der rechte rand

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Druckzeitpunkt: 04.12.2023, 10:48:40

Aktuelle News

Auf unsicherem Fundament

von Lucius Teidelbaum
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 203 Juli | August 203

Die Anfangseuphorie scheint vorüber zu sein. Die aus der »Querdenken«-Bewegung entstandene Kleinstpartei »dieBasis« versucht weiterhin, das Potenzial der Corona-Proteste an der Wahlurne zu bündeln – aktuell mit dem Thema Frieden.

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Wahlkampf in Sachsen-Anhalt @ Mark Mühlhaus / attenzione

Vom 30. März bis 2. April 2023 führte »dieBasis« in Braunschweig mit 600 Mitgliedern unter Gegenprotest ihren Bundesparteitag durch. Dieser war auch nötig geworden, um die Löcher im Bundesvorstand zu stopfen. Streitereien unter anderem zwischen den beiden Vorsitzenden Reiner Fuellmich und Viviane Fischer über den Missbrauch von Geldern für den außerparlamentarischen »Corona-Untersuchungsausschuss«, in dem beide aktiv waren, hatten zu Fuell­michs Rücktritt als Co-Vorsitzender im Oktober 2022 geführt.

Allerdings konnten nur drei von elf Posten im Vorstand neu besetzt werden. Neu gewählter erster Vorsitzender wurde der Diplom-Ingenieur Sven Lingreen aus Oberhavel (Brandenburg). Zweite Vorsitzende wurde Skadi Helmert aus Ilsenburg (Sachsen-Anhalt). Die landwirtschaftlich-technische Assistentin ist auch Mitglied im Landesvorstand Sachsen-Anhalt. Der Steuerberater Bernd Bremer aus Berlin wurde neuer Schatzmeister im Bundesvorstand. Alle weiteren Posten blieben jedoch unbesetzt. Außerdem entschieden die Delegierten, dass ihre Partei an der Europawahl 2024 teilnehmen soll. Mitte Mai bestätigte ein offener Brief des neuen Vorstandes die im Vorfeld vom extrem rechten »Compact Magazin« gestreute Information: »dieBasis« lädt das »Team Todenhöfer« von Jürgen Todenhöfer, unter anderem ein Apologet des iranischen Regimes, zur Kooperation ein. Die Schnittmenge liege beim Einsatz »für direkte Demokratie und die aktive Teilhabe der Bürger«. Die Zusammenarbeit wäre eine Möglichkeit, das wahre Potenzial derjenigen, die »medial verschwiegen werden«, zu entfalten. Doch die Partei möchte mehr und andere »prominente Akteure« einbinden. »Ein solches Szenario könnte beispielsweise die Einbindung von Sahra Wagenknecht, einer prominenten Politikerin und ehemaligen Fraktionsvorsitzenden der Linken, beinhalten.«

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Johanna Findeisen, Kandidatin von »dieBasis« und unter anderem Coach für Persönlichkeitsentwicklung und Potenzialentfaltung: »Manchmal stösst man mit seinem Denken, mit seinem Tun, privat oder beruflich, an gewisse Grenzen, bewegt sich im ‹Leerlauf›, wie in einem Hamsterrad«, steht auf ihrer Internetseite. Seit Ende Mai 2023 befindet sie sich in Untersuchungshaft. @ @derrechterand Archiv Screenshot

Reichsbürger mit Partei-Ausweis?
Bundesweite Razzien am 7. Dezember 2022 und 22. Mai 2023 im Milieu der »Reichsbürger« offenbarten mutmaßliche Verbindungen zwischen dem Rechtsterror-Netzwerk »Patriotische Union« und »dieBasis«. Unter den Anfang Dezember Verhafteten waren auch zwei hochrangige Parteimitglieder. Zum einen war der ehemalige Polizeikommissar Michael Fritsch aus Hannover betroffen, der zur Bundestagswahl 2021 »dieBasis«-Spitzenkandidat des Landesverbands Niedersachsen war. Zum anderen war auch Johanna Findeisen vom Überlinger Ortsverband von der Razzia betroffen, die seit Anfang April 2022 als Säulenbeauftragte im Landesverband Baden-Württemberg fungierte. Die Indizien reichten damals nicht für einen Haftbefehl. Das hat sich offensichtlich geändert, denn seit der Durchsuchung Ende Mai 2023 befindet sich Findeisen in Untersuchungshaft.

Im Dezember sprang der baden-württembergische Landesverband in einer Pressemitteilung Findeisen bei: »Dass in Medienberichten ihr Name im Zusammenhang mit einer sogenannten ›Reichsbürger-Szene‹ und sonstigen extremistischen oder verfassungsfeindlichen Bestrebungen aufgeführt wird, ist in unseren Augen eine grobe Falschdarstellung ihrer tatsächlichen Überzeugungen und eine wahrheitswidrige Darstellung ihrer Handlungen. (…) Bis zum Beweis des Gegenteils können wir uns des Eindrucks nicht erwehren, dass im Fall Johanna Findeisen das Produzieren negativer und die betroffene Person schädigender Schlagzeilen das eigentliche Ziel der Hausdurchsuchung war.«

Am 25. Mai 2023 stellte sich der Landesverband in einer Pressemitteilung erneut vor Findeisen: »Wir können sie als Mensch aufgrund unserer persönlichen Erfahrungen, ihres entschiedenen Auftretens und ihres Einsatzes für die Erhaltung unserer Grundrechte nicht mit extremistischen Ideen in Zusammenhang bringen. Wir sehen ihr stetiges Bestreben, Achtsamkeit und Menschlichkeit im Sinne der Werte in unserer Partei zu leben.

Friedensbewegung auf neuer Basis?
Der Protest-Partei-Charakter ist wichtig für das Überleben der Partei. Sie benötigt Aufregerthemen, um zumindest ihr Kernklientel bei der Stange zu halten und zu den Urnen zu mobilisieren. Allerdings hat die bremische Bürgerschaftswahl im Mai gezeigt, dass gerade mal 0,8 Prozent der Wähler*innen ihr Kreuz bei »dieBasis« machten. Derzeit fokussiert man sich verstärkt auf das Thema Ukraine-Krieg und vertritt Positionen, mit denen versucht wird, einem Nationalneutralismus, einer naiven Friedensbestrebung und einer kaum verhohlenen Pro-Putin-Position eine parteipolitische Heimat zu geben. Ob das Thema viele an der Wahlurne mobilisieren wird, bleibt jedoch ungewiss. Schon eher schließt man über das Thema zu Teilen der traditionellen Friedensbewegung auf und engagiert sich in der neuen Friedensbewegung, die 2014 entstand und von der Bewegung der Pandemie-Leugner*innen reaktiviert wurde. Es handelt sich aber um keine Unterwanderung, da ihnen zum Teil die Tür von innen geöffnet wurde. Für die Partei traten immer wieder bekanntere Gesichter der traditionellen Friedensbewegung auf. Etwa Florian Pfaff, Major a. D. und aktuell Sprecher des militarismuskritischen »Arbeitskreis Darmstädter Signal«, oder Jürgen Rose, Oberstleutnant a. D. und ehemaliger Sprecher des »Darmstädter Signals«.

Die Kritik an einer Zusammenarbeit mit Organisationen wie »die­Basis« führte zu Zerwürfnissen, in Folge derer in mehreren Städten zu Ostern 2023 Ostermärsche stattfanden – einerseits ein rechtsoffener und Russland verharmlosender und andererseits einer, der sich um eine inhaltliche und organisatorische Abgrenzung bemühte. Sinnbildlich dafür steht die Friedensdemonstration am 25. März 2023 in Düsseldorf, bei der Diether Dehm (Die Linke), Meyra (»Bonn zeigt Gesicht), Özenc Arslan (»Team Todenhöfer«) und Michael Aggelidis (»dieBasis« – AG Frieden) sprachen. Ein Hauptkritikpunkt an der Partei ist ihre mangelnde Abgrenzung nach rechts. Dieser Kritikpunkt wurde noch einmal bestätigt, als im März 2023 die AfD Lüneburg auf Twitter mitteilte, dass sie zusammen mit »dieBasis« eine Gruppe im Lüneburger Kreistag gebildet habe.

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Die Partei scheint sich recht umstandslos die gesamte verschwörungsideologische Agenda anzueignen. Der Landesverband Nordrhein-Westfalen titelte am 11. April 2023 »Klimawandel ist etwas ganz Normales«, leugnet den anthropogenen Klimawandel und versucht dessen Folgen zu verniedlichen. »In den warmen Phasen, in denen es bis zu zwei Grad wärmer war als gegenwärtig, blühten die Kulturen auf (Bronzezeit, Antike, Hochmittelalter, Jetztzeit). Alles völlig normal. Und in ein paar Tausend Jahren wird wieder eine Eiszeit folgen. Auch völlig normal. Ursache sind periodische Verschiebungen der Erdbahn.« Der Landesverband gibt Entwarnung. »Die Menschheit hat bisher alles überstanden. Aber was ist heute: Klimapanik.« Auch der Auftritt des Psychiaters und Psychoanalytikers Dr. Hans-Joachim Maaz aus Halle als Gastredner auf dem Bundesparteitag zeigt die Richtung auf. Maaz war Mitglied im Beirat des Newsportals »Rubikon«, auf dem Pandemie-Leugner*innen und Verschwörungserzähler*innen publizieren. Er selber brachte in der Vergangenheit auch viel Verständnis für PEGIDA auf. In seiner Rede in Braunschweig beklagte er das Fehlen einer »innerseelischen Demokratie«, zu der die meisten Menschen nicht fähig seien. Außerdem attestierte er allen Politiker*innen in seiner Rede einen krankhaften Narzissmus und nannte die Grünen »die gestörteste, die extremistischste Partei«. Viel Applaus bekam er auch für folgende Aussage: »Ich persönlich bekenne mich immer zu den Verschwörungstheoretikern, [Applaus] weil ich sicher bin, dass ein Verschwörungstheoretiker eine Wahrheit, eine Teilwahrheit (…) vertritt, die von der Mehrheit der anderen nicht (…) akzeptiert werden will.«

Überschaubare Wahlerfolge und ungewisse Zukunft
Zeitweise hatte »dieBasis« eigenen Angaben nach über 30.000 Mitglieder und damit fast so viele wie die AfD. Damit verbunden war der Aufbau von Strukturen wie Kreisverbänden, die personell oft starke Überschneidungen zu den Straßenprotesten der Pandemieleugner*innen aufwiesen. Die Partei versucht eine esoterisch-verschwörungsideologische Lücke neben der AfD zu besetzen. Extrem rechte Wähler*innen dürften allerdings der AfD den Vorzug geben. Das reicht nicht zum Überspringen der Fünf-Prozent-Hürde, aber manchmal zum Überspringen der Ein-Prozent-Hürde zur Wahlkampfkostenerstattung. Ob die Partei langfristig Bestand haben wird, ist ungewiss. Das Thema Corona scheint erschöpft und der Ukraine-Krieg nur bedingt ein Ersatzthema darzustellen.

Bei der Landtagswahl in Schleswig-Holstein am 8. Mai 2022 erhielt »dieBasis« 1,1 Prozent, bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen am 15. Mai 2022 0,8 Prozent und bei der Landtagswahl in Niedersachsen am 9. Oktober 2022 1,0 Prozent der Zweitstimmen. Bei den wiederholten Wahlen in Berlin – immerhin einer der Geburtsorte der Bewegung der Pandemieleugner*innen – am 12. Februar 2023 erhielt sie dagegen nur 0,5 Prozent der Zweitstimmen. Es ist unklar, ob die Partei in Zukunft noch größere Erfolge verzeichnen kann.

Vertane Chance

von Johanna Wintermantel
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 190 - Mai | Juni 2021

Was wäre geschehen, wenn Benito Mussolinis aufstrebende faschistische Bewegung schon 1921 gestoppt worden wäre? Hätten die deutschen Nationalsozialist*innen ebenfalls stärkeren Widerstand erlebt? Wäre die Geschichte ganz anders verlaufen? Diese Fragen drängen sich bei der Beschäftigung mit den Arditi del Popolo auf.

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Eines von verschiedenen Logos der Arditi del Popolo: ein Beil, das ein »fascis« (lat.), ein Rutenbündel, zerschlägt.

Als »die große vertane Chance des militanten Antifaschismus vor dem Marsch auf Rom« hat der Historiker Paolo Spriano sie bezeichnet. Dass dieser Gedanke unbequem ist, mag dazu beigetragen haben, dass die Arditi del Popolo nicht nur in Deutschland fast unbekannt sind, sondern auch im historischen Gedächtnis Italiens kaum vorkommen.
Im Juni 1921 in Rom offiziell gegründet, bildete die neue Bewegung innerhalb weniger Tage bewaffnete Formationen in zahlreichen italienischen Städten und kämpfte, an mehreren Orten erfolgreich, gegen faschistische Schlägertrupps. Doch bereits nach wenigen Monaten zerfiel die Organisation weitgehend, der Faschismus kam an die Macht. Die weitaus größere und bekanntere italienische Widerstandsbewegung, die Resistenza, entstand erst 1943.

Erfahrung von Weltkrieg und Klassenkampf
Der Erste Weltkrieg hatte Massen an Veteranen, Kriegsversehrten, Kriegswitwen und -waisen hinterlassen, von denen viele den nationalistischen Rausch nicht oder nicht mehr teilten und mittellos auf sich allein gestellt waren. Es entstanden diverse, auch proletarische und pazifistische, Organisationen für Veteranen und Hinterbliebene, darunter die Veteranenorganisation Associazione Nazionale Arditi d’Italia. Die Arditi waren Sturmtruppen, Eliteeinheiten der Armee im Ersten Weltkrieg. Aus der römischen Sektion spaltete sich im Sommer 1921 die Arditi del Popolo auf Initiative des Anarchisten Argo Secondari ab. Dies war die Reaktion auf zunehmende Sympathien eines Teils der Verbände mit der faschistischen Bewegung. Sofort nach der Gründung der Arditi del Popolo in Rom formierten sich bewaffnete, militärisch-strukturierte Einheiten im ganzen Land, um sich dem Terror der Faschisten entgegenzustellen. Sie bestanden jedoch nicht ausschließlich aus Veteranen. An den Verteidigungskämpfen gegen faschistische Truppen in der ligurischen Stadt Sarzana (Juli 1921) sowie in Parma (August 1922) waren über die militärischen Einheiten hinaus weite Teile der Bevölkerung beteiligt, darunter viele Jugendliche und Frauen. Über die Kämpfe der Frauen in Parma berichtete der dortige Kommandant Picelli: »Von den Fenstern einer der Hütten schrie ein Mädchen von 17 Jahren, während sie ein Beil in die Höhe streckte und schwenkte, ihren Genossen auf der Straße zu: ‹Wenn sie kommen, bin ich bereit›. An die Frauen wurden Behälter mit Petroleum und Benzin verteilt, damit der Kampf (…) Straße für Straße hätte geführt werden können.« Leider ist über den Beitrag von Frauen an den Kämpfen nur wenig Wissen überliefert.

