Chronik des NSU – XI

von Annelies Senf

Magazin "der rechte rand" - Ausgabe 152 - Januar / Februar 2015

19. Mai: Jürgen Helbig sagt im NSU-Prozess aus, die Polizei habe 1998 ein heimliches Treffen zweier NSU-Helfer – wobei er einer der beiden am Treffen beteiligten Männer war – und die Übergabe eines Beutels bei Zwickau überwacht. Die Ermittler des Thüringer Landeskriminalamtes (LKA) wussten 1999 offenbar auch davon, dass Jürgen Helbig bei einer weiteren Kurierfahrt im Auftrag der Flüchtigen innerhalb von Jena einen weiteren Beutel abgeben sollte.

20. Mai: Am 113. Verhandlungstag befasst sich der NSU-Prozess mit dem letzten der 15 Raubüberfälle von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt. Die beiden hatten am Morgen des 4. November 2011 in Eisenach in einer Bank 71.915 Euro erbeutet.

21. Mai: Laut Aussage des Rechtsmediziners vor dem Oberlandesgericht München waren Böhnhardt und Mundlos am 4. November 2011 sofort tot. Beide hatten jeweils eine Schussverletzung einer großkalibrigen Waffe am Kopf.

26. Mai: Andreas Rachhausen – angeblicher Betreiber des Stützpunktes des »Thüringer Heimatschutzes« (THS) in den 1990er Jahren – sagt im NSU-Prozess aus, er habe 1998 das mutmaßliche Fluchtfahrzeug der drei abgetauchten NSU-Mitglieder aus Dresden zurückgeholt. Das Auto gehörte Ralf Wohlleben.

2. Juni: Das Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) in Hamburg verkündet, dass es Ende Februar eine DVD erhielt, auf der von einem »NSU« die Rede ist. Es soll Anhaltspunkte dafür geben, dass die DVD im Jahr 2006 von dem V-Mann »Corelli« an eine Quelle des Geheimdienstes versandt worden sei. »Corelli« – Thomas Richter – wurde am 7. April 2014 tot in seiner Wohnung nahe Paderborn aufgefunden. Das Hamburger Landesamt übersandte die DVD im März 2014 an den Generalbundesanwalt. Dort wird derzeit zu den Hintergründen der DVD ermittelt.

3./4./5. Juni: Der NSU-Prozess beschäftigt sich mit dem Sprengstoff­anschlag in der Kölner Probsteigasse. In einem Lebensmittel- und Getränkeshop explodierte am 19. Januar 2001 eine Bombe. Auf dem NSU-Bekenner-Video mit der Paulchen-Panther-Trickfilmfigur sind Fernsehbilder von den Ermittlungen am Tatort zu sehen. Dem Angeklagten André Eminger wird im Prozess vorgeworfen, in der Zeit zwischen 19. und 21. Dezember 2000 ein Wohnmobil gemietet und so geholfen zu haben, den Sprengstoffanschlag mit vorzubereiten.

6. Juni: »Der Spiegel« berichtet, dass er bei der Auswertung der NSU-Ermittlungsakten auf Indizien für einen Zusammenhang mit einem Doppelmord in Dresden im Jahre 1995 gestoßen sei. Unbekannte hatten damals den in der rechten Szene als »Verräter« geltenden Dresdener Skinhead Sven Silbermann und dessen Bruder Michael getötet. Der Doppelmord wird derzeit neu aufgerollt.

13. Juni: Der MDR meldet, der Verfassungsschutz in Thüringen habe seit 2002 eine konspirative Außenstelle in der Häßlerstraße im Erfurter Süden betrieben. Von dort aus sollen V-Leute geführt worden sein. Der NSU-Untersuchungsausschuss (UA) Thüringen wurde bisher über diese Nebenstelle nicht informiert.

18. Juni: Beamte führen bei dem mutmaßlichen Unterstützer des NSU und jahrelangen V-Mann des Verfassungsschutzes in Thüringen, Tino Brandt, eine Razzia durch. Es liege der Verdacht vor, dass Brandt ein illegales Prostitutionsgeschäft mit minderjährigen Jugendlichen be-treibe.

19. Juni: Das Internetportal »Publikative« veröffentlicht, dass Unterlagen, die im April 2013 von der Staatskanzlei in Hannover dem NSU-UA des Bundestages zur Verfügung gestellt wurden, belegen, dass Thomas Gerlach zwischen 2000 und 2001 einen stetigen Briefverkehr mit dem Neonazi Thorsten Heise führte. Heise aus Northeim saß zu der Zeit eine Gefängnisstrafe in der Justizvollzugsanstalt Wolfenbüttel ab. Die neuen Akten belegen nicht nur den Kontakt, sondern auch die Tatsache, dass die beiden Neonazis in ihrer Vernehmung maßgeblich taktiert haben könnten. Dieser Kontakt könnte eine Bedeutung bei der geplanten Flucht der drei NSU-Mitglieder nach Südafrika gehabt haben.

