienbaum-Wörlitz (Sachsen-Anhalt) verbuchen. Von der medialen Öffentlichkeit unbeachtet, wurde dort Benjamin Focke – als einziger Kandidat – zum Ortsvorsteher gewählt. Zwar verlor die Neonazipartei gegenüber 2019 über 30 Mandate. Neu hinzugekommen sind aber die »Freien Sachsen«, auf deren Listen zahlreiche bekannte »Die Heimat«-Funktionäre und andere Neonazis standen.

Insgesamt kommt die neue Partei auf mindestens 95 Mandate in 55 Gremien, darunter 32 in allen Kreisen und kreisfreien Städten. Zu den neuen Räten zählen neben Martin Kohlmann und Stefan Hartung auch zugezogene, altbekannte Neonazis wie der Ex-Dortmunder Michael Brück, Christian Fischer aus Niedersachsen, der ehemalige Berliner Lutz Giesen oder Thorsten Crämer, der aus Nordrhein-Westfalen nach Sachsen gekommen ist. Auch die schon genannten sächsischen »Die Heimat«-Kader haben für die »Freien Sachsen« Mandate geholt.

Kategorie »Sonstige«
Dagegen konnte die Konkurrenzpartei »Der III. Weg« nur im Kreistag der Prignitz (Brandenburg) einen Sitz verbuchen. Kleinstparteien wie das »Bündnis Deutschland« (6 Sitze), die »Deutsche Soziale Union« (zwei Sitze), die »Gerechtigkeitspartei – Team Todenhöfer« (ein Sitz) und wenige Listen christlicher Fundamentalist*innen sind kommunalpolitisch zumindest existent. Auch die »Deutsche Volksunion Rheinpfalz e.V.« oder »Pro Heilbronn« um den früheren »Die Republikaner«-Landtagsabgeordneten Alfred Dagenbach bringen es auf je einen Sitz. Punktuell erfolgreicher sind alte und neue Wählergruppen wie das »Bündnis Zukunft Gestalten« um Johannes Nitzsche (22 Sitze in Oßling, Sachsen) oder die »Konservative Mitte e. V.« (12 Sitze, Freital). In Dresden konnten die »Freien Wähler Dresden« um Susanne Dagen mit elf und das »Team Zastrow/Bündnis Sachsen 24« um den früheren FDP-Fraktionschef Holger Zastrow mit 21 Sitzen in Stadt und Ortsteilen punkten. In Westdeutschland konnten zudem einige türkisch-nationalistische Parteien und Listen wie das »Bündnis für Innovation und Gerechtigkeit« oder »Vision Aalen« Mandate erringen.

Rund 30 Sitze gingen an Vertreter*innen aus dem verschwörungsideologischen Spektrum, darunter neben »dieBasis« unter anderem an die völkisch-antisemitischen »Anastasia«-Siedler*innen von »Schönes Wienrode« (Sachsen-Anhalt) und die »Mittelstandsinitiative« in Brandenburg (vier Sitze).

Zunehmende Bedrohung
Zukünftig werden – nicht nur im Osten – zivilgesellschaftliche Projekte, die sich klar gegen die extreme Rechte stellen oder sich nicht konform zu den sich rasant nach rechts entwickelnden Konservativen und Libertären verhalten, einer existenziellen Bedrohung ausgesetzt sein. Rechte Mehrheiten werden reihenweise Gelder streichen oder zumindest auf ein Maß begrenzen, mit dem die Durchführung vieler Maßnahmen nicht mehr möglich sein wird. Aber auch Kinder- und Jugendhilfe, Soziokultur, Sportvereine, Museen und Theater werden zunehmendem Druck ausgesetzt sein. Besonders soziale Einrichtungen wie Beratungsstellen zur Schwangerschaftsberatung oder in der Suchthilfe, Gleichstellungsprojekte für Frauen, queere oder beeinträchtigte Menschen, Integrationsprojekte für Geflüchtete stehen im Fokus der Rechten. Auch in der Bildungspolitik mit den Feindbildern »Inklusion«, »Frühsexualisierung«, »Schweinefleischverbot«, »Neutralität« der Gedenkpolitik mit lokalen NS-Gedenkstätten und dem Umgang mit kolonialem Erbe wird sich der kommunale Rechtsruck niederschlagen. Ebenso werden Klima- und Umweltschutzkonzepte, ökologische Verkehrspolitik, sozialer Wohnungsbau oder kommunale Gesundheitseinrichtungen nicht mehr selbstverständlich sein. In den kommunalen Verwaltungen bekommt die extreme Rechte über ihr teilweise zustehende Dezernent*innenposten Zugang zu sensiblen Daten. In Verwaltungen und bei kommunalen Eigenbetrieben könnten zudem Gender-Verbote gesetzt werden und der Zugang zu öffentlichen Räumen ausgehebelt werden. Unter neuen Schwerpunktsetzungen für die Ordnungsämter werden wohl als erstes Obdachlose und unliebsame Kultureinrichtungen oder Gastronomiebetriebe leiden. Letztere sollten gezielt »unter Druck gesetzt werden«, wie der sachsen-anhaltische AfD-Landtagsabgeordnete, Ulrich Siegmund, beim Potsdamer Geheimtreffen vorgeschlagen haben soll.