Die Mitglieder der antifaschistischen Organisation entstammten der ärmeren Bevölkerung, die geprägt war durch die Klassenauseinandersetzungen am Ende des Ersten Weltkrieges. Es folgte das »biennio rosso«, die »roten zwei Jahre« 1919-1920: Arbeiter*innen und Bäuer*innen protestierten, streikten, besetzten Land und Fabriken, teilweise versuchten sie Betriebe selbst zu verwalten. Die 1919 gegründete faschistische Bewegung reagierte darauf mit Schlägertrupps, den »squadre«. Sie griffen – weitgehend ungehindert oder sogar unterstützt von der Polizei – gezielt Angehörige und Orte von Arbeiter*innenorganisationen an, wie etwa Gewerkschaftsbüros. Einheiten der Arditi del Popolo entstanden in allen Regionen – in etwas geringerer Zahl im Süden, wo die Klassenkämpfe nicht so heftig waren, und erst etwas später in den industriellen Zentren des Nordens, wo bereits eine gut organisierte Arbeiter*innenbewegung existierte, die in der Lage war, sich zu verteidigen. Die antifaschistische Organisation war aber keine Massenbewegung. Beschränkt man sich auf die eindeutig belegten Zahlen, entstanden die mit Abstand größten Sektionen in der Region Latium (Mittelitalien inklusive Rom) mit 3.300 und der Region Toskana mit 3.000 Mitgliedern. Mit Millionen organisierter Arbeiter*innen, denen nur einige zehntausend faschistische Squadristi gegenüberstanden, wäre das antifaschistische Rekrutierungspotential recht hoch gewesen.

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Mangelnde Unterstützung
In dieser Zeit kristallisierten sich die politischen Fronten in Italien erst heraus. Das gilt nicht nur für Mussolini, der zunächst führendes Mitglied der Sozialistischen Partei war, sondern auf der anderen Seite auch für einige Arditi del Popolo, die sich dem Antifaschismus widmeten. Zuvor hatten diese den Krieg befürwortet und nach Kriegsende, unter Führung des Dichters Gabriele d’Annunzio, an der Besetzung der Stadt Fiume teilgenommen. D’Annunzio sollte sich als wichtiger Ideengeber des Faschismus erweisen. Die Zugehörigkeit von Fiume/Rijeka, im heutigen Kroatien, war nach dem Ersten Weltkrieg umstritten. Die Besetzung war Ausdruck nationalistischer Gebietsansprüche, hatte aber zugleich auch revolutionär-libertäre Aspekte.

Die Arditi del Popolo waren keineswegs politisch indifferent, doch Parteizugehörigkeiten spielten keine Rolle. In ihren regional und städteweise strukturierten Organisationen kooperierten Angehörige der Sozialistischen, der Kommunistischen sowie anderer Parteien in ein und derselben Truppe. Das Ziel, was sie vereinte, war die Gegenwehr gegen die faschistische Gewalt; übergeordnete politische Ideen verfolgten sie nicht.

Statt es zu begrüßen, dass eine Art spontane antifaschistische Einheitsfront im Entstehen war, ließen die linken Parteien die ­Arditi del Popolo im Stich oder wandten sich aktiv gegen sie. Dies galt insbesondere für die Führungsebene, während Teile der Parteibasis – auch gegen die explizite Parteilinie – sich der neuen antifaschistischen Bewegung anschlossen.

Die Sozialist*innen entschieden sich, unter dem sozialistischen Ministerpräsidenten Ivanoe Bonomi, sogar für einen Befriedungskurs gegenüber dem Faschismus. Dieser mündete am 3. August 1921 in einen Friedenspakt. Der militante Antifaschismus der Arditi wurde dabei als Störfaktor wahrgenommen. Die Sozialistische Partei distanzierte sich daher ausdrücklich von ihnen, zumal diese sich ja selbst für »außerhalb jeder Partei stehend« erklärt hätten. Als die Regierung Bonomi Maßnahmen gegen jegliche paramilitärischen Gebilde erließ, traf dies überproportional die Antifaschist*innen und nicht die Faschist*innen. Damit trugen die Sozialist*innen wesentlich zur Schwächung des Antifaschismus bei.

Für die Kommunistische Partei Italiens (KPI) war der bewaffnete Antifaschismus die richtige Strategie. Da die Parteiführung unter Amedeo Bordiga jedoch auf eine kommunistische Führung abzielte, lehnte sie die Strategie einer Einheitsfront ab und verbot ihren Mitgliedern, Teil der Arditi del Popolo zu werden. Sie stand damit im Gegensatz zur Position der Kommunistischen Internationalen, in der sich selbst Wladimir Iljitsch Lenin positiv zur Gründung der Arditi del Popolo äußerte. Eine Ausnahme in der KPI bildete Antonio Gramsci, der zumindest anfangs die Bedeutung der Arditi del Popolo durchaus anerkannte. Einfache Parteimitglieder schlossen sich der Organisa­tion offenbar immer weiter an. Dies geht aus wiederholten Aufrufen zur Disziplin, seitens der Führung der KPI, hervor: »Trotzdem bestehen einige Genossen und einige Organisationen der Partei darauf, die Teilnahme der erwachsenen und jugendlichen Kommunisten an anderen, unserer Partei nicht zugehörigen Formationen vorzuschlagen oder manchmal auch umzusetzen, wie den Arditi del Popolo. Oder sie ergreifen sogar die Initiative zur Gründung lokaler Arditi-del-­Popolo-Gruppen, anstatt sich in der von den zentralen Organen angegebenen Richtung an die Arbeit zu machen. Diese Genossen werden zur Disziplin gerufen.« Die einzige politische Kraft, die solidarisch mit den Arditi del Popolo war, war die anarchistische und anarchosyndikalistische Bewegung. Sie kritisierten zwar deren militärische und zentralistische Struktur und das Fehlen revolutionärer Ziele, doch äußerten sich ihre zentralen Organe und Vertreter*innen durchweg unterstützend. Der einflussreiche Anarchist Errico Malatesta schrieb: »Allein können wir den Faschismus nicht bezwingen und erst recht nicht die Institutionen niederreißen. Also bleibt uns die Wahl, uns entweder denen anzuschließen, die zwar keine Anarchisten sind, aber mit uns die unmittelbaren Ziele gemein haben, oder zuzulassen, dass die Faschisten, mit der Regierung als Komplizin, weiterhin Italien tyrannisieren.« Er vertrat dies noch im Sommer 1922, als die Arditi del Popolo sich längst schon im Niedergang befanden. Die relativ kleine, gespaltene und heterogene anarchistische Bewegung reichte als Bündnispartnerin jedoch nicht aus, als dass die antifaschistische Organisation sich hätte behaupten können. Im August 1922 errangen sie noch einen ihrer größten Siege, als sie in mehrtägigen Barrikadenkämpfen in den armen Vierteln Parmas die Stadt erfolgreich gegen eine faschistische Besetzung verteidigten. Doch bis auf solche Ausnahmen waren die Arditigruppen bereits wieder in sich zusammengefallen. Parteiunabhängige Antifaschist*innen agierten zunehmend nur noch im Untergrund. Viele Mitglieder wurden ins Gefängnis oder in die Verbannung geschickt oder gingen ins Exil. Nicht wenige kämpften später im Spanischen Bürgerkrieg.

Die Resistenza
Somit siegte vorerst für gut 20 Jahre der Faschismus. Am 28. Oktober 1922 fand der faschistische Marsch auf Rom statt und am Tag darauf erteilte der König, Viktor Emanuel III., Benito Mussolini den Auftrag, eine neue Regierung zu bilden. Erst ab September 1943 – nachdem die italienische Regierung den Waffenstillstand bekanntgegeben hatte, die Deutschen daraufhin Nord- und Mittelitalien besetzten, während die Alliierten bereits von Süditalien aus vorrückten und die Faschisten die Republik von Salò ausriefen – entstand wieder eine vereinte Widerstandsbewegung: die Resistenza. Auch wenn der Anteil der Alliierten an der Befreiung Italiens entscheidend war, leistete die Resistenza einen wichtigen Beitrag. Eine Reihe von Städten wurde von den Partisan*innen der Resistenza selbst befreit.

Sie war nicht nur die größere und am Ende erfolgreichere Bewegung, sondern unterschied sich in weiteren Punkten vom Widerstand der Arditi del Popolo. In beiden Bewegungen beteiligten sich Angehörige verschiedener nichtfaschistischer Parteien, aber an der Resistenza beteiligten sich die politischen Parteien offiziell und agierten großteils mit je eigenen Einheiten, die über ein nationales Steuerungskomitee miteinander verbunden waren. Die Resistenza wurde stärker klassenübergreifend mitgetragen. Schließlich wandte sie sich, anders als der Widerstand ihrer antifaschistischen Vorgänger, wesentlich auch gegen einen äußeren Feind, die Deutschen.

Doch war die Resistenza eine ganz andere, komplett neue Bewegung? An ihr beteiligten sich viele junge Leute, die vollständig im Faschismus aufgewachsen waren. Wie sollten sie etwas anderes kennen und wollen? Dass sie Zweifel und die Fähigkeit zum Widerstand entwickelten, ist kaum denkbar ohne die Inspiration und Anleitung durch die Älteren, die die sozialen und politischen Kämpfe des frühen 20. Jahrhunderts durchgemacht hatten, darunter ehemalige Mitglieder der Arditi del Popolo. Die Einschätzung des Kommunisten und Partisanen Pietro Secchia, dass der Erfolg der Resistenza vor allem auf der hartnäckigen, mühsamen und entschiedenen Aktivität der Minderheiten beruht habe, die in den Jahren der harten antifaschistischen Militanz der Vorkriegszeit aufgewachsen waren, war nicht auf die Arditi del Popolo gemünzt. Aber gerade sie zählten zweifellos wesentlich dazu.

Johanna Wintermantel ist Übersetzerin des Buches »Arditi del popolo. Der erste bewaffnete Widerstand gegen den Faschismus in Italien 1921-22« von Andrea Staid. Erschienen im Verlag Edition AV 2020.

Expansionsfantasien im Ländle

von Kian Blume
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 203 Juli | August 203

Das »Königreich Deutschland« ist auf Expansionskurs – so zumindest die Vorstellung des selbst ernannten »Königs« und seiner Gefolgschaft. Verschiedene Ortsgruppen in Baden-Württemberg träumen vom eigenen Anwesen fernab von Strukturen der Bundesrepublik. Eine Gruppe aus der Region Ulm hat bereits sehr konkrete Pläne, eine weitere Gruppe in Freiburg ist von ihrem Ziel noch weit entfernt.

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Peter Fitzek verkauft sich und seine Projekte aktuell auch über YouTube wie hier im Interview mit Bewusstseinstrainer Bruno Würtenberger, der über sich selbst sagt: »Meine Vision ist es, Dir zu helfen das Leben Deiner Träume zu verwirklichen.« © @derrechterand Archiv Screenshot

Wenn es nach den Vorstellungen des selbst ernannten »Königs« Peter Fitzek (s. ddr Nr. 165) und seinem Kernteam geht, soll das »Königreich Deutschland« (KRD) durch die Gründung von Dorfprojekten deutschlandweit wachsen. Auf ihrer Website werben sie für das Leben im »Gemeinwohldorf« mit einem »selbstbestimmte(n) Leben – ohne Impfpass, Maske und Zentralbankkonto«. Nach außen tritt das KRD gezielt harmlos, ökologisch, freiheitsliebend und gemeinwohlorientiert auf. Antisemitische Verschwörungsideologie gehört jedoch genauso zum Programm wie Kontakte zu bekannten »Reichsbürgern« und zur extremen Rechten. So ist auch der selbst ernannte »Volkslehrer« und wegen Volksverhetzung verurteilte Neonazi Nikolai Nehrling ein gern gesehener Gast des »Königreichs«. Dessen selbst erklärtes Ziel ist ein »komplette(r) Neuanfang des deutschen Staates«.

Das KRD unterhält unter anderem eine Immobilie in Wolfsgrün im Erzgebirgskreis. Eine Jugendstilvilla im Stadtteil Eibenstock soll als Seminarhaus dienen. In Bärwalde, in der sächsischen Oberlausitz, hat sich Mitte letzten Jahres ein »Gemeinwohldorf« gegründet. Eine weitere Immobilie befindet sich in der Lutherstadt Wittenberg (Sachsen-Anhalt), wo im Juni dieses Jahres ein Tag der offenen Tür stattfand. Im Vorfeld warb Fitzek dafür in einem Video mit seinem Kommen und kündigte an, über geplante Projekte zu berichten, die noch nicht öffentlich seien.

Große Ambitionen im Ländle
Mit dieser Ankündigung spielt Fitzek vermutlich auch auf das »Dorfprojekt Süd« an. In der Gemeinde Obersontheim im baden-württembergischen Landkreis Schwäbisch-Hall verfolgen Angehörige des KRD aktuell das Ziel, ein Hofgrundstück zu erwerben und es dem »Königreich« zu stiften. Federführend am Projekt beteiligt ist eine Heilpraktikerin aus dem Raum Ulm. Für das »Dorfprojekt Süd« hat sie mit rund neun weiteren Personen große Ambitionen: Zielobjekt der Gruppe ist eine Immobilie in der Gemeinde Obersontheim. Das Gehöft in Alleinlage für 1,5 Millionen Euro Kaufpreis umfasst 18 Hektar Land inklusive eigenem Waldstück und Wasserquelle. Inzwischen kam es auch zu Gesprächen mit dem KRD, in denen die geplante Stiftung und anschließende Nutzung des Grundstücks besprochen wurden. Im Videocall empfiehlt ein William vom KRD-Kernteam, der für die Gründung von »Gemeinwohldörfern« zuständig sein soll, vor dem Kauf einer Immobilie nicht als KRD aufzutreten. Im Süden rechne er noch mit weniger Zuspruch aus der Bevölkerung als im Osten Deutschlands. Finanziell könne sich das »Königreichs« nicht an dem Kauf beteiligen. Dies könnte an der schlechten Finanzlage liegen, auf die ein Artikel der kritischen Plattform Sonnenstaatland im März dieses Jahres hinwies.
Eine Anfrage gegenüber dem zuständigen Polizeipräsidium Aalen ergab, dass die Aktivitäten der Gruppe bisher scheinbar unter dem Radar der Behörden verliefen. Man wisse nur von »vereinzelten Aktivitäten des KRD«, heißt es in der Antwort des Präsidiums – gleiches gilt für das Landesamt für Verfassungsschutz.