24. Juni: Die Enquete-Kommission zum NSU im Landtag Baden-Württemberg nimmt ihre Arbeit auf.

24. Juni: In der Schweiz wird Hans-Ulrich Müller befragt. Er lebte Anfang der 1990er Jahre in Thüringen und soll bei der Beschaffung der wichtigsten NSU-Mordwaffe eine Rolle gespielt haben.
Im Oktober 2013 sagte er als Zeuge im NSU-Prozess aus, er habe die aus Tschechien stammende Waffe mit einem Schalldämpfer am 10. April 1996 geliefert bekommen und einen Tag später an Anton Peter Germann verschickt.

26. Juni: Der Schweizer Zeuge, Anton Peter Germann, wird in der Schweiz vernommen. Er war nach Überzeugung der Anklagebehörde der Vorbesitzer der »Ceska«-Pistole der NSU-Mordserie. Weder Anton Peter Germann noch Hans-Ulrich Müller sind bereit, als Zeugen im NSU-Prozess aufzutreten.

29. Juni: Der sächsische NSU-UA ist beendet. Der Bericht der Oppositionsparteien Grüne, LINKE und SPD zählt eine beispiellose Serie von Fehlentscheidungen auf, der Vorwurf: Behördenversagen.

1. Juli: Der Mitangeklagte im NSU-Prozess, Ralf Wohlleben, lehnt den Gerichtssenat wegen Befangenheit ab.

2. Juni: Dem Zeugen Enrico Theile droht ein Strafverfahren wegen Falschaussagen. Der 38-Jährige soll laut Anklageschrift für seinen Thüringer Freund Jürgen Länger den Kontakt zum Schweizer Hans-Ulrich Müller hergestellt haben, dem die NSU-Mordwaffe »Ceska 83« gehörte. Im Frühjahr 2000 soll die Waffe von Müller aus über Jürgen Länger und eine weitere Person in Jena an die Angeklagten Ralf Wohlleben und Carsten Schulze gelangt sein. Schulze hat im Prozess zugegeben, die Waffe in Chemnitz Mundlos und Böhnhardt übergeben zu haben.

4. Juni: Durch das Buch »Heimatschutz« von Stefan Aust und Dirk Laabs wird bekannt, dass der ehemalige Mitarbeiter des Verfassungsschutz und V-Mann Führer von »Tarif«, Martin Thein, seit 2011 als Buchautor und »Fanforscher« in der Fußball-Szene unterwegs ist.

9. Juli: Im NSU-Prozess verweigert Matthias Dienelt die Aussage. Er mietete die Wohung in Zwickau an, in der von 2001 bis 2011 Böhnhardt, Mundlos und Beate Zschäpe lebten.

10. Juli: Das Bundeskriminalamt (BKA) geht neuen Hinweisen zu den NSU-Verbindungen Tino Brandts nach.

15. Juli: Brandt sagt im NSU-Prozess aus, er erinnere sich grob, dass er im Juni 1999 mit dem Neonazi Thorsten Heise über eine Flucht des NSU-Trios nach Südafrika gesprochen habe.

17. Juli: Zschäpe entzieht ihren AnwältInnen das Vertrauen.

6. August: Zwei Beamte, die im NSU-Prozess als Zeugen auftreten, werfen dem hessischen Verfassungsschutz Behinderung bei den Ermittlungen zum Mord an Halit Yozgat im April 2006 in Kassel vor.

16. September: Die »Thüringer Allgemeine« veröffentlicht, dass das BKA bereits 2005 eine Waffenspur in die Schweiz verfolgte. Die Ermittler hatten damals herausgefunden, dass bei den Morden an Migranten türkischer und griechischer Herkunft seit dem Jahr 2000 immer dieselbe Pistole der Marke »Ceska 83« benutzt wurde.

17. September: Die Fraktion der Linkspartei im hessischen Landtag drängt im NSU-UA auf den Beginn öffentlicher Anhörungen im Landtag.

23. September: Die Grünen im baden-württembergischen Landtag wollen vorerst keinen NSU-Untersuchtungsausschuss.

25. September: Das »Hamburger Abendblatt« berichtet, die Generalbundesanwaltschaft (GBA) vernahm den Hamburger V-Mann, der von »Corelli« den Datenträger erhalten hatte. Zu der Zeugenvernehmung äußern sich weder GBA noch Landesamt für Verfassungsschutz.

2. Oktober: Die Grünen im Parlamentarischen Kontrollgremium des Bundestags beantragen eine Sondersitzung zum Fall »Corelli«. Er lieferte dem BfV im Jahr 2005 eine Daten-CD, auf der Dateien mit der Bezeichnung NSU/NSDAP zu finden waren.

7. Oktober: Jerzy Montag – ehemaliger Grünen-Abgeordneter – soll als Sonderermittler des Parlamentarischen Gremiums zur Kontrolle der Geheimdienste der CD mit Bezug zum NSU aus dem Jahre 2005 nachgehen.

15. Oktober: Der Zeuge Jan Botho Werner – ehemaliger Anführer der sächsischen Sektion der Skinhead-Vereinigung »Blood & Honour« – verweigert vor dem Münchner Oberlandesgericht die Aussage. Gegen ihn läuft eines der zehn Ermittlungsverfahren, die die Bundesanwaltschaft derzeit gegen mutmaßliche Unterstützer des NSU führt. Somit hat er ein Aussageverweigerungsrecht.