Nicht zuletzt wird es zukünftig in vielen Fällen keine Zustimmung mehr zur Beantragung beziehungsweise Verlängerung von Projekten geben, die aus Bundes- oder Landesprogrammen zur Demokratieförderung finanziert werden. Dass die betreffenden Länder oder der Bund ihre Regularien entsprechend ändern, erscheint angesichts der grassierenden Kürzungsforderungen unwahrscheinlich. Stattdessen wird es vielleicht bald häufiger Meldungen von kommunaler Förderung für rechtskonservative bis extrem rechte Jugendprojekte geben. Entsprechende Vereine existieren teilweise bereits, etwa im Umfeld rechter Studierendenverbindungen oder der »Identitären«. Sie könnten bald auch in manchen der neu zu besetzenden Jugendhilfeausschüsse sitzen. Das meiste davon war punktuell schon in den letzten Jahren zu beobachten, droht nun aber flächendeckend und nicht nur im Osten der Republik.

Die selbst geschaffenen Leerstellen können dann von der extremen Rechten mit ihren Inhalten gefüllt werden. Und um auch das noch einmal zu wiederholen: Dazu stehen ihnen künftig viele neue, bezahlte Stellen in den Geschäftsstellen der Fraktionen größerer Kommunen und der Kreistage zur Verfügung. Nach den bevorstehenden Landtagswahlen könnte diese Entwicklung mit neuen gesetzlichen Rahmenbedingungen noch einmal einen Schub bekommen. Beim derzeitigen Tempo der Auflösung zivilisatorischer Standards braucht es dazu wohl nicht einmal eine AfD-Regierungsbeteiligung. Diesen massiven Rückschritt zurückzudrehen, wird progressive Kräfte über viele Jahre beschäftigen. Doch zuerst muss er gestoppt werden.

Welche Rolle das »Bündnis Sahra Wagenknecht« (BSW) dabei spielen möchte, hat die saarländische Co-Parteichefin Astrid Schramm am Tag nach den Wahlen klar gemacht, als sie eine kommunale Zusammenarbeit mit der AfD bei »inhaltlichen Überschneidungen« als denkbar bezeichnete. Solche Überschneidungen finden sich zwischen den beiden Parteien bekanntermaßen reichlich, was in vielen Kommunen zukünftig live beobachtet werden kann.

Zwischen Schnellroda und Potsdam

von Stephanie Heide
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 208 - Mai | Juni 2024

Teilnehmende des Potsdamer Treffens vergangenen Jahres sind seit langem eng mit dem »Institut für Staatspolitik« verbunden – nicht nur als Teilnehmende der jährlichen Akademie in Schnellroda sondern auch als Autor*innen in deren Thinktanks, Interviewpartner*innen oder Arbeitgeber*innen.

