Das Leitbild

von Philipp Vergin
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 195 - März / April 2022

#Preußen

Für die extreme Rechte in Deutschland ist Preußen seit jeher eine sinnstiftende ideengeschichtliche Chiffre. Ein historischer Überblick.

Antifa Magazin der rechte rand
Bismarck-Fans bei einer AfD-Kundgebung mit Björn Höcke 2018 in Eisenach. © Mark Mühlhaus / attenzione

Bekanntlich handelte es sich bei der Reichsgründung von 1871 um ein autoritäres Projekt des preußischen Adels unter der Führung von Otto von Bismarck – Preußen setzte sich als dominierende politische Kraft in Deutschland durch. Es folgte die wilhelminische Epoche, die den Aufstieg des deutschen Reiches zur europäischen Großmacht vollzog. Im politischen Leben des frühen Kaiserreichs bis zur Jahrhundertwende standen die »Deutsch-Konservative Partei«, die »Kreuzzeitung« und die von dem Antisemiten Adolf Stoecker geführte »Christlich-Soziale Partei« auf der äußersten rechten Seite des Reiches. Ihr Wirken diente dem Kampf gegen die aufstrebende revolutionäre Sozialdemokratie und den politischen Liberalismus.

»Alldeutsche« Radikalisierung

Mit der Jahrhundertwende gewann dann die entstehende völkische Bewegung an Einfluss auf die ideologische Ausrichtung der Rechten, namentlich der »Alldeutsche Verband« und die diversen, aus dem preußischen Militär und dem Großbürgertum getragenen nationalistisch-militaristischen Flottenvereine. Sie drängten auf eine aggressivere Aufrüstung und ein Primat des Militärs in der Außenpolitik. Die »Alldeutschen« radikalisierten sich unter ihrem Vorsitzenden Heinrich Claß zusehends und forderten am Vorabend der Entfesselung des Ersten Weltkrieges von Kaiser Wilhelm II. einen offenen Imperialismus mit dem Ziel kolonialer Eroberungen. Dabei propagierten sie einen rassistischen Sozialdarwinismus samt Lebensraum-Ideologie. Während des Ersten Weltkrieges warben die ultranationalistischen Verbände in Bevölkerung und Wirtschaft für Kriegsanleihen zur Finanzierung dieser historischen Materialschlacht. Nach 1917 wollten sie die Fortsetzung des Krieges selbst dann noch, als die Kämpfe einen zuvor nicht dagewesenen Blutzoll gefordert hatten.

Die im Jahr darauf begonnene Novemberrevolution und die Abdankung des Kaisers empfanden die gesamte wilhelminische Elite und das nationalistisch eingestimmte Bürgertum als Schmach. Im Zuge der Rhetorik vom Dolchstoß, welchen die Front durch die Revolution erlitten habe, mehrten sich antisemitische Motive in der rechten Publizistik. Darin wurde den Jüdinnen und Juden die Schuld für den verlorenen Krieg und den Systemwechsel zugewiesen.

»Fesseln« von Versailles

Das Ende des Kaiserreiches ist für die Rechte in Deutschland eine Niederlage der alten, von ihr als natürlich angesehenen Ordnung. Doch nicht die Restauration der Monarchie hat die sich nach 1918 formierende neue extreme Rechte in der Weimarer Republik im Sinn, sondern je nach politischer Selbstverortung den Aufbau eines autoritären, hierarchischen Ständestaates, eine Diktatur des Militärs oder eines Präsidialkabinetts. Gemeinsam ist allen Strömungen der Weimarer extremen Rechten das Ziel, die »Fesseln« des Versailler Vertrages abzuschütteln, die Wiederaufrüstung Deutschlands voranzutreiben und eine Revanche gegen Frankreich und England vorzubereiten.

Die von geschichtlichem Bruch beklagte Einführung der parlamentarischen Demokratie und die Unterzeichnung des Vertrages von Versailles lasteten die Nationalisten der neuen Regierung an, die als »Novemberverbrecher« denunziert wird. Vor diesem Hintergrund ereigneten sich die rechtsterroristischen Morde an Finanzminister Matthias Erzberger und Außenminister Walter Rathenau. An diesen Taten war auch der Romanschriftsteller Ernst von Salomon beteiligt, seinerseits Protagonist der heute von Neurechten oftmals rezipierten »Konservativen Revolution«. Es folgten die Einsätze präfaschistischer Freikorps gegen die Arbeiter*innenbewegung und 1920 der gescheiterte Kapp-Putsch, mit dem die Republik gestürzt werden sollte.

»Preußischer Sozialismus«

Zeitgenössische Autoren wie Arthur Moeller van den Bruck und Oswald Spengler griffen in den frühen 1920er Jahren den Preußenmythos in ihren Schriften auf. Dabei ging es nicht um eine faktisch-historische Betrachtung, vielmehr wurde Preußen für die extreme Rechte der Weimarer Republik zur politischen Chiffre jenes antimodernen und antidemokratischen Wertekanons, mit dessen Hilfe es gelingen sollte, die verhasste Demokratie und die Versailler Ordnung in Europa abzuschütteln. Die Besinnung auf preußisch tradierte Werte wie Gemeinschaft, Tugend und Disziplin wurde gegen die Republik und den Individualismus in Stellung gebracht.

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Im Jahr 1919 erschien Spenglers programmatische Schrift »Preußentum und Sozialismus«. Darin setzte er dem marxistischen Konzept des Sozialismus das eines »preußischen Sozialismus« entgegen. Dieser müsse vor dem Hintergrund der preußischen Geschichte und dessen, was Spengler für die Deutschen für wesensgemäß hielt, illiberal und autoritär verfasst sein. Preußen war für ihn die Summe von Realismus, Disziplin und Korpsgeist, Bildung und Schwärmerei.

