Nicht so schlimm und doch eine Katastrophe

von Anna Berg
Magazin »der rechte rand« Ausgabe 175 - November / Dezember 2018

#Schweden

Einerseits nicht so schlimm wie erwartet, andererseits eine Katastrophe, die endgültig das Ende der Nachkriegszeit markiert – ungefähr so stellt sich das Ergebnis der Parlamentswahl vom September 2018 dar. Die Regierungsbildung ist noch immer nicht abgeschlossen, vermutlich wird das Budget für das kommende Jahr von einer Übergangsregierung verabschiedet werden, die keinerlei politisch kontroverse Entscheidungen fällen darf. Was das genau bedeutet, ist ebenso unerprobtes Terrain wie die notwendige Aufgabe der Blockpolitik. Denn erstmals seit 1945 stellt weder der sozialdemokratisch-grüne noch der konservativ-liberale Block eine Mehrheit oder auch nur eine stabile Minderheit. Eine Öffnung hin zu einer Duldung durch oder offene Zusammenarbeit mit den rechtspopulistischen »Sverigedemokraterna« (SD) scheint in dieser Legislaturperiode noch ausgeschlossen. Dennoch – 17,5 Prozent der Stimmen für die Rechtspopulisten und gleichzeitig eine starke Zunahme extrem rechter Straßenaktivitäten verändern die politische Lage im Land grundlegend.

Magazin der rechte rand
Jimmie Åkesson © wikimedia / Poltikerveckan Almedalen Schweden

Dass die 17,5 Prozent am Ende bei den einen eher Erleichterung, bei den anderen eher Katerstimmung auslösten, lag einerseits an den Feinheiten der Arbeitsweise der demoskopischen Institute in Schweden, andererseits an den Ankündigungen der Partei selbst – im Juni hatte der Parteivorsitzende Jimmie Åkesson noch vollmundig verkündet: »Jetzt gehen wir auf den Wahlsieg zu!« Noch nie hatten die Prognosen der unterschiedlichen Meinungsforschungsinstitute so weit auseinander gelegen – zwischen 16 und 26 Prozent der Stimmen wurden für die SD vorausgesagt. Seit die SD in den Umfragen eine relevante Größe ausmachen, hatte es die Institute umgetrieben, dass die tatsächlichen Wahlergebnisse gerade in Bezug auf die Rechtspopulisten so weit von den Prognosen abwichen, und seit 2014 wurden deshalb verschiedene Veränderungen in der statistischen Grundlage für die Umfragen probiert. Einige Institute veränderten ihre Verfahren zu sogenannten »self registration panels« – ermunterten also Personen, sich aktiv für die Umfragen online zu registrieren. Die Hoffnung dabei war, dass der »Schamfaktor« bei der Angabe rechter Wahlpläne ausgeglichen werden würde – am Ende zu gut, wie sich zeigte, denn es waren vor allem die Institute mit den »self registration panels«, die besonders hohe Ergebnisse für SD vorausgesagt hatten. Die übrigen Institute haben es dagegen offenbar geschafft, die traditionell um einiges zu niedrigen Werte für rechtspopulistische Parteien durch Anpassen ihrer Panels aufzufangen, sie lagen mit 16 bis 18 Prozent in den letzten Wochen vor der Wahl recht nahe am faktischen Ergebnis.

