Abstand halten

von Volkmar Wölk
Antifa-Magazin »der rechte rand« Ausgabe 186 - September / Oktober 2020

#Verschwörungsgläubige

Antifa Magazin der rechte rand
Deutsche Bürger*innen vereint als verschwörungsgläubige Jünger*innen in Berlin am 29. August 2020. © Mark Mühlhaus / attenzione

1968 prägte Andy Warhol den Ausspruch: »In Zukunft wird jeder 15 Minuten berühmt sein.« Lange vor den »Reality«-Shows mit Prominenten, die niemand kennt und die um ihre 15 Minuten Ruhm zu bester Sendezeit kämpfen, die wiederum die lukrativen Werbeverträge bringen sollen, wies er auf die Flüchtigkeit des Ruhms hin.
Tamara Kirschbaum, die Heilpraktikerin mit den Dreadlocks, hat ihre fünfzehn Minuten Ruhm am 29. August in Berlin gehabt. Die Frau, deren Aussehen auf eine Vergangenheit in der Alternativszene deutet und deren Kind selbstverständlich zur Waldorfschule geht, war Teil des Protestes der »Corona-Rebellen«. Das brachte ihr dann die besagten »15 Minuten Ruhm«. Direkt vor dem Berliner Reichstag, bei einer der Veranstaltungen gegen die – so die Diktion der Demonstrierenden – »Corona-Diktatur«, rief sie vor wehenden Fahnen des Kaiserreiches und Flaggen Russlands wie auch der USA zum angekündigten »Sturm auf den Reichstag«.

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Tamara Kirschbaum war eine von bis zu 50.000 Demonstrierenden an jenem Tag, eigentlich durch Zufall an herausgehobener Stelle und im Rampenlicht. Handelte es sich bei der Menge, deren Sprachrohr sie plötzlich geworden war, um »unterschiedliche oder gar gegensätzliche Spektren«, so ein Teil der Medien, um »eine [gefährliche] Querfront«, so ein anderer Teil der Medien, um eine »heterogene extreme Rechte«, wie ein Vorschlag aus der Linken lautet, oder gar um die Verkörperung der »Mosaikrechten«, die sich der neu-rechte Journalist Benedikt Kaiser herbeiwünscht? Der ehemalige Bundesinnenminister Gerhard Baum, einer der wenigen verbliebenen Liberalen, zog sein Resümee in einem Gastbeitrag im »Tagesspiegel«: »Wer von den Ereignissen um und vor dem Reichstag überrascht ist, der hat nicht wahrgenommen, wie stark sich Rechtsextremismus und Angriffe gegen unser ‹System›, also die Demokratie entwickelt haben. Was wir da sahen, war nur die Spitze des Eisberges.«
Und auf der Spitze des Eisberges stand Tamara Kirschbaum. Übersetzen wir uns ihre Interviewäußerungen. Eingangs vereinigt sie die Versammelten mittels zweier mächtiger Fahnenwörter: »Frieden« und »Freiheit«. Diese seien das gemeinsame Ziel gewesen. Beide werden im allgemeinen Verständnis als so wichtig angesehen, dass ihre Erlangung oder ihr Erhalt auch Regelverletzungen und ansonsten als kriminell angesehene Handlungen rechtfertigen. Beide Begriffe sind von ihrem Bedeutungsinhalt her »leer«, das heißt, dass jede*r sie beliebig mit dem persönlichen Inhalt füllen kann, alle Beteiligten aber zugleich davon ausgehen, dass die anderen das Gleiche darunter verstehen. Kirschbaum verstärkt diesen Einheitsdiskurs durch die Beteuerung, es gehe dabei nicht um »links« oder »rechts«, die ohnehin irrelevant seien. Die abgelehnte Dichotomie sei erzeugt durch die Regierung, also durch jene Kräfte, gegen die gekämpft wird. Damit ist das gemeinsame Feindbild benannt. Diese Regierung und ihre Organe seien illegitim. Die Legitimität liege beim Souverän, dem Volk. Jede Form von Widerstand gegen die illegitime Macht ist folglich legitim. Das ist nichts anderes als ein Bürgerkriegsdiskurs, der von Hass getragen bei jeder Gelegenheit herausgebrüllt wird.


Jene minoritäre politische Bewegung ist bei Strafe des Scheiterns und der Bedeutungslosigkeit dazu gezwungen, Anschlussfähigkeit in andere politische Spektren zu finden, die nicht gleichermaßen der gesellschaftlichen Ausgrenzung unterliegen. Die Anschlussgewinnung gelingt umso besser, je stärker die Fahnenwörter sind, hinter der man die zu Einigenden zu scharen versucht. »Frieden« und »Freiheit« sind genau solche Wörter. Dieser Anschluss ist gelungen. Voll und ganz.
Neu ist das alles nicht. Als zu Beginn der 1980er Jahre, während der großen Friedensbewegung gegen die Stationierung der Pershing-II-Raketen, von Linken die Zusammenarbeit mit Nationalisten wie Alfred Mechtersheimer kritisiert wurde, kam sofort der Widerspruch vom orthodoxen Parteikommunismus: Gattungsfragen seien wichtiger als die Unterscheidung von links und rechts, von der Atomkriegsgefahr seien alle Menschen betroffen. Theoretisch wurde dies unterfüttert durch die These von »Chancen für einen friedensfähigen Kapitalismus«. Folglich wurde auch nicht problematisiert, dass zu der Demonstration im Bonner Hofgarten auch rund ein Dutzend Gruppen der extremen Rechten aufrief.
Was tun? Den allgemeinen Hygieneregeln folgen! Also zuerst: Abstand halten. Punkt. Die Mitwirkung an entsprechenden Aktionen verbietet sich. Der Versuch der Einwirkung auf Akteur*innen ist sinnlos. Und dann: Eigenschutz und Fremdschutz. Kontakt ja, Kooperation nein. Die Mund-Nasen-Schutzmaske des politischen Diskurses ist das Gespräch mit jenen, die verunsichert sind, nach Wahrheiten suchen. Zuletzt Geduld. Manche müssen immer wieder aufgefordert werden, die Maske aufzusetzen. Einige werden es trotzdem nicht tun. Manche werden unermüdlich immer neue Verschwörungsmythen erzählen. Zum Schutz der anderen muss immer wieder nach Beweisen gefragt werden. Und dann wieder Abstand halten.