Unter dem Radar
Baden-Württemberg gilt inzwischen als Hotspot für die Szene der Reichsbewegten aller Couleur. Der Verfassungsschutz rechnet im Ländle rund 3.800 Personen dem Spektrum zu. Auch in Freiburg gibt es seit Februar letzten Jahres eine KRD-Gruppe, die sich bisher unter dem Radar der Öffentlichkeit bewegen konnte. Zur Ortsgruppe gehört Niclas Dreier, der für das KRD Imagefilme produziert. Laut eigenem LinkedIn-Profil ist er Leiter des KRD-eigenen Filmstudios, auf Instagram gibt er sich selbst den royalen Titel »Videoherzog«. Die Telegramgruppe der Freiburger Ortsgruppe zählte zuletzt rund 50 Mitglieder.

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Frappierend dabei ist: Die Ortsgruppe hat scheinbar unbemerkt regelmäßig Treffen in Räumlichkeiten des Stadtteilzentrums Vauban veranstaltet. Das Quartier Vauban gilt als grüner Vorzeigestadtteil und ist ein Paradies für die »Bio-Bohème«. Im alternativen Öko-Milieu versucht das »Königreich« anzuschließen und fällt dabei mancherorts gar nicht auf. Es geht ihnen dabei nicht nur um ein friedliches Leben im Exil: Im Telegram-Kanal der Gruppe »Dorfprojekt Süd« zweifelt ein Mitglied unkommentiert an der medialen Darstellung zu den Razzien gegen die »Patriotische Union« und ihre »angeblichen« Putschpläne. Ein anderer gibt eine Leseempfehlung zu dem Buch »Was heißt Deutsch sein?« des völkischen Esoterikers Herman Wirths.

Das betroffene Stadtteilzentrum reagierte auf die Treffen unmittelbar und sperrte den Zugang für die beteiligten Personen. Nun soll ein Kodex über die Vergabe der Räume im Haus abgestimmt werden. Solche Reaktionen aus der Zivilgesellschaft machen Hoffnung.

Uwe Steimle verbindet

von Marcel Hartwig
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 201 - März | April 2023

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Screenshot von einer Sendung Steimles auf YouTube

Der Schauspieler und Kabarettist Uwe Steimle, früher Star des MDR, wo er mit »Steimles Welt« eine eigene Sendung hatte, bedient seit Langem die Ostalgie-Welle mit seinem sächsischen Regionalpatriotismus und war, wenn auch unspezifisch, einem progressiven Milieu zugeordnet. Im Jahr 2009 nominierte ihn die Partei Die Linke als Wahlmann für die Bundesversammlung zur Wahl des Bundespräsidenten. Ab 2015 wandte sich Steimle sukzessive dem politischen Umfeld von PEGIDA und der »Alternative für Deutschland« (AfD) zu. Seitdem ist sein Rechtsdrift notorisch: Interviews in rechten Medien, Wiedergabe von Elementen der »Reichsbürger«-Ideologie. Der MDR entschied Ende 2019, die Sendung »Steimles Welt« nicht fortzusetzen. Seitdem ist er in eigener Sache im Internet und in den Kulturhäusern Ostdeutschlands unterwegs. Seine Mission: Pflege der reaktionären Ostalgie sächsischer Ausprägung. Mit Erfolg: Der von ihm betriebene YouTube-Kanal hat mit 100.000 Abonnent*innen eine hohe Reichweite.

Kundgebung in Dresden
Dresden am 13. Februar 2023. Vor dem Kulturpalast in der Innenstadt versammeln sich zwischen 400 und 600 Menschen. Sie sind einem Aufruf Steimles zu einer Kundgebung für den Frieden gefolgt. Steimle verteilt blaue Papierfähnchen mit der von Picasso entworfenen Friedenstaube – deren Bild im Alltag der DDR omnipräsent war – an die Anwesenden. Die Teilnehmenden freut es. Die Papierfähnchen finden Absatz. Steimle übt sich in einer naiven Friedensrhetorik, die politische Kausalzusammenhänge verwischt. Bereitwillig gibt der Kabarettist anwesenden sogenannten alternativen Medien Interviews, darunter »DS TV«, das Videoformat der NPD-Parteizeitung »Deutsche Stimme«, und »Compact TV«. Wenige Tage später erscheint in der in Ostdeutschland auflagenstarken Zeitschrift ­»Super Illu« ein Streitgespräch Steimles mit dem Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk über die DDR-Vergangenheit und die Bewertung des Krieges in der Ukraine unter Ostdeutschen. Hier wiederholt er den »Reichsbürger«-Sprech: »Wir sind ein besetztes Land.«

Darüber, sowohl eindeutig rechte Medien zu bedienen als auch in etablierten Medien Gehör zu finden, erschließt Steimle Resonanzräume, die auf den ersten Blick im Wortsinne quer zum etablierten politischen Koordinatensystem zu liegen scheinen, sich ihren inhaltlichen Positionen nach jedoch an rechten Deutungen und Erklärungen orientieren, ohne sich selbst rechts zu verorten.

Rollenspiele
Steimle war in Dresden in der Rolle des aktivistischen Impresarios vor Publikum zu erleben. So leitete er die Teilnehmenden an, ein in der DDR beliebtes Kinderlied über den Frieden zu singen. Wie in seinen Bühnenprogrammen agiert er in wechselnden Rollen, einerseits als Kabarettist, der mit spitzer Zunge die politische Lage ironisiert, andererseits jedoch als politisch intervenierender Kommentator, der eine politische Meinung artikuliert, die durch den Appell an die DDR-Erfahrung seiner Zuhörer*innenschaft plausibilisiert wird. Ernst und Ironie wechseln, werden ununterscheidbar. Steimle ist mal Kabarettist, mal politischer Meinungsakteur. In seine Auftritte als Erich Honecker, den letzten DDR-Staatschef, mengt er politische Statements, etwa als er 2021 bei einem Auftritt im thüringischen Schmalkalden für Hans-Georg Maaßen als CDU-Bundestagskandidaten warb. Seinen Kredit in der »Querdenker«-Szene verlor er, als er in der »Leipziger Volkszeitung« bekannt gab, er habe sich impfen lassen, obwohl er zuvor in Leipzig bei einer »Querdenker«-Demonstration aufgetreten war.

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Wirkung
Der Aufruf zur Kundgebung in Dresden war auch von »Compact« verbreitet worden. Steimle bindet ein Russland-affines Milieu in Ostdeutschland, das zwar Schnittmengen mit der AfD und ihrem ex­trem rechten Umfeld aufweist, damit jedoch nicht deckungsgleich ist. Steimles antiamerikanische und auf den kulturellen Kosmos der DDR bezogene Positionierungen wirken in Ostdeutschland in jenen kleinbürgerlich-reaktionären Submilieus, die seit 2015 öffentlich beständig politische Repräsentanz in der politischen Arena einklagen und zugleich suggerieren, dass diese ihnen verwehrt werde. Die Forderung geht häufig mit dem Verweis auf das herbeigeführte Ende der DDR und der Überzeugung, wieder ein Systemende herbeiführen zu können, einher. Dies ist auch das Milieu, aus dem »Freie Sachsen« und AfD schöpfen.

Zusammenarbeit mit extrem rechten Akteuren
Steimle verortete sich in der Vergangenheit links, sucht mittlerweile seine Wirkungs- und Resonanzräume aber weit rechts. Im Jahr 2018 gab er der Zeitung »Junge Freiheit« (JF) ein Interview, in dem er unter anderem behauptete, Deutschland sei noch ein »Besatzungsgebiet der USA«. Über die Rezeption des Interviews und seine Aussagen war Steimle im Nachgang »fassungslos« und konkretisierte seine Bezugspunkte in dem Gespräch: »Sahra Wagenknecht, die Linke, die Friedensbewegung und die Friedliche Revolution in Sachsen von 1989.« Dass Steimle zusammen mit dem rechten Bandprojekt »Sacha Korn« 2021 das DDR-Jugendlied »Unsere Heimat« neu einspielte, das von der rechten Kampagnenagentur »Ein Prozent« beworben wurde, zeigt, dass er sich bewusst rechter Strukturen bedient. Damit konfrontiert, argumentiert Steimle, man müsse mit allen reden.
Uwe Steimle profitiert in Ostdeutschland von seiner Bekanntheit, die er nutzt, um rechten Deutungen des Zeitgeschehens jenseits extrem rechter Kernmilieus Gehör zu verschaffen. Seine Wirkung mag auf ein Publikum in Ostdeutschland, vornehmlich in Sachsen, beschränkt sein. Aber eben dort trägt er als Kabarettist und politischer Akteur dazu bei, diese Inhalte zu normalisieren und – noch wichtiger – im vorpolitischen Raum zu kommunizieren. Seine unbelastete Vita und seine Freundschaft zum Betreiber des koscheren Restaurants Shalom in Chemnitz immunisiert ihn geradezu gegen Kritik.
Es ist zu erwarten, dass sich Steimle im Kontext von Mobilisierungen zum Ukraine-Krieg weiterhin zu Wort melden wird und als Multiplikator rechter Inhalte wirkt.

Vermeintlich neutrale Experten

von Charles Paresse
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 202 - Mai | Juni 2023

Zwei Kronzeugen der Friedensbewegung suchen seit Jahren die Nähe zur »Neuen Rechten«: Der Ex-Militär und frühere Merkel-Berater Erich Vad sowie der sozialdemokratische Historiker Peter Brandt. Das ist kein Zufall.

Für den Frieden wollten am 25. Februar 2023 Tausende am Brandenburger Tor in Berlin demonstrieren. Aufgerufen hatten neben der Publizistin Alice Schwarzer, der Politikerin Sahra Wagenknecht und vielen anderen auch der ehemalige Brigadegeneral Erich Vad und der Historiker Peter Brandt. Unter den Demonstrant*innen fanden sich schließlich eine Reihe prominenter Rechter – am bekanntesten wohl der Chef der Zeitschrift »Compact« Jürgen Elsässer, aber auch die neu-rechte Publizistin Ellen Kositza mischte sich unter die Menschen.
Vad und Brandt gelten durch ihre Biografien als vermeintlich neutrale Experten, um die Positionen der Bewegung aus unterschiedlichen Hintergründen zu stützen: Vad als ehemaliger Top-Militär und Ex-Mitarbeiter im Umfeld der früheren Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und Brandt als anerkannter sozialdemokratischer Historiker und Sohn von Bundeskanzler Willy Brandt (SPD), der vor allem mit seinen Bemühungen um Verständigung zwischen Ost und West in Erinnerung geblieben ist. Auffällig bei beiden: Wiederholt kreuzten ihre Wege die »Neue Rechte« – und das nicht zufällig.

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Erich Vad
Mit Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine wurde Erich Vad zum Medien-Liebling. Mit provokanten Thesen, als Militär-Experte und früherer Mitarbeiter der Bundesregierung war er gern gesehener Gast in den Talkshows – selbst dann noch, als schon klar war, dass seine Prognose eines schnellen Siegs Russlands falsch war. Vad machte nach einem Studium an der Universität der Bundeswehr und einer Promotion Karriere in der Armee und in der Politik: Generalstabsausbildung, Chef des Stabs einer Panzerbrigade, Dienste in der NATO und im Verteidigungs- und Außenministerium, verteidigungspolitischer Referent der Bundestagsfraktion von CDU/CSU und schließlich Leiter einer für die Außenpolitik einflussreichen Struktur im Bundeskanzleramt. Auch wenn es zur Frage seines realen Einflusses im Kanzleramt widersprüchliche Aussagen gibt: Seine früheren Funktionen verschafften ihm in der aktuellen Debatte den Anschein von Kompetenz und Seriosität.

Von der Geopolitik zu Carl Schmitt
Vad war Vielschreiber. Bücher über Clausewitz, innere Führung der Bundeswehr oder neue Kriege – seine Themen waren vielfältig. In seinen Texten denkt er über »drängende geopolitische Fragen« nach, unter anderem über die Versorgung Europas mit Rohstoffen und Energie. Seine Überlegungen sind – so weit, so unspektakulär – geprägt vom Interesse an einem vitalen, starken Deutschland und Europa, von klassischem Sicherheitsdenken und militärischen Logiken. Beispielhaft wurde das 2010 in einem Aufsatz über »Neue geopolitische Herausforderungen« deutlich. Vom Frieden, Aussöhnung oder Diplomatie liest man wenig. Warum auch, ist Vad doch als PR-Berater im Lobbyregister des Bundestags registriert und für mindestens zwei Unternehmen tätig, die auch im Rüstungsbereich aktiv sind.

