Chronik des NSU – XII

von Annelies Senf

Magazin "der rechte rand" - Ausgabe 155 - Juli / August 2015

12. Januar – 4. Februar 2015: Der NSU-Prozess in München beschäftigt sich mit dem Nagelbomben-Anschlag in der Keupstraße am 9. Juni 2004, bei dem mehr als 20 Menschen, zum Teil schwer, verletzt wurden. Opfer kommen zu Wort. Beate Zschäpes VerteidigerInnen beantragen, einer Nebenklägerin aus der Keupstraße und ihrem Anwalt die Zulassung zum Verfahren zu entziehen. Der Antrag wird abgelehnt.

28. Januar: Ein Arbeitskollege bestätigt vor dem Münchner Oberlandesgericht die Distanzierung Carsten Schultzes von der Neonaziszene. Schultze zog 2003 von Jena ins Rheinland, wo er in Düsseldorf bis zu seiner Verhaftung 2012 in der AIDS-Hilfe tätig war. Er ist einer der fünf Angeklagten, da er die Waffe, mit der Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt neun Menschen erschossen, besorgt haben soll. Heute steht er unter dem Zeugenschutzprogramm des Bundeskriminalamtes (BKA).

2. Februar: In einer Sondersitzung beschäftigt sich der Innenausschuss des Bundestages in einer nicht öffentlichen Sondersitzung mit den Ermittlungen zum Tod des V-Mannes Thomas Richter alias »Corelli«.
Der Justizminister Nordrhein-Westfalens, Thomas Kutschaty (SPD), verweigert dem Innenausschuss die Freigabe der medizinischen Gutachten. Der Sonderermittler des Bundestages, Jerzy Montag, erhielt die Akten und soll den Mitgliedern des Parlamentarischen Kontrollgremiums einen Bericht vorlegen.

3. Februar: Zwei weitere Neonazis der »88er«, die verbunden sind mit dem Netzwerk »Blood & Honour« in Chemnitz, sagen im NSU-Prozess aus. Die Verteidigung Ralf Wohllebens lud sie vor. Ihre Aussagen sollen zeigen, dass es in den 1990er Jahren ein Leichtes war, sich mit Waffen zu versorgen. Mit dieser Beweisführung wollen die VerteidigerInnen Wohlleben entlasten. Infolgedessen werden weitere (ehemalige) Neonazis befragt.

9. Februar: Innenstaatssekretär Günter Krings bestätigt in der Antwort auf eine Kleine Anfrage der Linken-Bundestagsfraktion, dass durch zielgerichtete Suche in den Aktenbeständen des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) die Originale von 171 Deckblattmeldungen des V-Mannes »Tarif« gefunden wurden. Diese Akten galten bisher als vernichtet. Sie gehörten wohl nicht zu den Führungsakten, die wenig später nach dem Tod von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt im BfV vernichtet wurden. In den Unterlagen sind Informationen aus der Zeit zwischen Januar 1995 und April 2001 über die rechte Szene und möglicherweise auch über den NSU und dessen UnterstützerInnen. Bisher verweigerte das BfV den Ermittlungsbehörden und dem NSU-Untersuchungsausschuss (UA) des Bundestages die Akten.

19. Februar: Der NSU-UA Hessen tagt das erste Mal öffentlich. Aufgabe des UA ist es, mögliche Pannen nach dem Mord an dem Kasseler Internetcafé-Betreiber Halit Yozgat im April 2006 aufzuarbeiten. Nach wie vor sind die Rolle des Verfassungsschützers Andreas Temme beim Mord und die Mitwisserschaft des Verfassungsschutzes unklar.
Der NSU-UA fordert Akten zu Florian Heilig an. Dieser verbrannte 2013 in seinem Auto.

23. Februar: Die »tageszeitung« veröffentlicht, dass den NebenklagevertreterInnen in ihrer Akteneinsicht aufgefallen war, dass die polizeilichen Protokolle der Telefonüberwachung Andreas Temmes unvollständig sind. In einem Gespräch vier Wochen nach dem Mord an Halit Yozgat informiert ein Kollege des Verfassungsschutzes Temme über eine vorgesehene Vernehmung durch die Polizei.

26. Februar: Die ehemaligen »Blood & Honour«- Aktivisten Gunter Fiedler und Jörg Winter sagen vor dem Oberlandesgericht München aus. Fiedler soll Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe 1998 beim Untertauchen geholfen haben. Gemeinsam mit seinem Bruder verschaffte er ihnen eine Unterkunft und lieh seine Identität für einen Reisepass.
Winter soll das TNT besorgt haben, das 1998 bei der Razzia in einer Garage in Jena gefunden wurde.