Die Nationalrevolutionären führten das Preußentum und die Praxis der bolschewistischen Massenmobilisierung in der Sowjetunion in der Zeit des Bürgerkrieges ideologisch zusammen. In der Gestalt des Arbeiters beziehungsweise des Soldaten sahen sie den politischen Akteur einer neu formierten Gesellschaft, die sich auf das preußische Ethos gründen sollte.

Die antirepublikanischen Parteien betrieben in der Weimarer Republik zudem einen folkloristischen Kult um Reichskanzler Otto von Bismarck und Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg. Dazu gehörten öffentliche Sedan- und Tannenbergfeiern, mit denen die Schlachten des preußischen Heeres glorifiziert wurden. Die Jugend- und Wehrverbände der Antirepublikaner ergingen sich in einer nationalistischen und völkischen Rhetorik. Dabei beförderte der Bezug zum Preußentum die Mobilisierung antifranzösischer Ressentiments, etwa nach der Ruhrbesetzung durch alliierte Truppen 1923.

Vom König zum Soldatentum

Mit dem »Tag von Potsdam« am 21. März 1933 in der Potsdamer Garnisonkirche suchte Hitler in einer Zeremonie den symbolischen Schulterschluss mit dem Adel und der Tradition Preußens. Ein Bild aus der Zeit um dieses Ereignis zeigt den Despoten in einer Reihe mit Friedrich dem Großen, Bismarck und Hindenburg. Dazu findet sich die Aussage: »Was der König eroberte, der Fürst formte, der Feldmarschall verteidigte, rettete und einigte der Soldat.«

Dass die NSDAP auf dem Weg zur Macht vom Adel und auch von den landbesitzenden Junkern östlich der Elbe unterstützt wurde, ist hinreichend historisch nachgewiesen. Die Nazis nahmen auf die preußische Tradition Bezug, da sie deren Militarismus teilten und zugleich um Unterstützung im protestantisch national-konservativen Bürgertum warben. Dieses stand der NS-Bewegung aus Gründen eines elitären Dünkels habituell skeptisch gegenüber, teilte jedoch den militanten Anti-Marxismus und Anti-Liberalismus der Nazis. Im Adel und im Bürgertum überwog die Erleichterung darüber, dass Hitler die ihnen verhasste Demokratie beseitigt und die Arbeiter*innenbewegung samt marxistischen Parteien zerschlagen hatte.

Im Januar 1933 wurde Hermann Göring, später unter anderem Oberbefehlshaber der Wehrmacht, preußischer Reichskommissar und drei Monate später formell Ministerpräsident. Bereits zuvor war die als republikanisch gesinnt geltende Polizei Preußens unter die Kontrolle Franz von Papens gestellt und als demokratischer Faktor ausgeschaltet worden. Die Gleichschaltung der Länder durch die Nazis ließ Preußen zur leeren Hülle werden.

Neue europäische Mittelmacht

Nach dem Ende des Nationalsozialismus erklärten die Alliierten den Staat Preußen 1947 in einem Kontrollratsgesetz für aufgelöst. Dieser hochgradig symbolische Beschluss trug dem Umstand Rechnung, dass Preußen als der Inbegriff deutschen Militarismus und imperialistischen Expansionsstrebens galt.

Doch seit der Nachkriegszeit ist »Preußen bleibt Preußen« für Konservative, die extreme Rechte und Vertriebenenverbände ein konstanter Bezugspunkt. So bringt die »Landsmannschaft Ostpreußen« bis heute die »Preußische Allgemeine Zeitung« heraus – ursprünglich 1950 als »Ostpreußenblatt« gegründet (s. drr Nr. 172).

Nach 1990 gewann Preußen neue Strahlkraft. In den rechten Periodika setzte eine Debatte um die Rückkehr Preußens als politischer Faktor ein. Ganz in diesem Geiste verlegte die Zeitung »Junge Freiheit« (JF) ihren Redaktionssitz Anfang der 1990er Jahr kurzzeitig in die frühere Garnisonsstadt Potsdam. Doch die Hoffnungen in der »Neuen Rechten«, vermittels der Wiedervereinigung die Westanbindung zu entsorgen, und wie das historische Preußen beziehungsweise das Deutsche Reich als europäische Mittelmacht agieren zu können, erfüllten sich bekannterweise nicht.

Bezugspunkt bis heute

»Hurra, wir haben Geburtstag« titelte die JF (3/21) pünktlich zum Jubiläum der Reichsgründung im Januar vergangenen Jahres. Diese Überschrift darf zweifellos als politische Standortbestimmung zugunsten des Mythos‘ vom Deutschen Reich gelesen werden. In seinem Leitartikel führte Chefredakteur Dieter Stein darüber Klage, dass die Reichsgründung weder für das kollektive Gedächtnis der Deutschen noch in der Politik eine konstitutive Rolle spiele. In Götz Kubitscheks »Sezession« (Nr. 100) bilanzierte Autor Dag Krienen im Februar 2021, dass »kein Obrigkeit- und Fürstenstaat, sondern der Staat der gesamten Nation, eine sowohl nationale als auch demokratische Errungenschaft ersten Ranges« gewesen sei. Kein Zweifel: Die preußische Geschichte ist für die extreme Rechte nach wie vor zentraler identitärer und geschichtlicher Bezugspunkt.