Erfolg oder Misserfolg?
Erfolg oder Misserfolg ist also eine Frage der Perspektive – in jedem Fall war der Wahlkampf für SD ein ebenso großer Erfolg wie die vorhergehende Legislaturperiode, in der beide Blöcke sich intensiv mit zentral von SD gesetzten Themen befassten und gleichzeitig geradezu ritualisiert den cordon sanitaire aufrechtzuerhalten suchten, also in keiner Abstimmung die direkte Unterstützung von SD forderten. Die Schließung der Grenzen und Senkung des Asylstandards für Anerkennung, Aufenthaltsdauer und Familiennachzug bereits 2015 durch die rot-grüne Minderheitsregierung führte dazu, dass Migration und Asylpolitik an sich kaum mehr auf der Tagesordnung standen. Stattdessen dominierten zwei etwas bizarr anmutende Themen: »Das Bild von Schweden« und »Schwedische Identität«. Beide sind in einem Land, in dem traditionell ökonomische Fragestellungen die Politik dominieren und Wahlen entscheiden, höchst ungewöhnlich. Beide folgen Setzungen der internationalen extremen Rechten, in deren Interesse es liegt, liberale globalisierte Gesellschaften als gescheitert und dysfunktional hinzustellen. Schweden spielt mittlerweile in diesem Narrativ der »Alt-Right« eine herausragende Rolle als verlorenes Paradies, und auch im Lande selbst stellten sich viele die Frage, ob man eigentlich noch ganz okay sei oder bereits am Rande des Abgrunds stehe. Für Letzteres werden als Beleg vor allem die extrem segregierten Vororte der drei Großstädte Stockholm, Göteborg und Malmö herangezogen, die tatsächlich stark geprägt sind von Gangkriminalität, Schusswaffen, Attentaten und sozialer Misere. Neben dieser Problematik, in der unter anderem wohnungspolitische Versäumnisse der letzten Jahrzehnte zugespitzt sind, sind es Kernbereiche des Wohlfahrtsstaates, die schon seit der Finanzkrise der 1990er Jahre und den folgenden Privatisierungen nicht mehr funktionieren: Gesundheitswesen, Bildungswesen, soziale Gerechtigkeit.

Ebenfalls von der Rechten gesetzt ist das Thema der Identität, wobei die SD angesichts der Regelungen zum Erwerb der Staatsbürgerschaft (fünf Jahre Aufenthaltsstatus und Steuern zahlen) eine bestehende liberale Realität zurückdrehen wollen. SD sehen hierfür eine starke Kopplung von Staatsangehörigkeit und nationaler Identität vor – um erstere zu bekommen, soll letztere durch eine Art Loyalitätserklärung mit schwedischen Werten sowie den Rechten und Pflichten schwedischer BürgerInnen abgeprüft werden. An der Staatsbürgerschaft soll dann auch – im Gegensatz zu geltendem EU-Recht – das ausschließliche Wahlrecht hängen. Soweit das Parteiprogramm – einzelne Abgeordnete gehen jedoch öffentlich gerne noch weiter und deuten auch einen eingeschränkten Zugang zu den Sozial- und Gesundheitssystemen für Nicht-Staatsangehörige an, und dazu sollen dann auch Mitglieder der nationalen Minderheiten gehören (Jüdinnen und Juden, Sinti und Roma, Samen).