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In seinen Texten verstecken sich jene Schlagworte und Verweise auf andere Autor*innen, die Hinweise auf eine mögliche Nähe zum Denken der radikalen Rechten geben können. Sein positiver Bezug auf Samuel P. Huntingtons Buch »Kampf der Kulturen« ist zwar noch lange kein ausreichender Hinweis, denn dieser wurde sowohl von Liberalen und Konservativen als auch von Rechtsradikalen beklatscht. Und auch Vads Träume vom Einsatz der Streitkräfte »im Inneren«, vom gewünschten Ausbau der europäischen »zivil-militärischen Planungs- und Führungsfähigkeit« oder von europäischer Vorherrschaft können noch bürgerlich-konservativ bestimmt sein: »Wenn wir wollen, dass unsere europäische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung bestimmend in der Welt wird, dann muss die EU auch stärker nach außen auftreten.« Doch wenn Vad von »Großräumen« oder einer »Großraumordnung« schreibt, dann weiß der an Carl Schmitt geschulte Lesende um die Bedeutung der Worte aus dem Schreibbaukasten des »Kronjuristen des Dritten Reiches«. Noch deutlicher wird das in dem 1996 veröffentlichten Buch »Strategie und Sicherheitspolitik – Perspektiven im Werk von Carl Schmitt«. Neben Schmitt stellte Vad dem Buch ein Zitat von Ernst Jünger, einem Wegbereiter des deutschen Faschismus, voran. Ein Wunder, dass bisher in Medien und Friedensbewegung niemand auf die Idee kam, hier einmal nachzuschlagen. In dem gut 250 Seiten starken Buch untersucht Vad auf der Grundlage von Schmitts Denken die »heutigen sicherheitspolitischen und strategischen Fragestellungen und Herausforderungen«. Auch in vielen aktuellen Beiträgen von jenen, die einen schnellen Kompromissfrieden zulasten der Ukraine fordern, findet sich das geopolitische Denken des Vordenkers des Faschismus Schmitt, wie Michael Wendl in einem lesenswerten Artikel im Mai-Heft der Zeitschrift »Sozialismus.de« nachweist. Er kritisiert die »Liebe zu Generälen und Carl Schmitt« und einen nicht analytischen, sondern »moralischen« Antiamerikanismus als zwei Phänomene aktueller Analysen aus der Friedensbewegung. Hier fänden sich in der Rechtfertigung des russischen Vorgehens ideologische Bezüge zur völkerrechtlichen Großraumphilosophie der einschlägigen Vordenker des deutschen Faschismus, nach der Großmächte auch ein über ihr eigenes Territorium hinausgehendes Recht auf Einflussnahme hätten und den Einfluss »raumfremder« Mächte dort zurückschlagen dürften. Wendl resümiert: »Vielen Linken ist nicht klar, dass sie einen Anhänger faschistischer Raumordnung zu ihrem Zeugen machen.« Für den ehemaligen General Vad hat Schmitts Denken trotz seiner Rolle vor und während des NS »Aktualität und Bedeutsamkeit« sowie »Brillanz« und »analytische Schärfe«. Seine Vorarbeiten zum NS seien vor allem »Verirrungen« und ein »naiv anmutender Versuch der Kollaboration mit dem Dritten Reich«. Frieden sei, so schreibt Vad in seinem Buch, »nicht ewig und universal, sondern stets konkret und raumgebunden«. Schmitts »Großraumkonzept« wird handlungsleitend: Humanitäre Interventionen zum Beispiel im Bereich der »Großraumordnung« seien schlimmer zu bewerten als die Menschenrechtsverletzungen an sich. Was zu Ende gedacht heißt: Die mächtigen Staaten können in dem durch sie selbst definierten Einflussbereich tun und lassen, was sie mögen. Die Durchsetzung ihrer jeweiligen Interessen, Sicherheitsinteressen und deren Austarierung seien die einzigen legitimen Motive außenpolitischen Handelns. Das ist nicht Vads Analyse der Weltlage, sondern das sind Vads politische Empfehlungen auf der Grundlage des Denkens eines faschistischen Theoretikers.


Vads außenpolitisches Denken lässt die Herzen der »Neuen Rechten« höherschlagen. Auf der »3. Winterakademie« im Februar 2002 des »Instituts für Staatspolitik« (IfS) referierte Vad – damals gerade verteidigungspolitischer Referent der CDU/CSU-Bundestagsfraktion – zur »Friedenssicherung und Geopolitik im Denken von Carl Schmitt«. Sein Beitrag wurde anschließend in der ersten Ausgabe der Zeitschrift »Sezession« des IfS abgedruckt. In seinem Fazit wird die Gemeinsamkeit klar: Schmitts Denken, das »vom Ausnahmezustand und der ständigen Möglichkeit inner- und zwischenstaatlicher Anarchie und Gewalt ausging« und deren notfalls autoritäre Beherrschbarkeit fordert, »steht im Gegensatz zur idealistischen Utopie einer weltweiten Entfaltung der Menschenrechte, eines friedlichen Ausgleichs der Kulturen und Zivilisationen sowie freizügiger, offener und multikultureller Gesellschaften«. Dieser »Gefahr« könne man »nicht durch moralische Appelle begegnen (..), sondern nur durch Gefahrensinn, politischen und militärischen Realismus und durch rationale Antworten auf die konkreten Herausforderungen der Lage«. Schöner könnte auch das »Institut für Staatspolitik« die rechten, autoritären Träume nicht zusammenfassen. Und so war auch die Wochenzeitung »Junge Freiheit«(JF) begeistert: »Vad nahm die Gelegenheit wahr, bei seiner Reflexion über ›Friedenssicherung und Geopolitik im Denken Carl Schmitts‹ diesen dem überwiegend jungen Publikum als anhaltend brisante Problemperspektive vorzustellen, als ›Seismograph der politischen Wirklichkeit‹. Die sei in den letzten Jahrzehnten in der BRD aus der Perspektive eines außenpolitisch coupierten Pseudoidealismus wahrgenommen worden, der sich der Nischenexistenz der Nachkriegszeit verdankte, das heißt der bundesdeutschen Generallinie aus »einzigartiger Schuld« und allgemeinem Wohlstand. Dagegen stelle Schmitts Realismus die richtigen Fragen und eröffne einen substanziellen Zugang zur internationalen Politik, auch heute noch. Begeistern kann Vad die JF bis heute. Über einen Fernsehauftritt im April 2022 titelte sie: »Brigadegeneral knöpft sich Grünen-Politiker vor.«

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Peter Brandt
Politisch kommt Peter Brandt von links. Der Historiker hat anerkannte Studien zur Geschichte der Arbeiter*innenbewegung, der Verfassungsgeschichte und des Trotzkismus geschrieben und lehrte als Professor an der Fernuniversität Hagen. Bis heute referiert und publiziert der Sozialdemokrat überwiegend in linken Kontexten und tritt als Hüter des politischen Erbes seines Vaters, des Ex-Kanzlers Willy Brandt, auf. Nun aber erschien in der aktuellen Ausgabe (März / April 2023) der neu-rechten Zeitschrift »Cato« ein langes, wohlwollendes Interview mit ihm unter dem Titel »Sind Sie ein Patriot, Herr Brandt?«. »Cato« ist Ergebnis einer Spaltung der »Neuen Rechten« über den richtigen strategischen Weg. Ihr Vordenker und frühere Kopf der JF und des IfS, Karlheinz Weißmann, ist als »ständiger Mitarbeiter« ideologischer und strategischer Referenzpunkt des Magazins »Cato«. Das Blatt ist unübersehbar Teil der radikalen Rechten.

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Dass Brandt im Kontext der »Neuen Rechten« auftaucht, ist nicht neu. Ausgangspunkt für die Überschneidungen ist sein Blick auf die Nation. Seit den 1980er Jahren bemüht er sich mit Buchpublikationen, »die nationale Frage« von links zu besetzen – ein Versuch, der theoretisch falsch und in Deutschland immer zum Scheitern verurteilt war. Der Versuch, Nation von links positiv zu debattieren, führte ihn zeitweise ins neu-rechte Milieu. So verfasste er 2004 in der JF einen Nachruf auf den rechten Publizisten Wolfgang Venohr, war in einem von dem Chefredakteur des Blattes, Dieter Stein 2005 herausgegebenen Sammelband »Ein Leben für Deutschland. Gedenkschrift für Wolfgang Venohr« mit einem Beitrag präsent, referierte bei einer Berliner Burschenschaft und schrieb auch in »Wir selbst – Zeitschrift für nationale Identität«. 2010 sagte er dann in einem Interview mit der JF, seine Partei – die SPD – müsse ein »positives Verhältnis zu Volk und Nation« entwickeln. Zuletzt schien Brandts Ausflug ins neu-rechte Milieu nur mehr eine vergangene Episode zu sein. Doch mit dem aktuellen »Cato«-Interview kehrt er zurück: Zwar geht er auf Distanz zur explizit rechten Deutung von Nation, Staat und Volk und übernimmt nicht vollständig die angebotene rechte Deutung des Kriegs gegen die Ukraine. Doch Brandt spricht sich für »nationale Gemeinschaften« und »deutsche Traditionen« aus und wehrt sich dagegen, beim Begriff des »Volks« nur an eine völkische Interpretation zu denken. Die Idee von Nation und Volk scheint hier als quasi leeres Begriffsgefäß, das politisch beliebig gefüllt werden könnte. Brandt verknüpft die Begriffe aber nur schwammig mit progressiven Inhalten. Sein Appell für die Nation in einem Magazin der radikalen Rechten, das ist nicht mehr nur leichtfertig, sondern vielmehr als Versuch zu werten, eine Brücke von links nach rechts zu schlagen.

… kein Anrecht auf Sendezeiten im Rundfunk

von Georg Restle
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 200 - Januar | Februar 2023

Es wirkte wie reine Routine, als der Landtag von Baden-Württemberg am 23. Juli 2020 seine Vertreter:innen in den Rundfunkrat des SWR entsandte – darunter, wie selbstverständlich, auch ein Abgeordneter der AfD. Allein über den Frauenanteil wurde noch diskutiert, nicht aber darüber, ob ein Abgeordneter einer im Kern rechtsextremen Partei, deren Funktionär:innen sich für die Abschaffung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks einsetzen, einen Sitz im Rundfunkrat beanspruchen darf. Was in vielen Aufsichtsgremien landesweit mittlerweile üblich ist, wirft ganz grundsätzliche Fragen auf: Wie viel Extremismus darf’s denn sein im öffentlich-rechtlichen Rundfunk? Oder muss das sogar sein: ein Vertretungsrecht für Rechtsextremisten der AfD, weil es die Verfassung und die Rundfunkordnung so verlangen? Müssen ARD und ZDF die Partei bei Wahlsendungen dennoch gleichberechtigt berücksichtigen? Begründet der Grundsatz der Vielfaltsicherung ein Vertretungsrecht in Aufsichtsgremien oder ein Recht auf repräsentative Teilnahme an Talkshows oder anderen Formaten? Muss die AfD im Gesamtprogramm »angemessen zu Wort kommen«, weil sie im Bundestag und in vielen Landtagen die zahlenmäßig größte Oppositionspartei ist? Oder gibt es Grenzen der Ausgewogenheit? Gilt der Grundsatz der wehrhaften oder streitbaren Demokratie auch für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk? Und wie verhält es sich mit der Programmautonomie der Rundfunkanstalten?

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Für Redaktionen und Programmverantwortliche im öffentlich-rechtlichen Rundfunk stellt sich diese Frage immer wieder aufs Neue: Gibt es eine Pflicht zum Proporz für die in den Parlamenten vertretenen Parteien, die sich aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, dem Medienstaatsvertrag oder den Landesrundfunkgesetzen zwingend ergibt? Und gilt diese Pflicht auch für rechtsextreme Parteien und deren Vertreter:innen? In Politik und Medien wurde darüber in den letzten Jahren kontrovers diskutiert. Was daran erstaunt: Der rechtliche Rahmen spielte dabei oft eine untergeordnete Rolle. Die Debatte erschöpfte sich meist in Verweisen auf die Pflicht zur Meinungsvielfalt und einen angeblichen Gleichbehandlungsgrundsatz, der allen Parteien – auch der AfD – einen Anspruch zubillige, in den Gremien vertreten zu sein und im Programm angemessen zu Wort zu kommen. Eine Argumentation, die dem Wesen der Rundfunkfreiheit, ihren historischen Wurzeln und ihrer Funktion im Gesamtgefüge der verfassungsrechtlichen Werteordnung wohl kaum gerecht werden dürfte.

Extremist:innen als Sachwalter des Allgemeininteresses?
Schaut man auf das jüngste Rundfunkurteil des Bundesverfassungsgerichts von 2014, scheint die Antwort auf den ersten Blick klar. In Fortschreibung seiner Rechtsprechung zur Vielfaltsicherung im öffentlich-rechtlichen Rundfunk garantiert Karlsruhe einen weiten Rahmen für alle relevanten gesellschaftlichen Gruppierungen in Aufsichtsgremien und im Gesamtprogramm.
Wörtlich heißt es: »Die Aufsichtsgremien sind vielmehr Sachwalter des Interesses der Allgemeinheit. Sie sollen die für die Programmgestaltung maßgeblichen Personen und Gremien darauf kontrollieren, dass alle bedeutsamen politischen, weltanschaulichen und gesellschaftlichen Kräfte, deren Vielfalt durch ein gruppenplural zusammengesetztes Gremium auch bei ausgewogener Besetzung nie vollständig oder repräsentativ abgebildet werden kann, im Gesamtprogramm angemessen zu Wort kommen können.«

Keine rechtsgrenzenlose Vielfalt
Die Frage lautet: Wo setzt das Bundesverfassungsgericht die Grenzen der Vielfalt? Bei präziser Betrachtung fallen zwei Einschränkungen ins Auge. Zunächst stellt das Urteil klar, dass eine vollständige oder repräsentative Abbildung aller relevanten »Kräfte« in den Aufsichtsgremien nicht verpflichtend sein kann.
Damit überlässt es dem Gesetzgeber einen weiten Gestaltungsspielraum, ob und in welchem Ausmaß alle in den Parlamenten vertretenen Parteien ein Vertretungsrecht in den Gremien beanspruchen können und ob deren Vertreter:innen als »Sachwalter des Interesses der Allgemeinheit« anzusehen sind. Auch wenn sich diese Einschränkung nicht direkt aufs Programm bezieht, so dürfte sie doch im Grundsatz auch hier gelten. Dies erschließt sich schon aus der zweiten Einschränkung, wonach nur »bedeutsame« Kräfte im Gesamtprogramm angemessen zu Wort kommen können. Dass es sich hier um keine rein quantitative Betrachtung handeln dürfte, ergibt sich dabei wohl schon aus dem Wesen der Rundfunkfreiheit und seiner historischen Begründung, wonach der öffentlich-rechtliche Rundfunk als unabhängiges Bollwerk gegen alle Versuchungen etabliert wurde, in den staatlichen Totalitarismus der NS-Zeit zurückzugleiten. Auf diese Erfahrung stützen sich bis heute die wichtigsten Pfeiler der vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Rundfunkordnung: die Staatsferne des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, seine Unabhängigkeit und Orientierung an den zentralen Grundwerten der Verfassung.