5. März: Hendrik Lasch, Betreiber des Streetwear-Geschäfts »Backstreet Noise« und Gründer des RechtsRock-Labels »PC Records« sagt im NSU-Prozess aus. Er hatte 1998/1999 Kontakt zu Uwe Mundlos. Seiner Aussage nach habe er Mundlos gebeten, einen T-Shirt-Aufdruck zu bearbeiten. Die Darstellung zeigt die Trickfilmfigur Bart Simpson mit Springerstiefeln unter einem Kapuzenumhang, mit der Aufschrift »Skinsons«. Lasch distanziert sich von dem »Döner-Killer«-Lied der RechtsRock-Band »Gigi und die braunen Stadtmusikanten« im Jahr 2010. Zu dieser Zeit habe er keinen Kontakt mehr zum NSU gehabt und das Label habe seit 2003 in der Hand seines Geschäftspartners gelegen.

5. März: Der NSU-UA Hessen soll die Abhördateien der Telefonate Andreas Temmes mit einem Kollegen erhalten.

5. März: Die hr-Sendung »Hessenschau« deckt auf, dass Benjamin Gärtner – V-Mann »Gemüse« – Polizeischutz erhält. Die Rolle Gärtners, dessen Verbindungsmann beim Verfassungsschutz Temme war, ist bis heute unklar. Während des NSU-Mordes in Kassel hielt er sich am Tatort auf, ebenso soll er auch in Nürnberg und München gewesen sein als der NSU türkische Kleinhändler ermordete.

20. März: Die »Thüringer Allgemeine« berichtet, dass die thüringische Landesregierung die Mehrzahl ihrer V-Leute abschaltet.

24. März: Die Vorsitzende des NSU-UA NRW tritt zurück. Sie vertrat 1999 den Dortmunder Neonazi Michael Berger als Anwältin. Berger tötete am 14. Juni 2000 drei Polizisten und nahm sich anschließend das Leben.

22. April: Der zweite NSU-UA in Thüringen konstituiert sich. Untersuchen soll er die Ereignisse am 4. November 2011, dem Tag des Auffindens des Leichnams von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt. Außerdem will der NSU-UA der Rolle des Thüringer LKA und möglichen Verbindungen des NSU zu Neonazis und dem organisierten Verbrechen nachgehen.

22. April: Gordian Meyer-Plath, Chef des Verfassungsschutzes in Sachsen, sagt vor dem NSU-Prozess in München aus. 1994 tat er Carsten Szczepanski als V-Mann »Piato« für das Landesamt Brandenburg auf. Er bestätigte, dass Szczepanski zwischen August und Oktober 1998 über drei untergetauchte »sächsische Skinheads« berichtet habe. Die Informationen des V-Mannes seien an den Verfassungsschutz Sachsen, Verfassungsschutz Thüringen und an das Bundesamt für Verfassungsschutz weitergegeben worden.

29. April: Das Oberlandesgericht München ordnet Ralf Wohlleben einen dritten Pflichtverteidiger bei. Es handelt sich um den Berliner Rechtsanwalt Wolfram Nahrath (NPD). Er vertrat in der Vergangenheit gelegentlich einen der beiden bisherigen Wohlleben-Anwälte.

12. Mai: Im NSU-Prozess wird der mutmaßliche erste Raubüberfall des NSU verhandelt. Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt erbeuteten am 18. Dezember 1998 in einer Edeka-Filiale in Chemnitz 30.000 D-Mark. Es wird bekannt, dass die Akten zu dem Raub von den sächsischen Behörden geschreddert wurden.

13. Mai: Der zweite NSU-UA Sachsen konstituiert sich. Untersucht werden soll, ob sächsische Behörden eine Mitverantwortung an der Entstehung und Entwicklung des NSU tragen.

20. Mai: Wie die »Süddeutsche Zeitung« schreibt, liegt dem Parlamentarischen Kontrollgremium des Bundestags nun der 300-seitige Bericht über den V-Mann »Corelli« vor. Sonderermittler Jerzy Montag vermerkt darin, dass die Auswertung der DVD mit Bezug zum NSU, die dem BfV seit Jahren vorlag »grob regelwidrig« gewesen sei und »(…) schlicht unterlassen worden (ist).«. Gefunden wurde der Datenträger letztlich von den Beamten des Bundeskriminalamts.
»Corelli«, alias Thomas Richter, war von 1994 bis 2014 mit einer zweijährigen Unterbrechung V-Mann des Bundesamtes für Verfassungsschutz und galt als eine der Top-Quellen.

