»Da bin ich heute noch stolz drauf, das hat es selten gegeben.«

von Tobias von Borcke
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 190 - Mai / Juni 2021

#Antiziganismus

Antifa Magazin der rechte rand
@ Mark Mühlhaus / attenzione

Es war der 16. Mai 1944, als ein Teil der im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau inhaftierten Sinti*zze und Rom*nja Widerstand leistete, indem sie den Befehl verweigerten, ihre Baracken zu verlassen. Grund hierfür war die vorausgegangene Warnung eines Funktionshäftlings, nach der die Sinti*zze und Rom*nja an diesem Tag ermordet werden sollten. Den Erinnerungen des Sinto Hugo Höllenreiner nach zog sich die SS zurück: »Die SS haben gedacht, wenn sie reinkommen, vielleicht schießen sie ein paar zusammen, aber dass unsere von denen auch ein paar umbringen. Die haben sich erhalten wollen. Und so muss es in anderen Blöcken auch gewesen sein. Und wenn es auf die anderen Lagerabschnitte übergreift. Vielleicht waren sie in dem Glauben, dass alle Männer der Baracke dastehen und zuschlagen werden.« Unter denen, die sich widersetzten, war Hugos Vater, Josef Höllenreiner, ein ehemaliger Wehrmachtssoldat. »Da bin ich heute noch stolz drauf, das hat es selten gegeben«, äußert sich Hugo Höllenreiner rückblickend. Er war neun Jahre alt, als er mit seiner Familie von München nach Auschwitz deportiert wurde. Von dort wurde er ins KZ Ravensbrück, dann nach Mauthausen und schließlich nach Bergen-Belsen verschleppt, wo er 1945 seine Befreiung erlebte. Hugo Höllenreiner, seine fünf Geschwister und seine Eltern überlebten, 36 ihrer Angehörigen jedoch fielen dem Holocaust zum Opfer.


Aufgrund des Widerstandes in Auschwitz-Birkenau zog sich die SS an diesem Tag zurück, die Mordaktion wurde verschoben. In den folgenden Wochen und Monaten wurden zwischen 2.000 und 3.000 der in Auschwitz inhaftierten Sinti*zze und Rom*nja in andere KZ verschleppt und dort zur Arbeit gezwungen. Zurück blieben jene, die in den Augen der SS nicht mehr arbeitsfähig waren: überwiegend Kinder sowie alte und kranke Menschen.
Schließlich wurden in der Nacht vom 2. auf den 3. August 1944 die verbliebenen etwa 4.300 Personen in den Gaskammern ermordet.

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Am 2. August wird international der schätzungsweise 500.000 Opfer des Völkermordes gedacht. Der 16. Mai als Tag der Erinnerung an den Widerstand von Sinti*zze und Rom*nja ist bis heute weniger bekannt und wird vor allem von Selbstorganisationen der Minderheit begangen. Auch wenn die historischen Details bis hin zum genauen Datum wissenschaftlich umstritten sind, ist aufgrund von Zeug*innenaussagen davon auszugehen, dass der beschriebene Akt der Verweigerung stattgefunden hat.
Widerstand von Sinti*zze und Rom*nja ist nicht nur aus Auschwitz überliefert. Auch in Treblinka setzten sich nach Aussagen von Überlebenden Sinti*zze und Rom*nja gegen ihre Ermordung zur Wehr. In den Konzentrationslagern widersetzten sich Angehörige der Minderheit etwa durch Solidarität und gegenseitige Unterstützung oder durch Flucht.

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Die nationalsozialistische Verfolgungspolitik zielte darauf, alle als »Zigeuner« kategorisierten Menschen zu erfassen, aus der Gesellschaft auszuschließen und schließlich zu ermorden. Die Handlungsoptionen der Verfolgten waren damit aufs Äußerste eingeschränkt, häufig blieb ihnen nur der nackte Kampf ums Überleben. Somit sind alle Versuche, den reibungslosen Ablauf von Verfolgung und Vernichtung zu stören, sich zu entziehen und unter verzweifelten Bedingungen die eigene Menschlichkeit zu wahren, als Widerstand zu bezeichnen.