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Lehnert und Kubitschek in Schnellroda. © Stephanie Heide

Vom 16. bis 18. Februar 2024 fand in Schnellroda die 24. Winterakademie des »Instituts für Staatspolitik« (IfS) statt. Eingeladen war die Zielgruppe bis zu einem Alter von 35 Jahren zum Thema »Russland«. Die diesjährigen Teilnehmenden, die vorwiegend aus den Zusammenhängen der »Alternative für Deutschland« (AfD) beziehungsweise »Junge Alternative« (JA), »Identitärer Bewegung« (IB) und Burschenschaften stammen, reisten aus dem gesamten Bundesgebiet und Österreich an. Auch aus der Schweiz nahmen mehrere Aktivist*innen der »Jungen Tat« teil. Neben den ständigen Referenten Erik Lehnert, Götz Kubitschek und Martin Semlitsch (alias Lichtmesz) hielten Filipp Fomitschew, Jörg Seidel, Dusan Dostanic und Ivor Claire Vorträge zu verschiedenen politischen, kulturellen und geostrategischen Aspekten im Zusammenhang mit Russland. Ebenfalls vor Ort war Ulrich Fröschle, Professor an der TU Dresden. An einer Podiumsdiskussion am Samstag zur »Lage 24« nahmen die beiden AfD-Spitzenkandidaten der bevorstehenden Landtagswahlen Björn Höcke aus Thüringen und Christoph Berndt aus Brandenburg teil. Die Akademien finden mit wechselnden Themen zweimal jährlich mit jeweils bis zu 150 Teilnehmenden statt und sind seit Jahren ausgebucht. Sie dienen der extremen Rechten als Kaderschmiede. Mit der Vermittlung von politischer Bildung und Strategie sowie über Auslese werden hier wichtige Grundlagen für Karrieren in der AfD, aber auch bei sogenannten alternativen Medien und anderen privatwirtschaftlichen extrem rechten Projekten gelegt. Wichtige Bestandteile der Treffen sind die Vermittlung einer gemeinsamen Identität und der Ausbau extrem rechter Netzwerke.


Seit 2016 hat sich eine Variante dieser Akademien auch in Österreich etabliert. Diese finden in Zusammenarbeit mit dem FPÖ-nahen »Freiheitlichen Akademikerverband« (FAV) Steiermark an wechselnden Orten statt, zuletzt vom 12. bis 14. April in Kärnten.
Während der Corona-Pandemie im Juli 2021 veranstaltete das IfS erstmalig ein Sommerfest in Schnellroda. Seitdem kommen jedes Jahr in dem Ort mit 145 Einwohner*innen zu diesem Anlass mehrere Hundert Gäste zusammen. An zwei Tagen finden im Gasthaus »Zum Schäfchen« Podiumsdiskussionen, Vorträge und Buchbesprechungen statt, während auf dem Privatgrundstück der Kubitscheks und im dazugehörigen Verlagsgebäude Bücher, Getränke und Imbisse angeboten werden. Die Gäste sind Leser*innen der »Sezession«, AfD-Parteigänger*innen, JA-Aktivist*innen und Burschenschafter ebenso wie die Anhänger*innen des neueren antidemokratischen Protestmilieus. Das mittlerweile vierte Sommerfest ist für den 13. und 14. Juli 2024 angekündigt.

Von Schnellroda nach Potsdam und zurück
Der bekannteste Kader des IfS ist der österreichische Aktivist und Autor Martin Sellner. Dieser veröffentlichte bereits mehrere Bücher im von Kubitschek betriebenen »Verlag Antaios«, zuletzt »Regime Change von rechts« und »Remigration. Ein Vorschlag« und ist auch sonst ein häufiger Gast in Schnellroda. Unter dem Schlagwort der »Remigration« forderte bereits die IB unter Sellner mit ihren Aktionen die rücksichtslose Abschiebung von Geflüchteten sowie migrantischen und postmigrantischen Bevölkerungsteilen. Am 25. November 2023, kurz vor der Veröffentlichung seines Buchs, stellte Sellner seine Überlegungen dazu bei einem nicht öffentlichen Treffen von mehr als 20 extremen Rechten in Potsdam vor. Der ehemalige HDJ-Funktionär (»Heimattreue Deutsche Jugend e. V.«) Gernot Mörig hatte dazu Mitglieder und Anhänger*innen von AfD, »WerteUnion«, CDU, IB sowie Einzelpersonen in die Villa Adlon (auch: Gästehaus am Lehnitzsee) eingeladen. Das Treffen diente einer exklusiven Vernetzung innerhalb des Milieus sowie der Beschaffung von größeren Geldbeträgen für politische Projekte. Nachdem das Treffen öffentlich bekannt und medienwirksam skandalisiert wurde, verloren mehrere Teilnehmende ihre politischen Posten. Beim Potsdamer Treffen war Martin Sellner nicht der Einzige mit Schnellroda-Bezug. Der Gründer des identitären Projekts »Gegenuni« Erik Ahrens, 2022 und 2023 zweimaliger Referent auf den Akademien, war ebenso vor Ort wie der gewaltbereite Neonazi Mario Müller. Als führender IB-Aktivist war er mehrfacher Akademieteilnehmer, Verfasser des Buchs »Kontrakultur« beim »Verlag Antaios« sowie Aktivist des von Kubitschek gestützten identitären Hausprojekts in Halle. Jüngst trat Müller als Autor des »Compact«-Magazins sowie als Mitarbeiter des AfD-Bundestagsabgeordneten Jan Wenzel Schmidt in Erscheinung. Der Teilnehmer Roland Hartwig, zum Zeitpunkt des Potsdamer Treffens Referent der AfD-Bundesvorsitzenden Alice Weidel, hielt 2019 und 2023 ebenfalls Vorträge für das IfS. Silke Schröder, damals noch Vorstandsmitglied des »Vereins Deutsche Sprache«, war im Monat zuvor zu Gast im Literatur-Podcast der »Sezession«-Redakteurin Ellen Kositza. Weitere Teilnehmer des Treffens wie der AfD-Abgeordnete aus Sachsen-Anhalt Ulrich Siegmund und der Fraktionsgeschäftsführer Patrick Harr waren ebenfalls in der Vergangenheit bereits bei Veranstaltungen in Schnellroda.