22. Mai: Der NSU-UA Thüringen versucht die strittige Identität des V-Mannes »Hagel« zu klären. Teile der Akte zur Quelle »2100« liegen dem UA vor. Marcel Degner, Zeuge im Münchner NSU-Prozess, bestreitet vehement, dass er dieser V-Mann gewesen sei. Degner, der aus Gera stammt, war bis zum Verbot im Jahr 2000 Schatzmeister des Netzwerkes »Blood & Honour« und in der Szene als »Riese« bekannt. Der Verfassungsschutz soll 1999 Informationen von »Hagel« über »drei Flüchtige aus Jena« erhalten haben.

6. Juni: Der NSU-UA in Baden-Württemberg will sich in den kommenden zwei Monaten dem früheren »Ku-Klux-Klan« (KKK) in Schwäbisch Hall widmen. Vorgeladen sind ehemalige Mitglieder.
Der UA in Stuttgart möchte klären, ob es Zusammenhänge zwischen dem KKK Hall und dem NSU gab und wie viele Polizisten an ihm beteiligt waren. Auch der vormalige Gruppenführer der 2007 ermordeten Polizistin Michèle Kiesewetter war Mitglied.
Einzelne Mitglieder des Haller KKK sollen über »Corelli« Verbindungen zum NSU gehabt haben. Er war Anwerber des Haller KKK im Osten und hatte persönlich Kontakt zum NSU.

14. Juni: »Die Welt am Sonntag« veröffentlicht, dass es Hinweise auf eine weitere Verstrickung eines V-Mannes mit den NSU-Morden gäbe. In einer »Dienstlichen Erklärung« im Februar 2012 schrieb die damalige Leiterin des nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzes, Mathilde Koller, ein V-Mann des LfV weise Ähnlichkeiten mit einem Phantombild auf. In diesem Schreiben reagierte sie auf erneute Ermittlungen im Falle des Bombenanschlages auf einen Lebensmittelladen in der Probsteigasse in Köln 2001.
Als 2011 die Bekenner-DVD des NSU auftauchte, nahm das Bundeskriminalamt erneut die Ermittlungen zu den auf der DVD dargestellten Anschlägen auf, unter anderem den in Köln.
Koller schrieb, dass Johann Detlef Helfer – genannt »Helle« – von der »Kameradschaft Walter Spangenberg« aus Köln Ähnlichkeiten mit dem Mann auf dem Video aufweise. Dieser sei seit 1989 als V-Mann für den Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen tätig.

17. Juni: Die Ausstellung »Die Opfer des NSU und die Aufarbeitung der Verbrechen« wird in den kommenden zwei Wochen an der Volkshochschule Chemnitz gezeigt. Nachdem die Universität Chemnitz die Ausstellung absagte, musste sie mit ihren 22 Schautafeln ausweichen. Als Begründung der Absage ließ die Universität verlauten, dass angeblich »keine umfängliche wissenschaftliche Herangehensweise« zu erkennen sei.

25. Juni: Die Partei »DIE LINKE« in Hamburg beantragte die Einsetzung eines eigenen NSU-Untersuchungsausschusses. Der NSU ermordete 2001 den Altonaer Gemüsehändler Süleyman Ta?köprü. Der UA soll Fragen nach möglichen Ermittlungspannen klären.

26. Juni: Wie der »Spiegel« berichtet, belässt das Münchner Oberlandesgericht die Rechtsanwältin Anja Sturm als Pflichtverteidigerin der Hauptangeklagten im NSU-Prozess, Beate Zschäpe. Tage zuvor bat Zschäpe in Briefen das Gericht, Sturm von ihrer Pflichtverteidigung zu entbinden.

3. Juli: Der Bundestag verabschiedet das neue Verfassungsschutzgesetz. RechtsexpertInnen äußerten im Vorfeld Kritik, unter anderem an den Regeln für V-Leute, die sie als »sehr pauschal und wenig befriedigend« bezeichnen. Die Bundesregierung verabschiedete den Entwurf im März, mit dem Ziel einer Reform als Konsequenz aus dem NSU-Versagen. Künftig soll der Bundesverfassungsschutz als Zentralstelle fungieren und alle Informationen der Landesämter einsammeln und bündeln.

7. Juli: Der Angeklagten Beate Zschäpe wird durch das Oberlandesgericht München der Münchner Rechtsanwalt Mathias Grasel als vierter Pflichtverteidiger zugeordnet.

Detaillierte Protokolle der Verhandlungstage im NSU-Prozess unter: www.nsu-watch.info