Facetten des Widerstandes
Ab 1933 waren Sinti*zze und Rom*nja in Deutschland immer stärkerer Diskriminierung ausgesetzt und wurden zunehmend aus dem öffentlichen Leben verdrängt. In praktisch allen Bereichen findet sich auch Widerstand gegen Ausgrenzung und Verfolgung, etwa gegen den Ausschluss aus dem Wirtschaftsleben oder gegen »rassehygienische Untersuchungen«.
Ein gut dokumentiertes Beispiel ist die Geschichte von Christine Lehmann aus Duisburg, die einem rassistischen Eheverbot trotzte und im Geheimen weiter mit ihrem Partner Karl Hessel, mit dem sie zwei Kinder hatte, zusammenlebte. Christine Lehmann wurde schließlich verhaftet und nach Auschwitz deportiert, wo sie am 28. März 1944 infolge der unmenschlichen Bedingungen im Lager starb.

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Johann »Rukeli« Trollmann © sintiundroma.de


Der Profiboxer Johann »Rukeli« Trollmann gewann am 9. Juni 1933 den Kampf um den deutschen Meistertitel im Halbschwergewicht. Sein beweglicher Boxstil war bereits vor diesem Kampf als »undeutsch« diffamiert worden, nun wollte der Boxverband den Sinto nicht als Deutschen Meister akzeptieren. Der Titel wurde ihm einige Tage später aberkannt. Vor seinem letzten großen Kampf im Juli 1933 war Trollmann massivem Druck ausgesetzt, »deutsch« zu boxen. Um diesen Rassismus öffentlich zu kritisieren, erschien er mit geweißten Haaren und weiß gepuderter Haut im Boxring. Den Kampf verlor er, seine sportliche Karriere war praktisch vorbei. 1939 zunächst zur Wehrmacht eingezogen, wurde er als Sinto 1942 ausgeschlossen. Anschließend wurde er verhaftet und ins KZ Neuengamme eingewiesen, 1944 im Außenlager Wittenberge erschlagen.
Von den Widerstandsformen, die Sinti*zze und Rom*nja in NS-Deutschland ausüben konnten und ausgeübt haben, dürfte das Untertauchen die häufigste gewesen sein. Zumindest einigen war es so möglich, drohenden Repressalien und damit häufig dem Tod zu entgehen.

Im Untergrund
Als die meisten Mitglieder der Familie verhaftet und deportiert wurden, gelang es dem Sinto Oskar Rose unterzutauchen. Fortan lebte er unter falschem Namen im Untergrund. Im April 1943 sprach er in der Münchener Residenz von Kardinal Faulhaber vor, um diesen über die verzweifelte Lage der Sinti*zze und Rom*nja zu informieren und zum Eingreifen zu bewegen. Faulhaber weigerte sich jedoch, ihn zu empfangen. In den folgenden Wochen richtete Oskar Rose anonyme Schreiben an zwei weitere ranghohe Vertreter der katholischen ­Kirche. Auch diese Hilfegesuche blieben ohne Reaktion: Ein öffentliches Einstehen der katholischen Geistlichkeit für die verfolgten deutschen Sinti*zze und Rom*nja, die mehrheitlich katholisch waren, blieb aus. Auch wenn Oskar Roses Bestrebungen erfolglos blieben, sind sie von besonderer Bedeutung. Dass ein Angehöriger der verfolgten Minderheit in NS-Deutschland versucht hat, den Völkermord in seiner Gesamtheit zu stoppen oder zumindest ins Stocken zu bringen, ist in keinem anderen Fall dokumentiert. Oskar Roses Widerstand gegen die nationalsozialistische Verfolgungspolitik erschöpfte sich nicht in Bittgesuchen an die katholische Kirche. Im August 1944 gelang es ihm, seinen Bruder Vinzenz Rose aus dem Außenlager Neckarelz des KZ Natzweiler-Struthof zu befreien. Beide konnten sich bis zum Kriegsende verstecken und überlebten.

