Plädoyers der Nebenklage im NSU: einig, tiefschürfend, berührend

von Björn Elberling
Magazin "der rechte rand" Ausgabe 170 - Januar 2018

Seit dem 15. November 2017 plädieren die NebenklagevertreterInnen und die NebenklägerInnen im NSU-Prozess. Bis zur Weihnachtspause am 21. Dezember konnte die große Mehrzahl von ihnen ihre Plädoyers halten.

Magazin der rechte rand Ausgabe 170

Keupstraße, Aktionstag am 20. Januar 2015 © Alexander Hoffmann

Dass es nach dem Ende des Plädoyers der Bundesanwaltschaft über zwei Monate gedauert hatte, bis die Nebenklage beginnen konnte, lag vor allem an Verzögerungstaktiken der Verteidigung des Angeklagten André Eminger, der nach dem Plädoyer der Bundesanwaltschaft in Untersuchungshaft genommen worden war. Als die Plädoyers dann endlich begonnen hatten, wurden sie mehrfach von Interventionen der Verteidigung unterbrochen. Vor allem Wolfgang Heer, Wolfgang Stahl und Anja Sturm, die VerteidigerInnen von Beate Zschäpe, meinten bestimmte Themen wie etwa institutioneller Rassismus in den Polizeibehörden dürften im Plädoyer nicht erwähnt werden. Die Nebenklage stellte sich diesen Versuchen klar entgegen – Mehmet Daimagüler, den viele ihrer Interventionen trafen, formulierte eindeutig: »Was ich hier vortrage, ist die ungefilterte Sicht der Überlebenden des NSU, meiner Mandanten. Sie werden diese Stimmen nicht zum Schweigen bringen.« Alle Beanstandungen wurden auch vom Gericht in klaren Beschlüssen zurückgewiesen, dennoch versuchten es Heer, Stahl und Sturm immer wieder. Schon der Versuch, einem anderen Beteiligten den Inhalt seines Plädoyers vorschreiben zu wollen, ist ein strafprozessualer Tabubruch. Zudem wollten hier die VerteidigerInnen augenscheinlich allein ihre eigenen Vorstellungen durchsetzen, handelten sogar objektiv gegen die Interessen ihrer Mandantin – denn für diese könnten sich die fehlerhaften Ermittlungen der Polizei und die Verstrickung des Verfassungsschutzes gegebenenfalls sogar strafmildernd auswirken.

Eine Verteidigungsrede und zwei Distanzierungen
Teile der Presse verbreiteten gegen Ende der Plädoyers die These, die Nebenklage sei stark zerstritten. Sie bezogen sich vor allem auf die absurden Plädoyers dreier NebenklagevertreterInnen: Ralf Wohlleben gehöre nicht auf die Anklagebank; es gebe keinen Rassismus in den Ermittlungsbehörden; das eigentliche Problem seien diejenigen, die das immer wieder behaupteten; die NebenklagevertreterInnen hätten ihren MandantInnen den Wunsch nach weiterer Aufklärung ausreden müssen – diese und ähnliche, noch steilere Thesen wurden dort vertreten. Dass diese drei Personen eindeutig nicht für die Mehrzahl der NSU-Überlebenden sprechen, wurde schnell klar: Im ersten Fall kündigte die Nebenklägerin ihrer Rechtsanwältin mit den Worten »vielen Dank, dass ich als Showbühne benutzt wurde für Ihre eigenen Interessen« das Mandat, der zweite Anwalt vergaß vor lauter Abgrenzungsbemühungen auch nur mitzuteilen, welchen Nebenkläger er überhaupt vertritt. Der letzte teilte mit, er habe das Plädoyer seinem Mandanten schriftlich vorgelegt – was natürlich schwer nachzuprüfen ist.
Und tatsächlich zeigte sich anhand der anderen Plädoyers, dass diese drei die Ausnahme sind, welche die Regel bestätigt: Die Nebenklage ist, bei allen Unterschieden in der Nuancierung und Betonung, ansonsten sehr einig und so wurden auch immer wieder dieselben Aspekte beleuchtet.