Generell ist Schnellroda auf mehreren Ebenen gut mit der AfD vernetzt. IfS-Protagonisten wie Institutsleiter Erik Lehnert und Autor Benedikt Kaiser sind bei Parlamentsabgeordneten als Mitarbeiter angestellt. Einer der Schwiegersöhne von Kubitschek arbeitet ebenfalls für die Bundesvorsitzende Weidel. Die regelmäßig auf Veranstaltungen in Schnellroda anwesenden Natalie und Christian von H. unterstützen den AfD-Abgeordneten Maximilian Krah im Europa-Parlament. Krah selbst, der kürzlich aufgrund eines Spionagevorfalls eines seiner Mitarbeiter in der Öffentlichkeit stand, verfasste zuletzt für den »Verlag Antaios« das Buch »Politik von rechts«. Er gehört neben den Landes- und Bundespolitikern Björn Höcke, Christoph Berndt, Andreas Lichert, Hans-Thomas Tillschneider sowie Marc Jongen und Matthias Helferich zu den mehr oder weniger regelmäßigen Gästen und Referenten des IfS. Auch Bundes- und Landesgrößen der JA wie der Bundesvorsitzende Hannes Gnauck oder die Landesvorsitzenden Anna Leisten und Tomasz Froelich machen Werbung für Schnellroda.