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Rechtsextreme Gruppierungen oder Parteien, die einen homogenen völkischen Nationalismus vertreten und wesentlichen Grundrechten wie der Meinungs- und Rundfunkfreiheit, dem Diskriminierungsverbot oder der Religionsfreiheit offen feindlich gegenüberstehen, dürften demgemäß kaum als Sachwalter des Allgemeininteresses oder »bedeutsam« im Sinne einer Meinungsvielfalt anzusehen sein, die von ihnen selbst bekämpft wird. Immerhin handelt es sich bei der AfD um eine Partei, die sich die Abschaffung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks immer wieder auf die Fahnen geschrieben hat, deren Jugendverband und deren Landesverbände in Ostdeutschland als rechtsextremistische Verdachtsfälle gelten und deren vom Verfassungsschutz beobachteter »Flügel« faktisch nach wie vor einen maßgeblichen Einfluss auf die Gesamtpartei hat. Dies alles macht deutlich, dass die AfD hier vor allem ein Ziel im Auge hat: Ihren Einfluss in den Gremien und im Programm zu missbrauchen, um unter anderem auch die auf der Rundfunkfreiheit fußende Rundfunkordnung außer Kraft zu setzen, und mit dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk einen mächtigen Schutzwall dieser Demokratie aus dem Weg zu räumen. Kaum jemand hat das klarer formuliert als der »neurechte« Vordenker der AfD, Götz Kubitschek, der einer »staatsfinanzierten Umerzählung des normalen Lebens«, einer »großen Beutegemeinschaft aus Parteien, ›Zivilgesellschaft‹, allem Öffentlich-Rechtlichen« den Kampf angesagt hat. Maßgebliche Funktionäre der AfD wie der stellvertretende Bundessprecher Stephan Brandner lassen keinen Zweifel daran, was das bedeutet. Demnach ist es das erklärte Ziel der AfD, »kontinuierlich« daran zu arbeiten, »das zwangsfinanzierte Staatsfernsehen abzuschaffen«.

Keine rein arithmetische Betrachtungsweise
Allein die formale Begründung, dass die AfD im Bundestag und einigen Landtagen die zahlenmäßig größte Oppositionsfraktion stellt, dürfte keinesfalls ausreichen, um daraus einen verfassungsrechtlich begründeten Rechtsanspruch abzuleiten, regelmäßig im Programm zu Wort zu kommen oder nach Proporzregeln in Gremien oder Talkshows vertreten zu sein – es sei denn, man möchte den Feinden dieser freiheitlich verfassten Demokratie ein Werkzeug zu deren Vernichtung überreichen. Man mag es auch als Ausdruck des vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Grundgedankens einer wehrhaften oder streitbaren Demokratie ansehen, die den Feinden der Freiheit nicht alle Freiheiten gleichermaßen zugesteht. Und selbst wenn man einer solch robusten Idee von Demokratie aus rechtsstaatlichen Erwägungen skeptisch gegenübersteht, so wäre es in diesem Fall doch ein geradezu verhältnismäßiger Eingriff, der einer weitgehend verfassungsfeindlichen Partei diesseits eines Parteienverbots auf so geeignete wie erforderliche Weise ihre Grenzen aufzeigt.

In diesem Sinne definiert Verfassungsfeindlichkeit die Grenze der Ausgewogenheit und der Vielfaltsicherung. So jedenfalls sind wohl auch die Regelungen einzelner Rundfunkgesetze zu verstehen, die die Bedeutung der grundgesetzlichen Werteordnung ins Zentrum ihres Selbstverständnisses rücken – und damit den im Medienstaatsvertrag festgelegten Programmgrundsätzen Ausdruck geben, wonach der öffentlich-rechtliche Rundfunk »die Würde des Menschen sowie die sittlichen, religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen anderer zu achten« und »auf ein diskriminierungsfreies Miteinander« hinzuwirken habe.
So wird in Paragraph 5 des WDR-Gesetzes der Vielfaltsicherung zwar eine ebenso große Bedeutung zugemessen wie in den Rundfunkurteilen des Bundesverfassungsgerichts, gleichzeitig werden ihr aber auch hier klare Grenzen gesetzt. Demnach gehört es zu den Programmgrundsätzen des WDR, die »demokratischen Freiheiten« zu »verteidigen«. Was hier geradezu als demokratischer Kampfauftrag formuliert wird, kann nur schwerlich mit einem Anspruch auf proportionale Präsenz für die Feinde ebendieser demokratischen Freiheiten in Einklang gebracht werden.

Ähnliche Formulierungen finden sich im Bayerischen Rundfunkgesetz, wonach die »in der Verfassung festgelegten Grundrechte und Grundpflichten« als »Leitlinien der Programmgestaltung« gelten und »Sendungen verboten« sind, »die Vorurteile gegen Einzelne oder Gruppen wegen ihrer Rasse, ihres Volkstums, ihrer Religion oder Weltanschauung verursachen oder zu deren Herabsetzung Anlass geben können«. Auch diese Grundsätze dürften mit dem offenen Rassismus, der Islamfeindlichkeit oder der antidemokratischen Grundgesinnung weiter Teile der AfD kaum vereinbar sein. Und selbst wenn einzelne Vertreter:innen der Partei öffentlich als »bürgerlich« oder »konservativ« auftreten mögen, so dürfte doch die Gesamtbetrachtung der Partei mit ihren zahlreichen rechtsextremistischen Gliederungen schwerer ins Gewicht fallen als die offensichtlich wohlkalkulierte Strategie einer so bezeichneten »Selbstverharmlosung«, die die verfassungsfeindlichen Ziele der AfD nur zu kaschieren versucht.

Programmautonomie der Sender
Wo ein Rechtsanspruch auf Programmpräsenz aus dem Grundsatz der Vielfaltsicherung für die AfD also nicht begründet werden kann, bleibt es der Programmautonomie der Sender und der Redaktionen überlassen, wie sie mit den Vertreter:innen der AfD im Programm umgehen wollen. Diesen Grundsatz hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung aus dem Jahr 2007 zuletzt deutlich hervorgehoben. Demnach steht »die Entscheidung über die zur Erfüllung des Funktionsauftrags als nötig angesehenen Inhalte und Formen des Programms (…) den Rundfunkanstalten zu«.

Die inhaltlichen Grenzen dieser Programmautonomie sind in den bereits zitierten Programmgrundsätzen festgelegt. Die darin beschriebene Verfassungsorientierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks setzt auch hier die Grenze der Ausgewogenheit dort, wo Funktionär:innen von Parteien das Wort überlassen wird, die die demokratischen Freiheiten attackieren oder rassistische Vorurteile verbreiten.

So klar der Medienstaatsvertrag und die Rundfunkgesetze die Grenzen formulieren, so verunsichert scheinen viele Programmverantwortliche mit der AfD umzugehen. Dabei geht es nicht darum, die Partei totzuschweigen oder sich nicht mit ihr auseinanderzusetzen. Einem kritischen Umgang mit der AfD steht nichts im Wege – im Gegenteil: Er ist angesichts der offenkundigen Gefahr, die diese Partei für das demokratische Gemeinwesen darstellt, sogar dringend geboten. Allen Versuchen von Vertreter:innen der Partei, deren völkisch-nationalistische und damit zutiefst rassistische Ideologie in die Mitte der Gesellschaft zu tragen, darf sich der öffentlich-rechtliche Rundfunk jedoch nicht zur Verfügung stellen. Dafür hat er gute verfassungsrechtliche Argumente – und hoffentlich auch das nötige journalistische Selbstbewusstsein, um den Feinden von Freiheit und Demokratie entschlossen entgegenzutreten.

Der hier leicht gekürzt abgedruckte Artikel erschien zuerst in: Recht gegen Rechts. Report 2022. Frankfurt am Main 2022, S. Fischer Verlag.

Skandalprozess zum Hitlerputsch

von Manfred Weißbecker
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 204 September | Oktober 2023

Der 1924 in München geführte Prozess gegen die Anführer des Hitler-Ludendorff-Putsches von 1923 war ein folgenreicher Justizskandal. Zum I Teil: Putsch aus »vaterländischem Geist«

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Adolf Hitler mit den Mitangeklagten am 26. März 1924 vor Beginn der Verhandlung mit den Verteidigern von links nach rechts in Uniform: Dr. Friedrich Weber, Oberstleutnant Hermann Kriebel, General Erich Ludendorff, Adolf Hitler, Walter Luetgebrune, SA-Führer Ernst Röhm, SA-Führer Wilhelm Brückner, Heinz Pernet, Dr. Wilhelm Frick (in zivil), Ernst Pöhner und der spätere Gauleiter Adolf Wagner. @ Bundesarchiv

Niemand wollte es in München am Ende gewesen sein. Alle aus Bayerns politischer und militärischer Führung, die intensiv und fast bis zum letzten Moment den Putsch vom 8. und 9. November 1923 gegen die Weimarer Republik vorbereitet hatten, begannen nach dessen Scheitern, die Verantwortung von sich abzuweisen. Schon damals hieß es, wie später in der Bundesrepublik: Der Hitler war’s! Aber sie irrten sich, denn es ließ sich kein Deckel auf die Ereignisse legen. Zu groß war der Schaden, den sie angerichtet hatten, zu groß das Interesse demokratischer Kräfte an Aufklärung. Viele wollten wissen, wie tief das »Triumvirat« aus dem Generalstaatskommissar Gustav von Kahr, dem Chef der Reichswehr in Bayern Otto Hermann und dem Polizeichef Hans Ritter von Seißer in die Vorbereitung des Putsches verstrickt gewesen war. Natürlich kam auch keiner um die Frage herum, ob die Umsturzpläne aufgegeben oder in veränderter Weise fortgeführt werden sollten. Denn vom Ziel der Beseitigung der »Weimarer Verhältnisse« wollte keiner Abstand nehmen. Es ging nun darum, den Schaden zu begrenzen und nach einem neuen Miteinander aller Republikfeinde zu suchen. Zu ersetzen galt es die bisherige Losung »Auf nach Berlin« durch »im Bunde mit Berlin«. Man orientierte sich nun an den Plänen des Reichswehrchefs Hans von Seeckt zur Schaffung eines über Parlament und Regierung stehenden »Direktoriums«.

Schützenhilfe der Justiz
Der am 26. Februar 1924 eröffnete Prozess gegen Adolf Hitler und weitere neun Angeklagte – darunter Erich Ludendorff, Wilhelm Frick, Hermann Kriebel, Ernst Röhm und Ernst Pöhner – fand nicht vor dem Staatsgerichtshof zum Schutz der Republik beim Reichsgericht in Leipzig statt, wo er hingehört hätte, sondern vor dem Volksgericht für den Landgerichtsbezirk München I. Die bayerische Regierung hatte sich erfolgreich dem zögerlichen Handeln des Reichs widersetzt, unter anderem mit dem Argument, der Leipziger Gerichtshof sei ja »zum Teil mit Sozialdemokraten besetzt«. Dort wäre es ihr kaum so leicht gefallen, die eigenen Pläne vor der Öffentlichkeit zu verbergen. Zweifellos schien es günstiger, alle Verantwortung auf die National­sozialisten zu schieben, diese aber als achtbare, weil national gesinnte Leute zu behandeln und sie mit geringen Strafen davonkommen zu lassen.
Wer erwartet haben sollte, die Hochverräter würden gemäß Artikel 13 des Reichsgesetzes zum Schutz der Republik bestraft, sah sich eines Besseren belehrt, als am 1. April 1924 das Urteil verkündet wurde: Ludendorff wurde freigesprochen, Hitler und die anderen Angeklagten mit lächerlich geringen Haftstrafen bedacht, die sie »ehrenhaft« unter günstigen Bedingungen auf einer Festung absitzen sollten. Der Prozess verlief in einer republikfeindlichen Atmosphäre und entsprechend den Vorstellungen der bayerischen »Ordnungszellen«-Politiker. Den Angeklagten wurde zwar ein hochverräterisches Unternehmen vorgeworfen, doch über die Ursachen des Putsches und seine konservativ-nationalistischen Hintergründe fiel kaum ein Wort. Bewusst sollte das Mitwirken von Kahr, Lossow und Seißer aus den Verhandlungen herausgehalten werden. Lediglich in jenen Sitzungen, von denen die Öffentlichkeit ausgeschlossen war, kam zur Sprache, welche Vereinbarungen vor dem 8. und 9. November 1923 zwischen den Regierenden, Reichswehr, Polizei und »Kampfbund« getroffen worden waren. Selbst die Anklageschrift vermied alle Aussagen, die Aufschluss über die umfassende und langfristige Vorbereitung des Putsches hätte geben können. Im Prozess verband Staatsanwalt Ludwig Stenglein die Anklage mit einer regelrechten Laudatio auf den Putschistenführer und mit beschönigenden Aussagen zu den Vorgängen im Münchner Bürgerbräukeller.

Propaganda im Gericht
Die Angeklagten erhielten reichlich das Wort zu ihrer Rechtfertigung. Ein Journalist beschrieb die Atmosphäre des Verfahrens, dessen Verlauf und Abschluss so gänzlich anders aussahen als das gegen die Revolutionäre vom Mai 1919, mit Worten, die Erstaunen und Entsetzen spüren lassen: »Ein Gerichtshof, der den ‹Herren Angeklagten› immer wieder Gelegenheit gibt, stundenlange Propagandareden ‹zum Fenster hinaus› zu halten; ein Beisitzer, der nach Hitlers erster Rede (ich hab’s mit eigenen Ohren gehört!) erklärt: ‹Doch ein kolossaler Kerl, dieser Hitler!›; ein Vorsitzender, der duldet, dass von der höchsten Spitze des Reiches als von ‹Seiner Hoheit, Herrn Fritz Ebert› gesprochen wird (Hitler) und dass man die Reichsregierung eine ‹Verbrecherbande› nennt (Kriebel); ein Generalstaatsanwalt, der in einer Sitzungspause einem der Angeklagten vertraulich auf die Schulter schlägt: ‹Na, mein lieber Pöhner› … – gehört all das nicht in den makabren Münchener Bilderbogen vom großen politischen Karneval, der mit einem fürchterlichen Erwachen am Aschermittwoch endet?!«
Das Urteil vom 1. April 1924 erschien vielen Zeitgenoss*innen als unglaubwürdig und verfassungswidrig. Kritiker*innen verwiesen darauf, dass das Gericht in den Jahren zuvor 20 Todesurteile gefällt hatte – gegen Linke. In Bestrafung einerseits und Milde des Urteils andererseits spiegelte sich die machtpolitische Konsequenz der angeblich unpolitischen Justiz: Die Richter kamen nicht umhin, deutlich zu machen, dass der Putsch zur falschen Zeit, mit falschen Mitteln und mit falschen Verbündeten versucht worden war. »Straferschwerend«, so hieß es in der Urteilsbegründung, sei die Tatsache, dass durch das Unternehmen »die Gefahr eines Bürgerkriegs heraufbeschworen, schwere Störungen des wirtschaftlichen Lebens des gesamten Volkes und vermutlich auch außenpolitische Verwicklungen« herbeigeführt worden wären.

