Erinnern und Verdrängen
von Igor Netz
Magazin »der rechte rand« Ausgabe 177 - März / April 2019
#Tschechien
Am Ort der heutigen Gedenkstätte »Hodonín u Kunštátu«, gut 70 Straßenkilometer von der zweitgrößten tschechischen Stadt Brno entfernt und kurz vor der Grenze zur Slowakei gelegen, befand sich zwischen 1939 und 1950 das Lager Hodonín mit seiner wechselvollen Geschichte. Zwischen 1942 und 1943 diente dieser Ort als »Zigeunerlager« im Rahmen der deutschen Besatzungsherrschaft.
Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges lebten auf dem Gebiet des »Protektorats Böhmen und Mähren« 6.500 Rom*nja. Von ihnen überlebten nur knapp zehn Prozent den Völkermord. Ab August 1942 fungierten die beiden seit zwei Jahren bestehenden Zwangslager in Lety u Písku und Hodonín als »Zigeunerlager«. Diese waren anfangs als Arbeitslager für »Arbeitsscheue« gedacht, in denen Rom*nja anfangs zwischen zehn und zwölf Prozent der Inhaftierten ausmachten.
In Hodonín waren insgesamt 1.317 und in Lety u Pisku 1.308 Rom*nja inhaftiert. Auf der Grundlage der Verordnung zur »Bekämpfung der Zigeunerplage« vom 10. Juli 1942 wurden die tschechischen Rom*nja ab dem 2. August 1942 erkennungsdienstlich erfasst. Die Verordnung von 1942 bildet, dem Historiker Michael Zimmermann zufolge, »den Übergang von einer Zigeunerpolitik, die sich als Teilbereich einer rassenhygienisch motivierten Bekämpfung der ‹Asozialen› verstand, zu einer Verfolgung sui generis, die derjenigen des Reiches entsprechen und der dortigen rassistischen Klassifikation angepasst werden sollte«. Diese rassistische Klassifikation galt jedoch bereits spätestens mit dem von Dr. Hans Globke, dem späteren Kanzleramtschef von Konrad Adenauer, und SS-Obergruppenführer Wilhelm Stuckart verfassten Kommentar zu den Nürnberger Rassegesetzen. In dem »Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre«, dem »Reichsbürgergesetz« und dem »Reichsflaggengesetz« vom 15. September 1935 wurden Sinti*ze und Rom*nja nicht ausdrücklich erwähnt. Vor allem das »Blutschutzgesetz« richtet sich ausdrücklich gegen Jüdinnen und Juden. Dass Sinti*ze und Rom*nja jedoch nach der NS-Ideologie keine »Staatsbürger deutschen oder artverwandten Blutes« sind, wie es im Reichsbürgergesetz formuliert wird, präzisiert der Kommentar von Globke und Stuckart: »Artfremdes Blut ist alles Blut, das nicht deutsches Blut noch dem deutschen Blut verwandt ist. Artfremden Blutes sind in Europa regelmäßig nur die Juden und Zigeuner.«
In den Jahren 1942/43 wurden zahlreiche Rom*nja aus den beiden »Zigeunerlagern« nach Auschwitz deportiert. Der erste Transport aus Hodonín fand am 7. Dezember 1942 statt. Es folgte der »Auschwitzerlass« von Heinrich Himmler vom 16. Dezember 1942, nach dem die »Einweisung« von Sinti*ze und Rom*nja »ohne Rücksicht auf den Mischlingsgrad familienweise in das Konzentrationslager (Zigeunerlager) Auschwitz« zu erfolgen hatte. Die letzte Verschleppung von Rom*nja aus Hodonín in das Vernichtungslager ist auf den 21. August 1943 datiert. Daher finden die jährlichen Erinnerungsfeierlichkeiten in Hodonín um dieses Datum herum statt.