Vortragsreisen, Neonazis und Verfassungsschutz
Benedikt Kaiser, der lange zum Kernteam des IfS gehörte, hat seine Redaktionstätigkeit für die »Sezession« Ende 2022 niedergelegt. Mittlerweile steht er dem »Jungeuropa Verlag« von Philip Stein nahe und betätigt sich als freier Autor und Referent mit zahlreichen Auftritten unter anderem bei JA-Gruppen und Burschenschaften. Auch Kubitschek ist in den vergangenen Monaten zunehmend als Vortragreisender unterwegs. Im November 2023 trat er im Rahmen der »Aktion 451« in Wien auf, am 19. Januar 2024 referierte er auf Einladung von Matthias Helferich in Dortmund, am 24. Januar 2024 im »Castell Aurora« im österreichischen Steyregg, am 26. Januar 2024 in Wien bei der »Österreichischen Landsmannschaft«, am 27. Januar 2024 gemeinsam mit Maximilian Krah in Budapest am »Institut Imre Kertesz« und auf Einladung der JA Mecklenburg-Vorpommern am 16. März 2024 in Schwerin.
Seit 2020 wird das IfS im Verfassungsschutzbericht des Landes Sachsen-Anhalt aufgeführt. Im April 2023 stufte das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) nach dreijähriger Beobachtung als »Verdachtsfall« das Institut als »gesichert rechtsextremistische Bestrebung« ein. Auch der »Verlag Antaios« steht unter Beobachtung. In Schnellroda geht man offensiv mit der Beobachtung um. Eine Jutebeutel-Kollektion bewirbt die »gesichert extrem guten Bücher« des »Verlags Antaios« und IfS-Besucher*innen schützen sich vor unliebsamen Fotograf*innen mit Pappmasken von Thomas Haldenwang, derzeitiger Präsident des BfV, und von Nancy Faeser, aktuell Bundesministerin des Innern und für Heimat und Sport. Die Protagonist*innen des IfS sprechen sich seit langem gegen eine strategische Mäßigung im Fall von politischen Vorwürfen aus, ebenso wie gegen Distanzierungen innerhalb des eigenen Milieus. Trotzdem hat man es bislang vermieden, öffentlich mit Neonazis in Verbindung gebracht zu werden. Eine Wende: Im Dezember 2023 sprach Kubitschek auf dem Internetblog der »Sezession« mit Frank Franz, dem Vorsitzenden der sich jüngst in »Die Heimat« umbenannten vormaligen NPD. Anlässlich der aktuellen AfD-Verbotsdebatte befragte Kubitschek Franz zu den Erfahrungen aus den NPD-Verbotsverfahren. Dieses Interview ist nicht das einzige Beispiel dafür, dass das IfS die Verbindungen zur neonazistischen extremen Rechten nicht länger scheut. Bereits im Juli 2023 war Erik Lehnert neben Martin Kohlmann von den »Freien Sachsen« als Referent bei einem Seminar in Guthmannshausen angekündigt, zu der die neonazistische Plattform »Metapol« eingeladen hatte.

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Vom Verein zur Unternehmergesellschaft
Bisher stand hinter den Aktivitäten des IfS und der Zeitschrift »Sezession« der im Mai 2000 gegründete »Verein für Staatspolitik«. Zwei Mitgliederversammlungen im Februar und im März 2024 haben nun die Auflösung des Vereins beschlossen. Bereits zwei Monate vor der offiziellen Vereinsauflösung hatten die beiden ehemaligen Vorstände Kubitschek und Lehnert zwei Unternehmergesellschaften zur Übernahme des IfS-Geschäfts gegründet. Die von Kubitschek geführte »Menschenpark Veranstaltungs UG« ist zuständig für »die Durchführung von Seminaren, Tagungen und Vortrags- und Messeveranstaltungen«. Für »die Herausgabe von Printmedien, insbesondere einer Zeitschrift«, gemeint ist die »Sezession«, ist nun die »Metapolitik Verlags UG« mit Lehnert als Geschäftsführer verantwortlich.

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Buch über das “Institut für Staatspolitik” und die Faschist*innen des 21. Jahrhunderts erschien 2020 und ist im Buchhandel erhältlich.

»Paradox Europa«

von Andreas Speit
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 207 - März | April 2024

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Polen errichtete 2021 eine »Rote Sperrzone« an der Grenze zu Weissrussland, die niemand mehr betreten durfte, also auch keine Journalist*innen. So wurde von einem europäischen Land das Recht auf Asyl verhindert, Menschenrechte eingeschränkt und die sogenannte Vierte Gewalt, also Presse und Medien, ausgesperrt. © Mark Mühlhaus / attenzione

Sie tritt wieder an. Am 9. Juni kandidiert Ursula von der Leyen für die Europäische Volkspartei (EVP) zur Europawahl. In Bukarest bestimmten die Delegierten die amtierende EU-Kommissionspräsidentin zu ihrer Spitzenkandidatin. Das Ziel: Die CDU-Politikerin und Präsidentin der EU-Kommission soll ein zweites Mal amtieren. Sie könnte somit noch einmal zu einer der wichtigsten Politikerinnen in Europa werden. Doch die Bedeutung der Wahl für alle europäischen Länder scheint in der allgemeinen Diskussion kaum relevant zu sein. Brüssel und Straßburg sind weit weg, wenn Entscheidungen fallen, und doch so nahe, wenn die Auswirkungen folgen. Eine Diskrepanz, die sich sowohl durch mangelnde Transparenz als auch offensichtliche Lobbyeinflüsse verstärkt. Von der Leyen wird schon jetzt nicht zugetraut, eine weitere Demokratisierung der europäischen Demokratie anzuschieben.