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Die Sprache der Urteile war eindeutig: Distanzierung von der erfolglosen Tat, nicht jedoch von den Tätern und erst recht nicht von deren Gesinnung und Zielen. Die »Hochverräter« sollten offensichtlich nicht völlig verprellt werden. Alles unterblieb, was der NSDAP entscheidend hätte schaden können, so auch die formalrechtlich erforderliche Ausweisung des aus Österreich stammenden und als staatenlos geltenden Hitlers, der an der Spitze des Putsches gestanden hatte. So unterschiedlich die Faschistenpartei, ihr Putsch und ihre Führer bewertet wurden – es bestand eine Art stillschweigende Übereinkunft: Die NSDAP hatte mit ihren gescheiterten Plänen einer zu errichtenden Diktatur und beschleunigter Kriegsvorbereitungen in den Hintergrund zu treten. Jedoch sollte sie keinem Verbot, keiner Auflösung und strikter Bekämpfung unterliegen. Jeder erfolgreiche Schlag gegen rechts wäre den ungeliebten demokratisch-republikanischen Kräften zugutegekommen. Daher ging das Interesse an den bestehenden rechtsradikalen Organisationen nicht verloren. Wer unter den Bedingungen der zeitweiligen und brüchigen Hochkonjunktur die politische Entwicklung nach rechts treiben wollte, dem schien jedes Mittel recht zu sein, auch jede antiparlamentarisch-terroristische Partei.
All dies personifizierte sich in Georg Neidhardt, der den Vorsitz im Gerichtshof einnahm und eine absonderliche Rolle spielte. Dass ihm Unfähigkeit vorzuwerfen war, erscheint als das Geringste unter den negativen Urteilen seiner Zeitgenoss*innen. Er war keineswegs zufällig damit betraut worden, diesen Prozess zu leiten, hatte er doch schon im Prozess um den Mord an Kurt Eisner den angeklagten Anton Graf Arco-Valley als »ehrenwert« bezeichnet. Der rechten Szene eng verbunden erwies er sich als regelrecht hörig gegenüber den Putschisten, wie der Historiker Otto Gritschneder in seiner Aufzählung aller Neidhardt anzulastenden Rechtsbeugungen und Rechtswidrigkeiten urteilt. Sorgfältig bemühte er sich, Kahr und seinesgleichen aus dem Prozess herauszuhalten, da es sonst eine »unerquickliche und das Staatsansehen schädigende Szene« hätte geben können. Den langen Tiraden Hitlers hörte er offensichtlich gern zu. Kein Wunder, dass er 1933 zum Präsidenten des Münchner Oberlandesgerichtes befördert wurde.

Demokratiefeinde im Aufwind
Wie günstig sich Prozess und Urteil für die Rechtsradikalen auswirkten, zeigte sich am 6. April 1924, als in Bayern ein neuer Landtag gewählt wurde. Ihr »Völkischer Block« nahm nach der Bayerischen Volkspartei und der SPD den dritten Rang ein und erhielt mehr als eine halbe Million Stimmen (17,1%) und 23 der 129 Sitze. In München erhielt er sogar von allen Parteien die meisten Stimmen. Das galt auch in anderen Teilen Deutschlands: Bei den Wahlen in Mecklenburg-Schwerin gewannen die »Völkischen« 13 und in Lübeck sechs Mandate. In Thüringen errangen sie mit einer »Liste der Vereinigten Völkischen« sieben Mandate, was sie Zünglein an der Waage werden ließ, als sich die bürgerlichen Parteien und die linken Parteien in nahezu gleicher Stärke gegenüberstanden. Hier schreckte der »Thüringer Ordnungsbund« nicht davor zurück, die völkisch-rassistischen Kräfte in seine Machtambitionen zu integrieren.

Als sich ein Untersuchungsausschuss des Bayerischen Landtags mit den Ereignissen befasste und 1928 einen Bericht vorlegte, war zu beobachten, dass alles, was die Herrschenden in Bayern hätte belasten können, beschönigt wurde. Der Bericht fiel äußerst knapp aus und enthielt nicht einmal die kritischen Positionen des Sozialdemokraten Wilhelm Hoegner. Daraufhin veröffentlichte die SPD Teile von Hoegners Material unter dem Titel »Hitler und Kahr. Die bayerischen Napoleonsgrößen von 1923. Ein im Untersuchungsausschuss des Bayerischen Landtags aufgedeckter Justizskandal«. Das Buch wertete auch jene Gerichtsakten zum Hitlerputsch aus, die damals noch vorhanden waren und nach 1933 vernichtet wurden. Sie belegten jenes antidemokratische und die NSDAP fördernde Verhalten, das nur als Kollaboration von Repräsentanten Bayerns mit der NSDAP bezeichnet werden kann. Es bot die Grundlage für eine Prozessfarce, die neben vielen anderen Verfahren zu den schlimmsten und folgenreichsten Erscheinungen deutscher Justiz gehört.

Putsch aus »vaterländischem Geist«

von Manfred Weißbecker
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 203 Juli | August 203

Vor 100 Jahren putschten in München Nazis, Militärs und Reaktionäre.

Der Hitler-Ludendorff-Putsch vom 8. und 9. November 1923 sei aus »rein vaterländischem Geist und von edelstem selbstlosen Willen geleitet«, hieß es im Urteil des Volksgerichtshofes München im April 1924 zur Begründung der geringen und rechtswidrigen Strafen gegen Akteure des Putsches. Die Ablehnung der parlamentarischen Demokratie und Weimarer Republik hatte ganz offenbar die Feder der Richter geführt.

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Den Boden für den geplanten »Marsch auf Berlin« hatten jene Kräfte bereitet, die in den frühen Jahren der Weimarer Republik den bayerischen Freistaat zu einer »Ordnungszelle« für Deutschland machten und zu einer Hochburg monarchistisch-partikularistischer und rechtsradikal-terroristischer Kräfte werden ließen. Ermöglicht wurde durch sie das Entstehen einer Brutstätte völkisch-faschistischer Organisationen und nicht zuletzt das Erstarken der »Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei« (NSDAP). Obwohl in deren Veranstaltungen nationalistische Stimmungen geschürt und rassistisch-antisemitische Hetze betrieben wurden, obwohl sie gewalttätig auftrat und regelmäßig Krawalle organisierte, schritten die Behörden kaum ein. Die Landesregierung – zeitweilig geleitet vom rechtskonservativen Monarchisten und im September 1923 zum Generalstaatskommissar mit diktatorischen Befugnissen erhobenen Gustav Ritter von Kahr – sowie die Befehlshaber von bayerischer Reichswehr und Polizei schätzten das wachsende Potenzial dieser Partei als Unterstützung der eigenen Politik gegenüber der Sozialdemokratie, den Kommunist*innen und Gewerkschaften als nützlich für unablässig geführte, zum Teil auch separatistische Attacken gegen die Reichsregierung ein. Die politischen Verhältnisse im Norden Deutschlands wurden von ihnen als »bereits halb bolschewistisch« und die Berliner Regierung als eine »verschleierte Sowjetregierung« bezeichnet. Kahr empfing sogar eine Delegation der NSDAP mit der Begründung, alle »nationalen Kräfte« müssten gemeinsam gegen die Reichsregierung vorgehen.

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Probelauf zum Bürgerkrieg
So ermuntert und gefördert blickte die Nazipartei rasch über München und über die bayerischen Landesgrenzen hinaus. Sie trachtete danach, rechtsradikale Organisationen unter ihrer Regie zusammenzuschließen, und entwickelte sich zu einer diktatorisch geleiteten Partei, in der über Gewalt und Terror als Mittel der Politik keinesfalls nur theoretisiert wurde. Fast bei jeder sich bietenden Gelegenheit probte ihre im August 1921 entstandene und 1923 unter dem Befehl von Hermann Göring stehende »Sturm-Abteilung« (SA) den Bürgerkrieg. Mit Gummiknüppeln, Totschlägern, Reitpeitschen und Pistolen ging sie, aufgeputscht durch antisozialistische und antisemitische Parolen, äußerst brutal vor. Für ihre Umsturzpläne nutzte die NSDAP die anhaltenden Spannungen zwischen Bayern und dem Reich. Für den Freistaat schien alles recht und nützlich zu sein, was sich für den Kampf gegen Republik und parlamentarisch-demokratische Verhältnisse mobilisieren ließ. Die Landesregierung begrüßte daher selbst provokatorische Zwischenfälle, als Reichspräsident Friedrich Ebert (SPD) München besuchte. Sie hielt die NSDAP für notwendig, weil sie ein »ausgleichendes Moment gegenüber den Anmaßungen der freien Gewerkschaften« darstelle, wie es in einem Bericht der Münchener Polizei hieß. Eine Überwachung der Partei erfolge nur, um ein »Überschäumen des jugendlichen Kraftgefühls rechtzeitig verhindern zu können.«

Vorbild Mussolini
Pläne und Einsatzbefehle – durchaus orientiert am Beispiel des erfolgreichen Marsches des italienischen Faschisten Benito Mussolini 1922 auf Rom – nahmen bald konkrete Gestalt an. Die SA gebärdete sich zunehmend als ein Wehrverband und veranstaltete in Bayern eine militärische Übung nach der anderen. Wie immer, wenn sich rechtsradikale Verbände formierten und zum Losschlagen bereithielten, wurde das Gerücht ausgestreut, es stehe ein »Linksputsch« bevor. Bereits am 1. Mai warteten in München 1.300 SA-Leute und etwa 4.000 Mitglieder der »Vaterländischen Verbände« – also unter anderem des »Bundes Oberland«, der »Reichsflagge« und des »Blücher-Bundes« – auf das Zeichen zum Losschlagen. Hauptmann Ernst Röhm, damals noch Leiter des »Waffenreferats« in der bayerischen Reichswehrführung, hatte dafür gesorgt, dass zu den vorhandenen Gewehren, Handgranaten und Pistolen zusätzlich Maschinengewehre und ein Geschütz zur Verfügung standen.

Gemeinsame Ziele
Zwar blieb im Mai der Befehl zum Putsch aus, doch nach den Gesetzen der Weimarer Republik und des Freistaates Bayern hätte Hitler längst wegen staatsgefährdender Betätigung zu einer zweijährigen Gefängnisstrafe verurteilt werden müssen. Doch das rechte Auge der Justiz erwies sich in Bayern mehr als nur blind. Selbst die Verabschiedung Röhms aus der Truppe, von der Berliner Reichswehrführung verfügt, scheiterte am Einspruch des bayerischen Landeskommandanten Otto Hermann von Lossow. Und dieser verhinderte auch ein von Berlin gefordertes Verbot der Nazi-Zeitung »Völkischer Beobachter«. Gegen die NSDAP gerichtete Untersuchungen eines Münchner Staatsanwalts wurden rasch abgeschlossen, denn Hitler hatte gedroht, mit »landesverräterischen Enthüllungen« aufzuwarten. Stoff dafür gab es offensichtlich zuhauf, denn in den Reihen derer, die konkrete Diktaturpläne verfolgten, wurde lebhaft gestritten. Gewünscht wurde nicht allein, das Schwergewicht der politischen Entscheidungen von der Legislative zur Exekutive zu verschieben, ohne erstere direkt zu beseitigen. Nahezu alle nationalkonservativen Kräfte traten mehr oder weniger offen für die Schaffung einer Militärdiktatur ein. Das von Hugo Stinnes propagierte Programm einer »Zerschmetterung des Kommunismus«, der Notverfassungsentwurf des berüchtigten »Alldeutschen Verbandes« und die Absichten vieler extrem reaktionärer Kräfte, darunter auch der NSDAP, stimmten weitgehend überein. Als Ziel galt: Unterdrückung ihrer politischen Gegner*innen mit rücksichtsloser Gewalt, Auflösung der Parlamente, Verhängung des Standrechts, Todesstrafe für Streikende, Aufhebung der Pressefreiheit und Verbot der Gewerkschaften.


Die bayerischen Demokratie- und Republikfeinde – an ihrer Spitze Kahr, der Chef der Reichswehr in Bayern, Otto von Lossow, und der Chef des Landespolizeiamtes, Hans von Seißer – bereiteten lange Zeit Hand in Hand mit der faschistischen Partei den Putsch gegen die Reichsregierung und den parlamentarisch-demokratischen Staat von Weimar vor. Doch die NSDAP trat mehr und mehr mit eigenen Forderungen hervor und begann, aus der Rolle eines nur regional wirksamen und beliebig zu dirigierenden Juniorpartners herauszuwachsen. Das zeigte sich auch, als sie am 2. September 1923 einen »Deutschen Tag« in Nürnberg organisierte, an dem rund 100.000 Menschen teilnahmen. Unter den »Ehrengästen« befanden sich Erich Ludendorff, Prinz Ludwig Ferdinand von Bayern, der Herzog von Coburg, Admiral Reinhard Scheer sowie zahlreiche bayerische Generäle und Offiziere. Am gleichen Tag entstand unter aktiver Mitwirkung der NSDAP der »Deutsche Kampfbund«, der die organisatorische Grundlage für die weiteren Putschvorbereitungen bieten sollte. Die Nürnberger Generalprobe für den geplanten Umsturz verlief verheißungsvoll, zumal sich SPD und KPD nicht auf eine gemeinsame Gegenwehr zu einigen vermochten

Unterschiedliche Wege
Im Herbst traf sich Lossow mehrere Male mit dem Führer der ­NSDAP und versicherte, er sei mit Hitlers Auffassungen »in neun von zehn Punkten völlig einig«. Dennoch kam es bald zwischen dem konservativen weiß-blauen Flügel und der Nazi-Partei zu offener Rivalität. Der gemeinsam propagierte und zugleich intensiv vorbereitete »Marsch auf Berlin«, für den Lossow am 24. Oktober 1923 die Parole »Sonnenaufgang« ausgab, entsprach bald nicht mehr in allem den Plänen der Weiß-Blauen. Für diese wurden zwar alle Aktivitäten der NSDAP als nützlich einkalkuliert, jedoch galten ihnen deren Ansprüche auf eine Führungsrolle und auf Realisierung eigener Ziele als überflüssig und ihrer eigenen Sache zunehmend als abträglich. Sie ruderten etwas zurück, als sich in Deutschland die Verhältnisse zu stabilisieren begannen und der Reichstag am 13. Oktober 1923 ein Ermächtigungsgesetz beschloss, das erlaubte, von den verfassungsmäßig garantierten demokratischen Grundrechten abzugehen. Sie begrüßten ebenso den vom Reichspräsidenten veranlassten Einmarsch der Reichswehr in Sachsen und Thüringen, wo die legalen, von Sozialdemokrat*innen und Kommunist*innen gebildeten Landesregierungen zum Rücktritt gezwungen wurden, und nahmen gern das Scheitern des Hamburger Aufstandsversuches der KPD zur Kenntnis.