20. Oktober: Wie »Der Spiegel« berichtet, lebte der Thüringer Neonazi Mario Brehme von 1997 bis 2008 im Verbindungshaus der Bayreuther Burschenschaft »Thessalia zu Prag«. 1998 flog Brehme laut Verfassungsschutz-Informationen gemeinsam mit dem Neonazi André Kapke nach Südafrika, um einen Unterschlupf für Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos zu suchen – so Kapke. Die Flugtickets für rund 3.400 Mark buchte und bezahlte Brehme laut dem »Nordbayerischen Kurier« in einem Bayreuther Reisebüro.

21. Oktober: Im NSU-Prozess sagt eine Kriminalkommissarin des LKA Baden-Württemberg aus, dass es zahlreiche Verbindungen zwischen Chemnitzer Neonazis und Baden-Württemberg, aber auch nach Thüringen gab. Vor allem Zschäpe und Mundlos sollen immer wieder in Ludwigsburg gesehen worden sein, Mundlos zuletzt 2001.

25. Oktober: Das BfV hat noch sämtliche Quellenberichte des V-Manns »Tarif« in seinem Archiv, so informiert das Bundesinnenministerium den Bundestag. Bisher ging der NSU-UA des Bundestages davon aus, dass die Akte des Spitzels – zusammen mit anderen V-Mann-Akten – sieben Tage nach dem Auffliegen des NSU am 4. November 2011 vernichtet wurde und nur zum Teil rekonstruiert werden konnte. Michael See alias »Tarif« war von 1995 bis 2001 V-Mann. See belastete im März 2014 Thorsten Heise. André Kapke habe ihn 1998 um Hilfe bei der Suche nach einem Unterschlupf für Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe gebeten.

5. November: Der Landtag in Baden Württemberg beschließt einstimmig die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses zu den Morden des NSU.

11. November: Wie die TAZ berichtet, hat die Chemnitzer Polizei bei einer Razzia gegen die »Nationalen Sozialisten Chemnitz« (NSC) am 28. März 2014 bei dem Chemnitzer Neonazi Maik Arnold eine weitere CD mit Hinweisen auf den NSU beschlagnahmt.

12./19. November: Der fränkische Neonazi und V-Mann Kai Markus Dalek wird im NSU-Prozess vernommen. Seine Vernehmungen werfen die Frage auf, ob der THS mit Billigung oder gar auf Anweisung des Verfassungsschutzes aufgebaut wurde.

20. November: In ihrer ZeugInnenaussage im NSU-Prozess schwärmt Antje Böhm (ehemals Probst und Inhaberin des Szeneladens »Sonnentanz« in Limbach-Oberfrohna bei Chemnitz) von ihren Erfahrungen bei »Blood & Honour«. Sie zählt zu den MitbegründerInnen des »Blood & Honour«-Ablegers in Sachsen und organisierte Konzerte in den 1990er Jahren mit. Mit ihr vervollständigt sich die Riege des »Blood & Honour«-Umfeldes des NSU: Thomas Starke, Jan Botho Werner, Andreas Graubner, Thomas Probst und Carsten Szczepanski. Ein von Zschäpe genutzter Pass lief auf ihren Namen.

27. November: Die Verteidigung Zschäpes stellt erneut einen Befangenheitsantrag gegen Richter Manfred Götzl. Die VerteidigerInnen des mitangeklagten Wohlleben schließen sich an.
Der Konflikt um die Befragung von ZeugInnen, die sich an lang zurückliegende Sachverhalte nicht erinnern können und dann von Götzl mit Vorhalten aus Protokollen konfrontiert werden, schwelt schon länger.

3. Dezember: Im NSU-Prozess sagt der frühere V-Mann »Piatto« – Carsten Szczepanski – aus, dass er bereits im Sommer 1998 dem brandenburgischen Geheimdienst berichtete, Jan Botho Werner habe den Auftrag gehabt, »die drei Skinheads« mit Waffen zu versorgen – gemeint waren offenkundig Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe. An die Meldung kann sich Szczepanski nicht mehr erinnern.

9. Dezember: Die Grünen im mecklenburgischen Landtag kritisieren den Abschlussbericht von Innenminister Lorenz Caffier (CDU) über Ermittlungspannen in der Mordserie des NSU.

17. Dezember: Der NSU-Untersuchungsausschuss in Nordrhein-Westfalen nimmt seine Arbeit auf. Dieser soll sich mit den Anschlägen in der Probsteigasse und Keupstraße in Köln sowie mit dem Mord an dem Kioskbesitzer Mehmet Kubasik in Dortmund befassen.

18. Dezember: Das Landgericht Gera verurteilt Tino Brandt zu fünfeinhalb Jahren Haft wegen sexuellen Missbrauchs von Jungen und Förderung sexueller Handlungen Minderjähriger.

Detaillierte Protokolle der Verhandlungstage im NSU-Prozess unter: www.nsu-watch.info