Dieses Dilemma ist nur eines von vielen Akzeptanzproblemen der Europäischen Union. Sie alle stärken die zahlreichen Anti-Europäer*innen. In ihrer Bewerbungsrede führte von der Leyen auf dem Parteikongress am 7. März aus, die Kriege in der Ukraine und in Gaza sowie der Aufstieg Chinas seien die zentralen Herausforderungen für die 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Sie richtete den Blick auch nach innen: »Und hier zu Hause versuchen die Freunde von Putin, unsere Geschichte umzuschreiben und unsere Zukunft zu kapern.« Diesen Anhänger*innen des russischen Präsidenten Wladimir Putin wolle sie entschieden entgegentreten. Sie werde sich für mehr finanzielle und militärische Hilfe für die Ukraine im Kampf gegen Russland einsetzen. Und die Spitzenkandidatin betonte: »Es darf keinen Zweifel daran geben, was bei dieser Wahl auf dem Spiel steht.« Einen Wandel für eine sozial-ökonomische Transformation sowie für eine humane Migrationspolitik versprach sie freilich nicht. Von der Leyen versicherte vielmehr, die EU-Wirtschaft voranzubringen, gegen irreguläre Einwanderung vorzugehen, die Unternehmen zu stärken sowie die Landwirte zu hofieren. Dass die Unternehmen und die Landwirtschaft durch einen »Green Deal« eine ökologische Nachhaltigkeit – unterstützt durch die EU – anstreben sollten, ließ sie jedoch unerwähnt. Schon lange wird das Vorhaben, mit dem die EU bis 2050 klimaneutral gemacht werden soll, dazu genutzt, um von der Leyen als zu grün anzufeinden.


In dem rund 23-seitigen Manifest zur Wahl, »Unser Europa, eine sichere und gute Heimat für die Menschen«, hebt die EVP jetzt auch hervor, der »Green Deal« dürfe die Wettbewerbsfähigkeit europäischer Unternehmen nicht einschränken und die Landwirtschaft nicht gefährden. Der Protest aus der Landwirtschaft in vielen europäischen Ländern zeigt Wirkung; Konservative stimmten bereits mehrmals gegen Gesetzesvorlagen der EU-Kommission. Mangels Unterstützung sah sich von der Leyen daher genötigt, Vorschläge für weniger Pestizide zurückzuziehen.
Die EVP dürfte nach Meinungsumfragen trotz des Aufstiegs extrem rechter Parteien in den EU-Staaten einen klaren Vorsprung vor den anderen Fraktionen erzielen. Sie könnte 176 Mandate erringen, die »Identität und Demokratie«-Fraktion 85 Mandate. Ein Grund zur Beruhigung? Nein, denn der Einfluss der Anti-Europäer*innen wie der AfD oder des »Rassemblement National« wirkt längst. Dieser Einfluss bremst nicht nur den gebotenen sozial-ökologischen Wandel aus, wo nicht nur die radikalen Anti-Europäer*innen eine »Ökodiktatur« kommen sehen. Er verschärft ebenso die Migrationspolitik. Im Manifest erklärt die EVP, die EU müsse wieder die »Kontrolle über die Migration« erhalten, da im vergangenen Jahr mehr als eine Million Asylanträge in den 27 EU-Ländern, in Norwegen und in der Schweiz gezählt wurden. Die vermeintliche Lösung der EVP: Drittstaaten sollen Antragsstellenden künftig »Schutz vor Ort« bieten. Die Ursachen von Flucht und Vertreibung, die auch die EU mit ihrer Politik von Marktprotektionismus bis Subventionen auslöst, wird letztlich ignoriert. Nicht minder, dass der Klimawandel auch weiterhin zu neuen Fluchtbewegungen führen dürfte. Die Antwort der EU: Verschärfung der Gesetze, starke Zäune und Beschränkung der Seenotrettung. Die Festung Europa steht und soll noch fester werden. Diese Politik läuft den von Ursula von der Leyen erwähnten europäischen Werten zuwider – in jeder Minute, in jeder Stunde.