Für Kahr und seine Anhänger schien sich, als sich die Übergabe der gesamten vollziehenden Gewalt an den obersten Chef der Reichswehr abzeichnete, die Aufgabe erübrigt zu haben, mit dem »Saustall in Berlin« aufzuräumen. Mit Gespür für die veränderte Situation begriff ein Teil der bayerischen Rechten, dass unter Deutschlands ökonomisch Mächtigen und politisch Herrschenden sich jene Richtung durchgesetzt hatte, die vorläufig graduelle Veränderungen am politischen Herrschaftssystem für erreichbar hielt. Kahr, Lossow und Seißer eröffneten am 6. November 1923 den Führern der »Vaterländischen Verbände«, dass einzig und allein sie das Kommandorecht beanspruchen und jede Eigenmächtigkeit brechen würden. Dies kam bereits einer gewissen Distanzierung vom nationalsozialistischen Flügel der Putschistenfront gleich.

»Nationale Revolution« im Bürgerbräukeller
Demgegenüber versuchte die Führung der NSDAP vollendete Tatsachen zu schaffen. Sie befürchtete, ihre aufgeputschten Anhänger*innen nicht mehr bei der Fahne halten zu können und sorgte sich um den drohenden Zerfall des unter ihrem Kommando formierten »Kampfbundes«. Hitler drang am Abend des 8. November 1923 an der Spitze einer bewaffneten SA-Formation in den Münchener Bürgerbräukeller ein, wo Kahr anlässlich des fünften Jahrestages des Beginns der Novemberrevolution eine programmatische Rede halten wollte. Mit ausgesprochenem Sinn für theatralische Effekte verkündete der Nazi-Chef nach einer kurzen Beratung im Nebenzimmer und einer Versammlungspause, die Göring nutzte, um die erregten Teilnehmer*innen zu beruhigen, den Beginn einer »nationalen Revolution« und die Bildung einer neuen Reichsregierung. Dieser würden außer ihm auch Ludendorff und die führenden bayerischen Persönlichkeiten angehören. Die Verantwortlichen für die Revolution von 1918/19 wurden als »Novemberverbrecher« beschimpft, sollten vor ein Gericht gestellt und innerhalb von drei Stunden hingerichtet werden. Danach gellten Beifall und ekstatisches Geschrei durch den Saal, begeistert wurde das Deutschlandlied angestimmt.

Nach dem Schluss der Veranstaltung zogen sich Kahr, Lossow und Seißer allerdings rasch von ihren Zusagen zu dem Putsch zurück. Die Verbrüderungsszene mit den Faschisten und die Anerkennung einer Reichskanzlerschaft Hitlers waren rasch vergessen. Kahr erklärte die NSDAP und den »Kampfbund« für aufgelöst. Zugleich verbot er ohne jede Begründung auch die KPD. Aus bayerischen Garnisonen wurden Reichswehreinheiten nach München beordert. So war für das Scheitern des Putsches gesorgt. Dies jedoch keineswegs in der Absicht, Demokratie und Republik zu verteidigen, zu retten und zu sichern. Eher ging es um andere Methoden und Mittel in deren Beseitigung sowie um ein durchaus als zeitweilig betrachtetes Ausschalten der unlieb gewordenen und die eigenen Machtinteressen bedrohenden Konkurrenz im Kampf gegen Demokratie und Republik. Ihre generelle Feindschaft gegen diese blieb bestehen, was alles in deutscher Geschichtsschreibung üblich gewordenes Gerede über den an diesem Tag erreichten Sieg der Demokratie zur Rettung der Republik als geschichtspolitisches Anliegen hinfällig erscheinen lässt.

Niederlage auf Zeit
In der Nacht zum 9. November 1923 und an diesem Tag gaben die Putschisten eine Probe ihres terroristischen Könnens. Aus der Kasse einer Buchdruckerei besorgten sie Sold für die SA-Leute. Der »Stoßtrupp Hitler« stürmte und verwüstete das Verlagsgebäude der sozialdemokratischen »Münchener Post«. Unter der Leitung Röhms besetzte eine Gruppe das Wehrkreiskommando und Rudolf Heß, der spätere Stellvertreter Hitlers, organisierte die Geiselnahme und Bewachung von Mitgliedern der bayerischen Regierung und des Münchner Stadtrates. Wahllos wurden auch jüdische Bürger*innen verhaftet. In blinder Hoffnung glaubte Hitler und darin von Ludendorff immer noch unterstützt, eine Wende erzwingen zu können. Er befahl seinen Anhänger*innen, für die späten Vormittagsstunden des 9. November zu einem »Erkundungs- und Demonstrationsmarsch« durch die Münchner Innenstadt zu kommen. Als dabei das Regierungsviertel erreicht wurde, fiel ein Schuss, dem für etwa eine Minute ein heftiger Feuerwechsel folgte. Bei der Feldherrnhalle – einem zum Ruhme Wittelsbacher Heerführer erbauten klassizistischen Gebäude – stoppten einige Salven der aufmarschierten Landespolizei die vordringenden Putschisten endgültig.

Ausgezogen nach Berlin zu marschieren und die Macht zu erobern, kamen die deutschen Faschist*innen nicht weit. Eilig zerstreuten sich die etwa 3.000 am Marsch Beteiligten, mancher stob in wilder Flucht davon. Auch hier sollte sich der um seine eigene Rettung bemühte Hitler als Führer erweisen: Zunächst konnte er sich in einem Landhaus der befreundeten Familie Hanfstaengl verbergen, bevor er am 11. November 1923 verhaftet wurde. Göring und andere flüchteten ins Ausland. Sie hatten eine Niederlage erlitten, wirksam jedoch nur für kurze Zeit.

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»Menschen lernen aus Fehlern ihrer Jugend«

von Carl Kinsky
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 201 - März | April 2023

#Kommunalpolitik

In Frankfurt am Main sorgt die Ernennung des Kommunalpolitikers und Mitglieds der Partei Bündnis 90/Die Grünen, Feyyaz Çetiner, zum Koordinator für die »AG Freund*innen des jüdischen Lebens« im Kreisverband der Grünen wegen seiner bisherigen Kontakte zu türkischen Faschist*innen für Kritik. Dabei ist er nicht der Einzige in der lokalen »Kommunalen Ausländervertretung« mit Verbindungen zur extremen Rechten. Der Fall steht exemplarisch für eine mangelnde bundesweite Auseinandersetzung mit diesem Thema.

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Aufgenommen bei einer Demonstration der Grauen Wölfe in Berlin 2006. Was er jetzt wohl macht? © Mark Mühlhaus / attenzione

In der Bundesrepublik wurden seit 1971 in Kommunen Gremien für die politische Interessenvertretung aller Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit eingeführt, die sonst keine politische Repräsentation durch Wahlen erfahren. Diese tragen unterschiedliche Namen, etwa »Ausländerbeirat« oder »Integrationsrat«. In Frankfurt am Main ist es seit 1991 die »Kommunale Ausländervertretung« (KAV). Diese gewählten Parlamente haben meist nur eine beratende Funktion in Angelegenheiten, die Bürger*innen ohne deutsche Staatsbürgerschaft betreffen. Sie bleiben daher politisch meist ohne konkrete Entscheidungsbefugnisse. Dennoch versuchen alle Parteien auch hier Einfluss zu gewinnen und stellen eigene Vertreter*innen. Insbesondere seitdem EU-Bürger*innen bei den Kommunalwahlen mitstimmen dürfen, sind diese Gremien wichtig bei der Mobilisierung von potenziellen Wähler*innen. Zwar sind in Frankfurt 200.000 Menschen wahlberechtigt für die KAV – jedoch beteiligt sich nur ein kleiner Bruchteil von ihnen an den Wahlen.

Kein unbeschriebenes Blatt
Als KfZ-Sachverständiger und Tankstellenbetreiber im Stadtteil Frankfurter Berg sowie als stellvertretender Vorsitzender der »Kommunalen Ausländervertretung« ist Feyyaz Çetiner in Frankfurt vielen bekannt. Seit 2021 engagiert er sich im Kreisverband der Grünen und gründete die »AG Freund*innen des jüdischen Lebens«. Dieser Vorgang wurde Anfang Januar vom kurdischen Gesellschaftszentrum NCK mit Verweis auf Çetiners Verbindungen zu türkischen Faschist*innen, auch als »Graue Wölfe« oder »Ülkücüler« (»Idealisten«) bekannt, kritisiert.

Türkischer Faschismus
Die 1969 gegründete »Milliyetçi Hareket Partisi« (»Partei der Nationalistischen Bewegung«, MHP) ist mit mehr als 475.000 Mitgliedern die größte faschistische Partei in der Türkei. Ihr Erkennungszeichen ist der »Wolfsgruß«, bei dem die Finger zu einem Wolfskopf geformt werden. Seit ihren paramilitärischen Ursprüngen ist sie für zahlreiche Morde, Pogrome und Terror gegen Minderheiten und demokratisch Gesinnte in der Türkei und in türkischsprachigen Gemeinden in Europa verantwortlich. Nach einem gescheiterten Putschversuch 1960, an dem sich der spätere MHP-Gründer Alparslan Türkes beteiligte, schuf er paramilitärische Verbände, die hunderte linke und kurdische Aktivist*innen ermordeten, um eine faschistische Diktatur zu errichten. 1978 führten sie Pogrome in Kahramanmaras und 1980 in Çorum gegen türkische und kurdische Alevit*innen an, bei denen Hunderte ausgeraubt, ermordet, gefoltert, vergewaltigt und vertrieben wurden. Exemplarisch für den Terror in Europa stehen die wiederholten Bomben- und Brandanschläge in Paris auf Denkmäler für den armenischen Genozid oder die Attentate auf Papst Johannes Paul II. in Rom und die Berliner Anwältin Seyran Ates. Sie überlebte schwer verletzt, ihre Klientin Fatma E. wurde ermordet. Seit 2018 stellt die MHP mit der islamistisch-nationalistischen Partei »Adalet ve Kalkinma Partisi« (»Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung«, AKP) des Parteivorsitzenden und Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan die türkische Regierung.

Wahlaktivitäten
Bei der Wahl zur »Kommunalen Ausländervertretung« 2010 führte Çetiner die Wahlliste »Multikulturelles hilfsbereites Publikum« an, für die ausschließlich »Graue Wölfe« kandidierten. Der Name der Wahlliste ist eine Anspielung auf die Abkürzung der türkischen faschistischen Partei. Sie erhielt in Frankfurt 2,9 Prozent der Stimmen. Çetiner kandidierte ein Jahr später bei der Kommunalwahl für die Kleinstpartei »Bündnis für Innovation und Gerechtigkeit« (BIG) – die von AKP-Lobbyist*innen in Deutschland mitgegründet wurde – ebenso wie der KAV-Abgeordnete Bilal Can. Sie erhielten 0,4 Prozent der Stimmen. Bei der Kommunalwahl 2021 erhielt der BIG-Parteivorsitzende Haluk Yildiz mit 0,6 Prozent der Stimmen einen Sitz im Frankfurter Stadtparlament, eine Fraktion wurde mit der extrem rechten Wählervereinigung »Bürger für Frankfurt« gebildet. Yildiz versucht durch Hintertürgespräche und Einmischungen bei Sitzungen auch Einfluss innerhalb der »Kommunalen Ausländervertretung« zu gewinnen.

Frankfurt als Zentrum der »Grauen Wölfe«
In Frankfurt hat der deutsche Ableger des europäischen Dachverbands der MHP, die »Almanya Türk Federasyon« (ATF), seinen Hauptsitz. In einem Bürogebäude im Stadtteil Enkheim wird die Verbandsarbeit organisiert, Propagandaveranstaltungen werden durchgeführt sowie über die eigene ATF GmbH Propagandamaterial verkauft und nationalistische Reisen in die Türkei vermarktet. Ein Highlight ist beispielsweise der Ausflug zur »Grabstätte des Führers Alparslan Türkes« in Ankara. Für 2011 war der Umzug des Zentrums nach Griesheim geplant, gewährleistet durch den Trägerverein »Türkisches Kulturzentrum e.V.« unter dem Vorsitz von Kazim Erdogan. Der Umzug fand nicht statt, dafür gründete er mit seiner älteren Schwester Hatice den Hochzeitssaal »Saray Turkuaz«, wo nationalistische Trauungsfeiern und Konzerte stattfinden. Seine älteste Schwester, Aygül Colak Erdogan, kandidierte ebenso wie sein Geschäftspartner Ramazan Gömbel für die von Çetiner angeführte MHP-Wahlliste bei der KAV 2010. Außer Çetiner zeigen sich alle auf Facebook mit »Wolfsgrüßen« oder bei Besuchen mit dem heutigen MHP-Anführer Devlet Bahçeli. Mahmut Gayretli, KAV-Abgeordneter und Präsidiumsmitglied, gehörte auch zum Vorstand des Trägervereins und vertritt die Interessen der »Türk Federasyon«. Er kandidierte 2010 ebenso auf der von Çetiner angeführten deutschen Wahlliste MHP. Bis heute sind Gayretli und Çetiner auf Facebook befreundet. Gayretli postet auf Facebook regelmäßig MHP-Propaganda inklusive faschistischer »Wolfsgrüße«. Auch weitere KAV-Mitglieder wie Dijana Avdic von der SPD oder Adriana Maximino dos Santos sind mit Gayretli auf Facebook befreundet. An seinen Inhalten scheinen sie sich nicht zu stören. Auch die KAV-Mitglieder Bilal Can und Hüseyin Kurt distanzierten sich bisher nicht von der AKP und deren hetzerischen Wahlkämpfen in der Bundesrepublik. Kurt warb im Vorfeld der Kommunalwahl 2021 zudem für Haluk Yildiz und den FDP-Politiker Yanki Pürsün in türkischen Gemeinde- und Moscheeverbänden. Nach der Wahl echauffierte er sich jedoch über Yildiz’ versuchte Einflussnahme in der KAV.