 

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Widerstand in Europa
Der Widerstand von Sinti*zze und Rom*nja hatte auch eine internationale Dimension. So waren Angehörige der Minderheit in besetzten Ländern am militärischen Kampf gegen NS-Deutschland beteiligt. Belegt sind beispielsweise Verbindungen zur französischen Résistance. Zeitweise lebten Sinti*zze und Rom*nja hier mit bewaffneten Widerstandsgruppen in den Wäldern, unter anderem unterstützten sie entkommene britische Kriegsgefangene und abgeschossene Piloten bei der Flucht. Die Beteiligung von Rom*nja an Partisan*innengruppen ist insbesondere für das Gebiet des ehemaligen Jugoslawien dokumentiert, aber auch für Polen und die Sowjetunion. Zumeist schlossen sich Rom*nja dabei bestehenden Verbänden der Widerstandsbewegungen an, in einzelnen Fällen gab es spezielle Rom*nja-Einheiten, wie zum Beispiel in Kroatien. Nicht zuletzt leisteten Sinti*zze und Rom*nja auch als Angehörige der alliierten Armeen einen Beitrag zum Sieg über Nazideutschland.


Besonders bemerkenswert ist die Biografie von Alfreda Markowska. Die polnische Romni war selbst unmittelbar von Verfolgungsmaßnahmen betroffen. Sie entging dem Tod nur knapp und hat zahlreiche Angehörige verloren. Von den Deutschen im besetzten Polen zur Zwangsarbeit eingesetzt, suchte sie die Stätten von Massenerschießungen auf, um nach Überlebenden zu suchen und diesen zu helfen. Markowska hat 50 Kindern, darunter Rom*nja und jüdische Kinder, das Leben gerettet, indem sie sie bei sich versteckte und ihnen gefälschte Papiere verschaffte.

Keine »Stunde Null«
Die Zeit nach Kriegsende war in vielen Bereichen durch Kontinuitäten geprägt. Die Täter*innen des Völkermordes konnten ihre Karrieren fortsetzen und mussten nur in wenigen Fällen juristische oder andere Konsequenzen befürchten. Die wenigen Sinti*zze und Rom*nja, die überlebt hatten, sahen sich hingegen fortgesetzter Diskriminierung und Ausgrenzung ausgesetzt. Sie und ihre Nachkommen wurden vielfach ins gesellschaftliche Abseits gedrängt. Die Dominanzgesellschaften beider deutscher Staaten verdrängten und beschwiegen die an Sinti*zze und Rom*nja im Nationalsozialismus begangenen Verbrechen über Jahrzehnte. Mit rassistischen Begründungen wurden Sinti*zze und Rom*nja in der BRD Entschädigungszahlungen verweigert – in Gerichtsprozessen und Gutachten äußerten sich als »Expert*innen« ausgerechnet Menschen, die in der NS-Zeit Täter*innen waren, bei der Kriminalpolizei oder als »Rasseforscher*innen«. Zu den ersten, die sich gegen diese Zustände wehrten, gehörten Oskar und Vinzenz Rose. Die Brüder setzten sich für eine juristische und gesellschaftliche Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen ein und prangerten den fortgesetzten Antiziganismus an. Sie waren die Wegbereiter der Bürgerrechtsbewegung deutscher Sinti*zze und Rom*nja, aus der heraus 1982 der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma gegründet wurde. Im selben Jahr erkannte der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt als erster deutscher Spitzenpolitiker den rassistisch motivierten Völkermord an Sinti*zze und Rom*nja als solchen an.


Trotz der Erfolge der Bürger*innenrechtsarbeit ist Antiziganismus in Deutschland und Europa bis heute weit verbreitet und fest verankert. Auch die Geschichte der Verfolgung und Ermordung von Sinti*zze und Rom*nja im Nationalsozialismus ist zu wenig bekannt. Eine Voraussetzung für die Bekämpfung des Antiziganismus in Politik, Medien und Gesellschaft besteht darin, dass sich die Dominanzgesellschaft den Perspektiven von Sinti*zze und Rom*nja öffnet und sowohl die bis heute wirksamen historischen Wunden als auch Stereotype, Ausgrenzung und Gewalt in der Gegenwart anerkennt und daraus Konsequenzen zieht.

Tobias von Borcke ist Mitarbeiter des Bildungsforums gegen Antiziganismus. Der vorliegende Text basiert auf Recherchen und Überlegungen zu diesen Bildungsmaterialien: »Wir geben uns nicht in ihre Hände«. Bildungsmaterialien zum Widerstand von Sinti und Roma gegen den Nationalsozialismus (2019, zusammen mit der Gedenkstätte Deutscher Widerstand), www.gegen-antiziganismus.de