»Gemütszustand eines total besiegten Volkes«

von Gerd Wiegel
Magazin "der rechte rand" Ausgabe 166 - Mai 2017

72 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ist die Erinnerung an Faschismus und Krieg endgültig historisiert. Keine aufgeregten Geschichtsdebatten am Horizont, Ruhe und Gelassenheit allüberall. Wo von rechts bis heute die NS-Vergangenheit als Mittel der »moralischen Erpressung« Deutschlands durch das Ausland herbeiphantasiert wird, sehen die Realitäten des Umgangs mit dieser Vergangenheit allerdings ganz anders aus.

der rechte rand Magazin von und für AntifaschistInnen Ausgabe 166 - Artikel

Holocaust-Mahnmal in Berlin © Mark Mühlhaus/attenzione

Auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion im März 2017 zum Umgang der Bundesregierung mit den Opfern der Blockade von Leningrad (heutiges Sankt Petersburg) erklärt diese, die Erinnerung an dieses »schreckliche deutsche Kriegsverbrechen« müsse wachgehalten werden, die Frage der Entschädigungsleistungen sei allerdings »abgeschlossen«. Mehr als 800.000 Menschen fielen der Wehrmachtsblockade der russischen Metropole zwischen dem 8. September 1941 und dem 27. Januar 1944 zum Opfer, materiell entschädigt wurde bis auf die jüdischen Opfer dieser Blockade aber niemand. Als Begründung führt die Bundesregierung an: »Schädigungen, die nicht aus rassisch motivierter Verfolgung, sondern aus allgemeinen Kriegshandlungen herrühren, fallen unter das allgemeine Völkerrecht und werden nicht durch individuellen Schadenersatz (…) geregelt.« Mit einem knappen Satz wird somit der auch rassistisch motivierte Vernichtungskrieg der Wehrmacht in Osteuropa, dem auch die auf Vernichtung gerichtete Blockade Leningrads zuzurechnen ist, geleugnet.

Erinnerungspolitische Wende?
Wer also im Jahr 2017 noch davon spricht, Deutschland werde mit dem Verweis auf seine Geschichte klein gehalten und moralisch erpresst, weshalb es einer 180-Grad-Wende in der Erinnerungspolitik bedürfe, der hat die Realitäten in diesem Land nicht zur Kenntnis genommen, beziehungsweise führt einen rein ideologischen Diskurs, in dem es wenig um Fakten geht. Der völkische Flügel der AfD ist in diesem ideologischen Diskurs verfangen und befeuert die Spaltungstendenzen der Partei. Die geschichtspolitische Brandrede von Björn Höcke im Januar 2017, in der er mit Bezug auf das Holocaustmahnmal von einem »Denkmal der Schande« sprach und eine »erinnerungspolitische Wende um 180 Grad« forderte, hat die Gegensätze wie aber auch die strategischen Differenzen in der AfD noch einmal sichtbarer gemacht und war Ausgangspunkt für eine bis heute anhaltende Auseinandersetzung, die perspektivisch zur nächsten Spaltung der Partei führen könnte. Dass diese Auseinandersetzung am Umgang mit der NS-Vergangenheit festgemacht wird, ist kein Zufall, denn dieses Thema treibt die Neue Rechte, welcher der völkische Flügel der AfD zuzurechnen ist, seit ihrem Bestehen um. »Nation« und »Volk« müssen von der Erinnerung an diese Vergangenheit befreit werden, erst dann ist nach Überzeugung der rechten IdeologInnen eine nationale Politik in ihrem Sinne möglich. »Bis jetzt ist unsere Geistesverfassung, unser Gemütszustand immer noch der eines total besiegten Volkes«, so Höcke in Dresden. Vergleicht man diese Aussage mit den Realitäten deutscher Machtpolitik in Europa, mit den Einstellungsmustern in weiten Teilen der Bevölkerung und dem praktizierten Umgang mit der NS-Vergangenheit, dann stellt sich erneut die Frage, wo der völkische Teil der AfD hin will: ganz offensichtlich in eine Form der Herrenmenschenmentalität, wie sie den deutschen Weg in zwei Weltkriege geebnet hat. Eine ethnisch definierte Nation, Aufgabe der Westbindung, nationale Machtpolitik – für dieses Programm bedarf es tatsächlich der geforderten 180-Grad-Wende. Die Politikunfähigkeit dieses Teils der AfD zeigt sich daran, dass die Bundesrepublik alle materiellen Ziele, die mit einer solchen Politik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verbunden waren, auf anderem Weg und sicherer erreicht hat. Die ökonomisch hegemoniale Rolle geht seit 1990 auch mit einer immer stärkeren machtpolitischen Rolle einher.

NS-Erinnerung als Bruchpunkt?
Auch in der AfD zeigen sich dank Höcke die Bruchlinien zwischen völkischen IdeologInnen und Bürgerlich-Konservativen wieder deutlicher. Der verbale Umgang mit der NS-Vergangenheit ist dabei ein Gradmesser für die jeweilige Ausrichtung und ihre strategischen Optionen. Das Ergebnis des Kölner Parteitags ist der Versuch, diese Gegensätze bis zur Bundestagswahl einzugrenzen. Frauke Petry hatte erkannt, dass dieser Punkt für ihre »realpolitische« Strategie ein massives Hindernis sein kann und entsprechend versucht, das Thema per Beschluss abzuräumen, was misslang. In einem weiteren Antrag zum Parteitag wollte sie ein verbales Bekenntnis gegen Rassismus, Antisemitismus, völkische und nationalistische Ideologien verankern. Auch das misslang. In ihrem Antrag hieß es: »In der deutschen Erinnerungskultur hat die Zeit des Nationalsozialismus einen besonderen Platz, ohne dass damit eine Verengung in der Geschichtsbetrachtung einhergehen darf. Diese Geschichtsbetrachtung umfasst positive, identitätsstiftende Aspekte der deutschen Geschichte.« So könnte ein moderner und ideologisch entkernter Umgang mit dem Thema aussehen: Bekenntnisse ohne Auswirkungen und reale Verschiebung des Diskurses zur positiven Seite deutscher Geschichte. Damit wäre man sofort kompatibel mit einer Union, welche die Befreiung von der NS-Vergangenheit und den »aufrechten Gang« nicht mehr verbal fordert, sondern still umsetzt. Wer wissen will, wie die erinnerungspolitischen Realitäten in diesem Land tatsächlich aussehen, der sollte einen Blick nach Brandenburg werfen, wo im 72. Jahr nach dem Ende des Faschismus seit Monaten die Eröffnung eines der letzten Prozesse gegen einen Täter aus Auschwitz durch den zuständigen Richter verzögert wird. Die Nebenklagerechte von zwei überlebenden Zeugen werden in Frage gestellt und es wird alles getan, den Prozessbeginn zu verschleppen. Für diese Form der erinnerungspolitischen Realität bedurfte es nicht mal einer 180-Grad-Wende.