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»Juden raus aus der KAV«
Die Kritik an Çetiners Rolle bei den Grünen muss auch im Kontext erhöhter antisemitischer und rassistischer Anfeindungen innerhalb der »Kommunalen Ausländervertretung« betrachtet werden.
Die kurdische KAV-Abgeordnete Sarya Ataç (Die Linke) machte 2022 Morddrohungen von »Grauen Wölfen« gegen ihre Person öffentlich. Die KAV weigerte sich zunächst in einer Verurteilung, die »Grauen Wölfe« zu erwähnen. In diesem Kontext sprach der aserbaidschanische KAV-Vorsitzende Jumas Medoff, der jüdisch-muslimische Wurzeln hat, gegen ihn gerichtete antisemitische Morddrohungen an. In einem Drohbrief stand unter anderem: »Juden raus aus der KAV.« Medoff gab an, KAV-Abgeordnete und deren Umfeld hätten ihm bereits bei seiner Wahl gesagt, er als Jude könne sie nicht vertreten. Konkrete Namen nannte Medoff in diesem Zusammenhang allerdings nicht.
Nachdem Ataç an die Öffentlichkeit getreten war, warf ihr der KAV-Abgeordnete Abdullah Kaya vor, sich zum Opfer zu stilisieren und bezeichnete die MHP als demokratische Partei. Kaya vertritt den »Yunus Emre Kultur Verein« des gleichnamigen Kulturzentrums im Stadtteil Griesheim. Der Verein gehört zur islamistischen »Islamischen Gemeinschaft Milli Görus« (IGMG), die mit über 120.000 Mitgliedern eine der größten sunnitischen Verbände in der Bundesrepublik ist. In Frankfurt organisiert sich die IGMG im »Yunus Emre Kültür Merkezi« (»Yunus Emre Kulturzentrum«).

Ein geschärfter Blick
Çetiner selbst verstrickt sich immer wieder in Widersprüche über seine Vergangenheit. So behauptete er im Interview mit der Frankfurter Rundschau im Februar bezüglich seiner deutschen MHP-Kandidatur, türkische Politik interessiere ihn nicht. Doch im vorigen Dezember gab er eine Pressemitteilung der Frankfurter Grünen heraus, in der er das Politikverbot für den Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoglu verurteilt. Auch seine BIG-Kandidatur verschweigt er. Stattdessen sei er ein Opfer von Verleumdung. Gestärkt wird er dabei vom Kreisverband der Grünen: »Menschen lernen aus Fehlern ihrer Jugend«, heißt es in ihrer Stellungnahme. Allerdings war Çetiner bei der KAV-Wahl 2010 bereits 28 Jahre alt. Die Partei behauptet, er sei seit 2011 Antifaschist und ein »Aussteiger« aus der rechten Szene. Doch weder Çetiner noch die Grünen nennen den Anlass, warum er zum Koordinator der »AG Freund*innen des jüdischen Lebens« berufen wurde. Wer im Leben ernsthaft umdenkt, verschweigt und verdreht nicht die eigene Vergangenheit.
Die Vorgänge in Frankfurt zeigen, dass ein geschärfter Blick auf die verschiedenen rechten Einflussmöglichkeiten in der Kommunalpolitik dringend notwendig ist.

»Andere kulturelle Spielfelder eröffnen«

Sascha Schmidt Interview mit dem Musikwissenschaftler und RechtsRock-Experten Thorsten Hindrichs
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 203 Juli | August 203

#Musik

Die RechtsRock-Szene war jahrzehntelang eine der bedeutendsten Säulen des Neonazismus in der BRD. Über mögliche Veränderungen und Entwicklungen infolge einer Diversifizierung der Angebote und der pandemiebedingten Einschränkungen in den letzten Jahren sprach Sascha Schmidt mit dem Musikwissenschaftler und RechtsRock-Experten Thorsten Hindrichs.

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Thorsten Hindrichs © Privat

drr: Bis ins Jahr 2019 stieg die Zahl der RechtsRock-Konzerte auf mehr als 300 Veranstaltungen bundesweit an. Mit den Corona-Maßnahmen halbierte sich die Zahl. Großveranstaltungen wie »Rock gegen Überfremdung« in Themar oder das »Schwert und Schild Festival« im sächsischen Ostritz fanden seither nicht mehr statt. Wie viel Anklang finden die Konzerte aktuell?
Thorsten Hindrichs: Die pandemiebedingten Einschränkungen haben auch der extrem rechten Musikszene gehörig ins Kontor geschlagen. 2021 hat fast überhaupt nichts stattgefunden. Die Aktivitäten haben erst im Sommer/Herbst 2022 wieder an Fahrt aufgenommen. Meinen Beobachtungen nach sind Konzerte und Liederabende zuletzt doch wieder recht gut besucht gewesen. Ganz spannend finde ich, dass aktuell die Tendenz eher zur kleinen, nicht aufwendigen Form des Liederabends geht und größere Konzerte, bei denen eine Anlage und eine Location gebraucht werden, bislang im Vergleich zu den Vorjahren eher unterrepräsentiert sind.

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Eine Szenegröße – Thorsten Heise – ist im März diesen Jahres mit einem Konzert in Neumünster gescheitert. Dort löste die Polizei ebenso wie Anfang Juni 2023 im rheinland-pfälzischen Daaden die Veranstaltung auf. Wie erfolgen Bekanntmachung und Kartenverkauf in jüngster Zeit?
Die Bewerbung für Konzerte ist im Vergleich zur Zeit vor der Pandemie deutlich weniger öffentlich geworden. In den einschlägigen Social-Media-Portalen wie facebook wird nicht viel angekündigt, auch nicht so ganz viel auf Telegram. Dort gibt es allerdings ein paar kleine versteckte Gruppen, wo mal was durchrutscht. Aber die gute Übersicht im Vorhinein, die wir vor 2020 hatten, ist so nicht mehr gegeben. Häufig erfahren wir das erst im Nachhinein, wenn Nazis Nachberichterstattung machen und von einem »schönen Wochenende in Brandenburg« schreiben oder so. Sehr viel Mobilisierung findet über geschlossene Threema-Gruppen statt, in die man auch nicht ohne Weiteres reinkommt. Das macht die Recherchearbeit nicht leichter. Dass die Sicherheitsbehörden in den letzten Wochen und Monaten erstaunlich viele Konzerte unterbunden oder aufgelöst haben, spricht eigentlich dafür, dass sie ihre Informationen von anderswo beziehen. Sie müssen Leute da drin haben, die ihnen Infos durchstecken.

Würdest du sagen, es gibt nach drei Jahrzehnten des zum Teil laxen Umgangs mit RechtsRock seitens der staatlichen Stellen auf Bundes- oder Landesebene nun ein koordinierteres Vorgehen?
Es macht im Moment den Eindruck. In der Tat. Es hat sich in den letzten zwei, drei Jahren offensichtlich bei den Sicherheitsbehörden doch ein gewisses Bewusstsein dafür durchgesetzt, dass eine konzentriertere und länderübergreifende Zusammenarbeit vielleicht nicht die allerschlechteste Idee ist. Das war zuvor ein ganz massives Problem, dass Rheinland-Pfalz beispielsweise gesagt hat: Wir sind für unser Bundesland zuständig und wenn Band xy von dort nach Nordrhein-Westfalen rüberswitcht, ist es deren Angelegenheit. Da hat sich einiges getan. Es scheint sich auch eine überbehördliche Zusammenarbeit anzudeuten: Die rechte Musikszene ist nicht mehr nur allein im Fokus von Kriminalpolizei, Landeskriminalämtern und Verfassungsschutzämtern, sondern auch von Finanzbehörden.

Teile der Szene bemühen sich immer wieder um eine Ausweitung kultureller Angebote und deren Professionalisierung. Im Rahmen einer NPD-Netzwerktagung im Mai 2023 betonten die Anwesenden die Bedeutung dieser beiden Aspekte, um potenzielle Sympathisant*innen auch über die schon involvierten Szene-Kreise hinaus erreichen zu können. Waren solche Bemühungen in den letzten Jahren erfolgreich?
Es geht so. Es gab den einen oder anderen Versuch, wenn ich zum Beispiel an »Schild und Schwert« denke, wo es Rundum-Wohlfühl-Wochenenden für den Nazi von heute gab: mit Musik, Kampfsport und Tattoo-Convention. In dieser Kombination war es aber eher die Ausnahme. Sie haben insgesamt nicht das Angebotsspektrum erweitert. Angebote wie das Kampfsport-Event »Kampf der Nibelungen« werden nur intensiver beworben. Wandern und andere Outdoor-Aktivitäten sind ein relativ neues Ding in der Szene. Aber meiner Beobachtung nach finden solche Angebote eher getrennt voneinander statt.

Siehst du eine Entwicklung, dass solche sportlichen Events attraktiver für junge, sportlich ambitionierte Neonazis sein könnten, als sich auf einem RechtsRock-Konzert volllaufen zu lassen?
Das finde ich schwer zu beantworten. Weil vor der Pandemie schon der Eindruck bestand, dass die RechtsRock-Szene keine Jugendkultur mehr ist, sondern die rechte Musik-Szene überaltert ist. Das verdeutlichen die vielen Online-Fotostrecken von den einschlägigen Konzerten: Das Publikum ist mindestens Ü30 – wenn nicht älter. Aber du hast natürlich recht: Aktuell sieht es so aus, als wären die Jüngeren eher sportaffin, als dass sie sich jetzt für Musik interessieren würden. Spannend ist zu beobachten, wie rechte Akteur*innen versuchen, bestimmte Trends aufzugreifen oder dort anzudocken – wie beispielsweise Comic-Angebote. Wobei ich auch da nicht das Gefühl habe, dass damit ein jugendliches Spektrum angesprochen wird. Aber was die klassische RechtsRock-Szene angeht: Es ist keine Jugendkultur mehr. Das gilt auch für einen zentralen Aspekt: das Business. Das ist ja eines der spannendsten Phänomene in der Corona-Phase gewesen. Es war zu beobachten, wie wichtig Konzertveranstaltungen für die Szene sind, um Gelder zu generieren. Da ist etwas massiv weggebrochen. Ihnen sind über 75 Prozent ihrer Umsätze über die Wupper gegangen. Das Ergebnis war dann, dass sie 2020 angefangen haben, Tonträger und Merchandise wie verrückt auf den Markt zu werfen. Für das Jahr 2020 hat Jan Raabe 236 Veröffentlichungen für Deutschland gezählt (s. drr Nr. 202). Da sind aber viele Reissues dabei. Das war der Versuch, etwas zu kompensieren.

Mit den Reissues wurden dann ja wieder die »alten Klassiker« aufgelegt …
Genau. Ich finde ja am RechtsRock-Musikmarkt interessant, welche Strategien die verfolgen. Dort ist deutlich erkennbar, dass sich die Angebote im Bereich physischer Tonträger sehr deutlich an ein älteres Publikum richten, das auch Kohle hat und sich die als Sondereditionen wieder aufgelegten »Klassiker« kaufen kann. Es gibt viele Veröffentlichungen, bei denen die CD in 25 verschiedenen Variationen mit Gimmicks und special editions mit Holz- oder Stahlbox aufgelegt wird. Und es gibt – wie auch im Mainstream – den Trend zum Vinyl. Das sind aber alles Produkte, die sich ein junger Mensch so ohne Weiteres, auch im Jahr 2023, nicht leisten kann.


Es wäre vielleicht auch die Frage, ob junge Menschen überhaupt noch das große Interesse an diesen »Klassikern« haben. Du hattest ja von Trends gesprochen: Der rechte Rap wurde zum Beispiel medial stark als neuer Trend präsentiert. Ist das denn eine Alternative?
Das ist eine Alternative, die sich auftun kann. Die frühen NS-Rap-Projekte – ab den Jahren 2010/2011 – haben zunächst null gefruchtet. Die waren technisch auch schlecht gemacht – wenn auch jemand wie »MaKss Damage« ein relativ guter Rapper ist. Aber die liefen immer dem Trend, der im Hip-Hop angesagt war, hinterher. Und insofern war das auch nicht für die Jugend attraktiv. Ich tue mich im Moment noch etwas schwer damit, welchen Impact aktuell zum Beispiel jemand wie Kai »Prototyp« Naggert und das Label NDS (»Neuer Deutscher Standard«) haben werden. Deren Künstler*innen-Portfolio ist mit Blick auf technische Fähigkeiten gegenüber dem Mainstream nicht konkurrenzfähig. Aber die Produktionen sind professioneller geworden. Es ist zumindest Potenzial da, um jugendliche Hörer*innen abholen zu können. Was die Rock-Szene angeht, wäre ich noch vorsichtiger, wenn auch die aktuelle Platte der Neonazi-Band »Confident of Victory« (COV) von der Produktion und Machart her mainstreamtauglich ist. In der Szene wird aktuell diskutiert, dass man ein Projekt bräuchte, das eine Mischung aus den musikalischen Fähigkeiten von COV und der Präsentation von der Band »Weimar« braucht. Dass letztgenannte ihre Wurzeln in der extremen Rechten in Thüringen hatte, machte das Nachrichtenmagazin Der Spiegel Anfang des Jahres öffentlich. Zugleich hatte die Band aber einen Vertrag mit dem großen Major-Label Universal.

Wenn der RechtsRock keine Jugendkultur mehr ist und sich dieser Trend fortsetzt: Gibt es in 15, 20 Jahren noch diese klassische RechtsRock-Szene und welche Auswirkungen hätte das für die extrem rechte Szene, wenn diese wegfiele?
Ich tue mich mit Vorhersagen unglaublich schwer. Musik ist für ungefähr 95 Prozent von jungen Menschen laut Umfragen der JIM-Studien nach wie vor essenzieller Bestandteil der lebensweltlichen Alltagsgestaltung. Das ist also kein Alleinstellungsmerkmal von Nazis. Daher muss die extreme Rechte Musik zwingend im Angebot haben, um anschlussfähig im Alltag sein zu können. Allerdings ist das kein ausschließliches Kriterium: Die extreme Rechte wirkt nicht per se besonders cool, nur weil sie auch Musik anbietet. Natürlich findet auf Konzerten Vergemeinschaftung statt, genauso auf virtueller Ebene. Wenn ich mir zu Hause Musik anhöre, fühle ich mich einer Szene zugehörig, auch wenn ich allein bin. Das funktioniert dort wie in allen anderen sozialen Formationen auch.
Aber von den Angeboten wird dann tatsächlich auch abhängen, ob in 15, 20 Jahren eine RechtsRock-Szene funktioniert und welche kulturellen Praktiken junge Menschen dann ansprechen. Vielleicht sind es ja tatsächlich weniger die Musik und doch mehr Sport und andere Aktivitäten. Wenn aber dann die klassische RechtsRock-Szene mehr oder weniger tot sein sollte, bedeutet dies für die extreme Rechte natürlich massive Umsatzeinbußen, bei denen sie schauen muss, wie sie diese vermeiden können – zum Beispiel, indem sie andere kulturelle Spielfelder eröffnen.

Vielen Dank für das Gespräch!