Auf Bestehendem aufgebaut
Die Verfolgung und Ermordung der tschechischen Rom*nja durch die Nationalsozialisten traf auf eine Gesellschaft, in der diese bereits durch staatliche Gesetze und Maßnahmen diskriminiert wurden. Einen wesentlichen Rahmen hierfür bildete das tschechoslowakische Gesetz Nr. 117/27 vom 15. Juli 1927. Auf seiner Grundlage wurden »Zigeuner« oder Menschen, die »wie »Zigeuner leben« kriminaltechnisch mit ihren Daten und Fingerabdrücken erfasst. Die tschechoslowakische Gesetzgebung orientierte sich unter anderem an dem äußerst repressiven bayerischen »Gesetz zur Bekämpfung von Zigeunern, Landfahrern und Arbeitsscheuen« von 1926. Initiiert wurde das Gesetz von Rudolf Beran, einem Abgeordneten der tschechoslowakischen »Agrarpartei«. Nach dem Münchner Abkommen wurde Beran tschechoslowakischer Ministerpräsident eines bereits autoritären Staates. In dieser Funktion blieb er bis in den April 1939. Eine weitere Besonderheit besteht darin, dass die Kommandanten und das Wachpersonal der »Zigeunerlager« Hodonín und Lety u Pisku Tschechen waren. Der Kommandant in Hodonín war seit 1940 Stefan Blahynka, sein Stellvertreter war Jan Sokl. Sie führten ein hartes und grausames Regime. Die Rom*nja mussten in den Lagern Zwangsarbeit unter härtesten Bedingungen und miserablen sanitären Verhältnissen verrichten. Bereits dabei starben Hunderte an Auszehrung und Erschöpfung. Wie andere Orte nationalsozialistischen Terrors erfuhr auch Hodoín eine Nachnutzung, die nicht nur von heute aus problematisch anmutet. So wurden hier 1945/46 Sudetendeutsche interniert und 1949/50 diente das Lager zur »Umerziehung« von RegimegegnerInnen. Später entstand am Ort des Lagers ein Ferien- und Freizeitcamp.
Assimilation und Antiziganismus
Zwar findet alljährlich auf dem ehemaligen Lagergelände nahe der Stadt Hodonín eine Gedenkzeremonie für die von hier zur Vernichtung nach Auschwitz deportierten Rom*nja statt. Insgesamt jedoch ist die Erinnerung an die ermordeten Rom*nja in der tschechischen Gesellschaft, nicht anders als in anderen europäischen Ländern, bis heute randständig. Der schwedische Historiker Tomas Sniegon vertritt die These, die tschechische Reaktion angesichts des Völkermords an der Minderheit habe in einer Leugnung der Verfolgung von Sinti*ze und Rom*nja während des Zweiten Weltkriegs bestanden und tue dies immer noch. Diese Leugnung war zugleich ein Bestandteil der Verteidigung gegen die Anklage der tschechischen Beteiligung am Völkermord an der Minderheit.
Eine Erinnerung an den Völkermord war in der Nachkriegszeit kaum vorhanden. Noch weniger spielten die tschechischen Verstrickungen und die Mittäterschaft in den »Zigeunerlagern« eine Rolle. Vielmehr wirkten die antiziganistischen Ressentiments fort. Vor dem Hintergrund der universalistischen antifaschistischen Narrative blieb die Erinnerung an die deutsche Vernichtungspolitik gegen Jüdinnen und Juden, und in noch stärkerem Maß an die Ermordung der Sinti*ze und Rom*nja, in der staatssozialistischen ?SSR marginal. In der stalinistischen, beziehungsweise vom Stalinismus geprägten ?SR/?SSR standen Rom*nja unter einem hohen staatlichen Assimilationsdruck, der darauf ausgerichtet war, deren Eigenständigkeit zu zerstören. So wurde den Rom*nja 1958 die fahrende Lebensweise per Gesetz verboten. Gleichzeitig existierten speziell auf Rom*nja gerichtete Sozialprogramme, weil die Minderheit als sozial schwache Gruppe ausgemacht wurde, die der staatlichen Hilfe bedürfe. Eine ambivalente Situation für die Rom*nja.
Wie in anderen gesellschaftlichen Bereichen brachte der »Prager Frühling« positive Veränderungen auch für die Rom*nja mit sich. Es war 1969 das erste Mal möglich, einen eigenen Verband in Brno unter dem Namen »Verband der Zigeuner-Roma« zu gründen, der vielfältige soziale und kulturelle Aktivitäten entfaltete. Im Jahr 1973 wurde der Verband allerdings bereits wieder aufgelöst – ein Symptom der Erstarrung der tschechischen Gesellschaft nach der Niederschlagung des »Prager Frühlings« durch sowjetische Truppen im August 1968.