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2012 erhielt die Europäische Union den Friedensnobelpreis als Anerkennung für viele Jahrzehnte Frieden, Versöhnung und Demokratie.« Bereits damals kam Kritik an der Auszeichnung auf. Unter anderem wurde auf einen Eurozentrismus hingewiesen, der nicht nur die Kolonialgeschichte, sondern auch die Gegenwart relativiere. 2024 ist von Versöhnung mit den angrenzenden Nicht-EU-Staaten bei der Asylpolitik wenig zu erleben. Dreckige Deals werden für die Abschottung ausgehandelt. Der EU-Staat Ungarn unter Viktor Orbán kann so Anti-EU-Politik betreiben. In den Grenzen der EU sind gesellschaftliche Minderheiten – LGBTQ sowie Sinti*zze und Rom*nja – auch weiterhin gefährdet und werden verstärkt angefeindet. Über das Selbstbestimmungsrecht von Frauen wird weiter gestritten. Das EU-Gesetz zum Schutz von Frauen ist jüngst daran gescheitert, einheitliche Standards für den Straftatbestand Vergewaltigung zu erreichen. Diese Passage blockierte aus Deutschland Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP). Seit dem Terroranschlag der Hamas und der Reaktion der Regierung Israels darauf sind jüdische Menschen massiven Anfeindungen ausgesetzt. Und gegen Menschen islamischen Glaubens muss das Abendland verteidigt werden.
Die Kritik wegen all der politischen Mankos mit ihren verheerenden Konsequenzen sollte aber zu keiner fundamentalen Kritik an dem erkämpften Wertekanon in der Europäischen Union führen. Im Gegenteil: An der Charta der Grundrechte – Würde des Menschen, Freiheit, Demokratie, Gleichstellung, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte – sollte die reale Politik gemessen und hinterfragt werden. Aus diesen sechs Werten ergeben sich die weitreichenden Forderungen für mehr Demokratie, Emanzipation, Humanität, Diversität, Frieden und soziale Sicherheit.


Auf das Paradox in Europa hat Ágnes Heller stets verwiesen. Die ungarische Philosophin, 2019 verstorben, hob in »Paradox Europa« hervor, der »erste Nationalstaat, ‹Frankreich›«, sei auch »Träger des Versprechens der Aufklärung. Die erste Verfassung war für ‹Menschen› und ‹Bürger›. Die universelle Identität (Menschenrechte) wurde mit anderen (Staatsbürgerrechten) verbunden.« Kurz: Die anfänglichen Versprechen wurden selbst erst nach und nach durch Kämpfe verwirklicht – wie das Wahlrecht von Frauen – und bis heute wurden nicht alle eingelöst.


In dem Essay von 2019 legt Heller zudem dar, dass der Sieg des Nationalismus 1914 kam – »gegen den Internationalismus der Arbeiterklasse und den Kosmopolitismus der Bourgeoisie«. Die »Erbsünde Europas war das hässliche Kind des Nationalismus«. Seitdem seien das »Europa des nationalistischen Fanatismus und das Europa des humanistischen Universalismus (…) dasselbe: Europa als Verkörperung eines Paradoxes«, so Heller. Ein Nationalismus, der zu Weltkriegen, Faschismus und Auschwitz führte.
In Zeiten des Fundamentalangriffs jener Kräfte sind die Kräfte des humanistischen Universalismus zu sammeln. Das »Paradox Europa« gilt es mit den Utopien eines Europas zu verteidigen. Heller nennt einen Etappensieg: die liberale Demokratie, auch weil liberale Staaten in Europa noch nie gegeneinander Krieg geführt haben. Das autoritäre Russland liefere den Beweis, mit dem Mittel des Kriegs wieder Politik umzusetzen. Diese Liberalität – mit seinen Innen- und Außengrenzen – greifen die Anti-Europäer*innen mit unterschiedlichen Argumentationen an. »Deren Kulturrevolution soll mit einer neuen Kulturrevolution unter umgekehrten Vorzeichen revidiert werden«, warnt Claus Leggewie. Der Politikwissenschaftler schrieb 2016 in »Anti-Europäer – Breivik, Dugin, al-Suri & Co.«, wenn diese europafeindlichen Kräfte, zu denen er auch Putin zählt, erfolgreich würden, entstehe ein »radikal anderes, autoritäres, fundamentalistisches Europa – statt kulturellem Pluralismus weiße Suprematie, (…) statt Demokratie Autokratie, statt Gleichberechtigung Patriarchat, statt Individualität Unterwerfung«. Diese Gefahr droht real, auch weil das konservative Milieu seinen eigenen Werten nicht immer treu bleibt.