Wie die meisten rechtspopulistischen Parteien haben auch die SD ein ambivalentes Verhältnis zur extrem rechten Bewegung auf der Straße, aus der sie historisch kommen. In den ersten Jahren der Wahlerfolge der SD war ein deutlicher Rückgang extrem rechter Aktivitäten zu beobachten – mittlerweile ist das Gegenteil der Fall. Zwar erlitten alle Parteien der extremen Rechten, die ebenfalls zur Parlamentswahl angetreten waren, krachende Niederlagen, aber in den letzten drei Jahren ist dennoch offensichtlich geworden, dass es eine wachsende Personengruppe gibt, die SD zu bürgerlich findet und eine radikalere Alternative präsentieren will. Dazu gehört die Neugründung »Alternativ för Sverige«, die vor allem aus Ex-SD-Mitgliedern besteht, die entweder wegen persönlicher Kontroversen oder wegen der propagierten Nulltoleranzlinie gegen Rassismus und Extremismus von der Parteiführung geschasst wurden. Besonders sichtbar ist aber die Gruppe »Nordiska Motståndsrörelsen« (»Nordische Widerstandsbewegung«, NMR), die seit Anfang der 1990er Jahre in unterschiedlichen Konstellationen aktiv ist. NMR propagiert offen nationalsozialistische Positionen und pflegt eine entsprechende Ästhetik, mit Runenschildern und schwarz-weißen Uniformen. Die Gruppe ist nachweislich für diverse gewalttätige Anschläge verantwortlich: den Angriff auf eine antirassistische Kundgebung in Stockholm im Winter 2016, Sprengstoffattentate gegen ein syndikalistisches Jugendcafé und eine Geflüchtetenunterkunft in Göteborg, eine Reihe von Übergriffen gegen BesucherInnen der Almedalsveckan, einer parteipolitischen Großveranstaltung auf Gotland. Besonders berühmt wurden NMR aber durch ihre Demonstration zur Unterstützung der extrem rechten Zeitschrift »Nya Tider«, deren Teilnahme an der Buchmesse in Göteborg im Herbst 2017 eine für schwedische Verhältnisse heftige Debatte über die Grenzen der Meinungsfreiheit ausgelöst hatte. »Nya Tider« betreiben unter anderem sogenannten »Mitbürgerjournalismus«, eine Praktik, bei der JournalistInnen von NMR-AktivistInnen in ihren Privatwohnungen aufgesucht und gefilmt werden. Die Aufnahmen werden dann zusammengeschnitten und auf YouTube veröffentlicht. Angeblich geht es meist um das Verschweigen von migrationspolitischen Fakten, das die »MitbürgerjournalistInnen« so anprangern wollen – faktisch geht es um Einschüchterung und Bedrohung. Bei der Demonstration trugen NMR-AktivistInnen unter anderem Schilder mit den Fotos bekannter Personen und Unterschriften wie »Volksverräter«, einige der Abgebildeten sind jüdisch. Der Aufmarsch fiel wohl eher unbeabsichtigt zudem auf den jüdischen Feiertag Yom Kippur – dass die ursprüngliche Route an der Synagoge in der Göteborger Innenstadt vorbeiführen sollte, war dagegen wohl kein Zufall. Mittlerweile, ein Jahr später, sind 16 Personen in Folge dieser Demonstration wegen Volksverhetzung und verschiedener Gewaltdelikte angeklagt worden.

Jimmie Åkesson hat 2017 vorgeschlagen, NMR als terroristische Vereinigung zu klassifizieren, was angesichts der Unmöglichkeit von Organisationsverboten immerhin eine Möglichkeit wäre, NMRs öffentliche Aktivitäten einzuschränken. Trotz der gegenseitigen Angriffe zwischen SD und dem extrem rechten Lager und trotz des vollständigen parlamentarischen Scheiterns des letzteren müssen die zunehmende Sichtbarkeit und Gewalttätigkeit der extremen Rechten und der parlamentarische Erfolg von SD im Zusammenhang gesehen werden. Offener Antisemitismus ist nur ein Aspekt, den beide gemeinsam haben – die dystopische Weltsicht, Multikulturalismus und Linksliberalismus als Feindbilder und eine erzkonservative Sicht auf Geschlechterrollen und Familienkonzepte sind weitere, ungeachtet sachpolitischer Streitfragen. Angesichts der ideologischen Gemeinsamkeiten ist offensichtlich, dass sich die Erfolge der beiden Lager in unterschiedlichen Bereichen gegenseitig verstärken – und dass weder Zivilgesellschaft noch Politik für diese Auseinandersetzung gerüstet sind.

Entsprechend ist die Frage, ob der liberal-konservative Block doch noch einknickt und SD zur parlamentarischen Zusammenarbeit einlädt, oder ob der cordon sanitaire für eine weitere Legislaturperiode hält, oder ob die trotz allem noch relativ starke Sozialdemokratie eine weitere Minderheitsregierung mit wechselnder Unterstützung stemmen kann, nicht allein entscheidend. Der Rechtsruck und das Bedrohungspotential der extremen und populistischen Rechten in Schweden sind bereits fest verankert im politischen Alltag in Schweden. Und vor allem bedeutet die parlamentarische Ausgrenzung durch die etablierten Parteien der beiden Blöcke noch lange nicht, dass die von den SD gesetzten Themen und ihre Politik nicht dennoch den politischen Alltag bestimmen. Der Wechsel von der Sach- zur Identitätspolitik ist jedenfalls bereits deutlich zu sehen.