Die Situation hat sich in den Jahren nach 1990 nicht gebessert und bis heute gibt es immer wieder Ausbrüche eines gewalttätigen Antiziganismus. So wurde in der tschechischen Stadt Klatovy im Februar 1991 ein von Rom*nja bewohntes Haus mehrere Tage lang angegriffen. Dabei wurden mehrere BewohnerInnen verletzt und der 21-jährige Emil Bendík zu Tode geschlagen. Allein im Jahr 1993 starben fünf Menschen durch rassistisch motivierte Gewalt. 2009 wurden durch einen Brandanschlag in Vítkov wiederum auf ein Haus, in dem Rom*nja lebten, drei Menschen verletzt. Darunter ein dreijähriges Mädchen, das schwerste Verbrennungen erlitt. Einen anderen traurigen Höhepunkt bildet das Jahr 2013, in dem mehrere pogromartige Überfälle auf Häuser und Wohnviertel von Rom*nja stattfanden.
Doch von Seiten der tschechischen Rom*nja gibt es zunehmend Gegenwehr, wie etwa durch die 2009 im nordböhmischen Ústí nad Labem von den beiden Aktivisten Miroslav Brož und Jozef Míker gegründete Rom*nja-Selbstorganisation »Konexe«, die in der Vergangenheit Mobilisierungen gegen Neonaziaufmärsche initiierte oder sich an ihnen beteiligte. Gegen den Vorsitzenden der rechten Partei »Svoboda a p?ímá demokracie« (»Freiheit und direkte Demokratie«, SPD), Tomio Okamura, erstattete Konexe im vergangenen Jahr Anzeige. Im Rahmen eines Interviews im Januar hatte Okamura behauptet, das »Zigeunerlager« in Lety u Piksu sei nicht umzäunt gewesen, die Internierten hätten sich dort frei bewegen können. Für Miroslav Brož von Konexe eine klare Relativierung des Völkermordes. Auch wenn sich Okurama im Nachhinein für seine Äußerung entschuldigte, haben antiziganistische Völkermordrelativierungen Konjunktur. Zudem sind derartige geschichtsrevisionistische Ausfälle bei Okamura kein Einzelfall. Bereits 2014 hatte er sich ähnlich geäußert. Auch sein Parteikollege Miloslav Rozner hatte bei einem nicht-öffentlichen Parteitag der SPD über Lety u Piksu als ein »nicht existentes Pseudo-Konzentrationslager« gesprochen.
Die Erinnerung und die Frage der Aufarbeitung des tschechischen Anteils am Völkermord sind bis heute brisant. Ein wichtiger Meilenstein dafür, dass eine Auseinandersetzung in Tschechien begonnen hat, ist dem amerikanischen Hobbyhistoriker Paul Polansky zu verdanken, der den tschechischen Staat der Vertuschung der Rom*nja-Vernichtung beschuldigte. Erst 2001 erhielten Rom*nja Entschädigungen, die in Tschechien bereits an jüdische Überlebende gezahlt wurden. Auf dem Gelände des ehemaligen Lagers Lety u Piksu befindet sich seit den 1970er Jahren eine Schweinemastanlage. Erst im vergangenen Jahr kaufte der tschechische Staat die Anlage auf, um auf dem Gelände eine Gedenkstätte zu errichten. Die Äußerung von Okamura steht in diesem Zusammenhang. Ohne die beharrliche Erinnerungsarbeit von Rom*nja, gemeinsam mit tschechischen und deutschen AktivistInnen, wäre wohl keine Änderung der Situation in greifbarer Nähe. Auch in Hodonín wird derzeit eine Gedenkstätte errichtet, die, wie auch in Lety u Piksu geplant, durch das »Muzeum romské kultury« (»Museum für Roma-Kultur«) in Brno getragen wird, das sich ebenfalls seit vielen Jahren für die Erinnerung an den Völkermord engagiert. Durch Einbeziehung des Museums ist eine grundlegende Vermittlungsarbeit gewährleistet. Eine tiefgreifende Auseinandersetzung der tschechischen Gesellschaft über Mittäterschaft, Kollaboration und den eigenen Antiziganismus steht bisher allerdings immer noch am Anfang.