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Auf der einen Seite stehen die Aspekte, die von VertreterInnen der Nebenklage schon im Verfahren immer wieder betont wurden, weil sie die These der Bundesanwaltschaft von der isolierten Dreier-Zelle nicht teilen. Zu klar die Verwurzelung der NSU-Kernmitglieder in der breiteren Neonazi-Szene, zu versteckt und für Ortsunkundige kaum als Anschlagsziel erkennbar viele der Tatorte. Alexander Hoffmann stellte dar, dass die Ideologie des NSU und die der UnterstützerInnen aus NPD, »Thüringer Heimatschutz«, »Blood & Honour« und »Hammerskins« letztlich an der Behauptung vom drohenden »Volkstod«, vom kommenden »Racial Holy War« zusammenlaufen – und darin auch Gemeinsamkeiten mit den »Umvolkungs«-Phantasien von Höcke, Gauland und Co. haben.
Von vielen attackiert wurde auch der Verfassungsschutz, der trotz vieler V-Leute im Umfeld des Trios und klarer Möglichkeiten, der Untergetauchten habhaft zu werden, keine relevanten Informationen an die Polizeibehörden weitergegeben hatte, der nach 2011 Akten vernichtet hatte und dessen V-Männer und V-Mann-Führer vor Gericht extrem unglaubhafte Aussagen gemacht hatten. So stellte Sebastian Scharmer anhand eines Schaubildes dar, wie viele V-Leute im Umfeld des NSU tätig waren – am Ende standen dabei über 30 Namen beziehungsweise Decknamen. Und Antonia von der Behrens verknüpfte in einer historischen Darstellung von den frühen 1990ern bis hin zum 4. November 2011 jeweils die beiden Themen »Kontakte des NSU zur weiteren Neonazi-Szene« und »Wissen und Nicht-Handeln des Verfassungsschutzes«. Besonders thematisiert wurde die Rolle des Inlandsgeheimdienstes natürlich im Plädoyer der Nebenklage Yozgat, da VS-Mitarbeiter Andreas Temme während des Mordes an Halit Yozgat am Tatort gewesen war und völlig unglaubhaft abgestritten hat, etwas mitbekommen zu haben. Ismail Yozgat, der Vater von Halit Yozgat, wies das Gericht eindrücklich darauf hin, dass der Agent Temme lüge, und Alexander Kienzle erläuterte die »beihilfenahen Verstrickungen« des Verfassungsschutzes im Einzelnen.
Ebenfalls von vielen auf- und angegriffen wurde die Tatsache, dass die Polizei die Ermittlungen ausschließlich gegen die Betroffenen selbst geführt hatte – trotz klarer Hinweise auf »deutsche«, rassistisch motivierte Täter. So stellte etwa Carsten Ilius einerseits dar, wie viel zusätzliches Leid diese Ermittlungen im Falle des Mordes an Mehmet Kuba?ik der Familie zufügten, und andererseits auch, wie viele klare Hinweise auf rassistische Täter es gab und wie breit und militant die Dortmunder Neonazi-Szene, aus der sich mögliche UnterstützerInnen rekrutiert haben könnten, aufgestellt war. Mit Blick auf die Keupstraße, wo die Ermittlungen und die begleitende Medienberichterstattung als »Bombe nach der Bombe« bekannt wurden, formulierte Stephan Kuhn klar: »Für die erste Bombe (…) trägt die Verantwortung der NSU, für die zweite trägt sie der deutsche Staat.« Abschließend stellte er fest: »Der NSU-Komplex zeigt uns beide Formen und wie sie zueinander in Beziehung stehen: Zum einen die individuelle Form des Rassismus, die die hiesigen Angeklagten verkörperten und verkörpern, der sich in offen rassistischen Aktionen und Handlungen gegen einzelne Personen oder Gruppen offenbart. Zum anderen sind es die Handlungen oder Unterlassungen der Gesellschaft gegenüber ebenjenen Minderheiten, die den offenen Rassismus flankieren und so seine Macht und Bedeutung steigern. ‹Aktion Dönerspieß› (die Bezeichnung des NSU für den Nagelbombenanschlag) und ‹Dönermorde› gehen nicht nur sprachlich Hand in Hand.«

Zu den Angeklagten
Dass die fünf Angeklagten in München wegen aller Taten in der Anklage zu verurteilen sind, darauf verloren die NebenklagevertreterInnen wenige Worte – hierzu hatte die Bundesanwaltschaft in ihrem Plädoyer auch alles Nötige gesagt. Dennoch nutzten einige die Gelegenheit, sich zu den Angeklagten, vor allem zu Beate Zschäpe und ihren Einlassungen zu äußern. Eberhard Reinecke und andere nahmen anhand konkreter Beispiele die Zschäpes Einlassung auseinander und zeigten, dass sie durch die Beweise widerlegt ist. Kiriakos Sfatkidis charakterisierte das Zschäpes Prozessverhalten treffend als »Griff in die Lisa-Dienelt-Trickkiste« (Lisa Dienelt war Zschäpes Deckname). Mehrere appellierten an die Angeklagte, ihr tatsächliches Wissen zu offenbaren. Gamze Kuba?ik, die Tochter von Mehmet Kuba?ik, versprach ihr sogar, sich in diesem Fall für eine geringere Mindestverbüßungsdauer bei der zu erwartenden lebenslangen Freiheitsstrafe einzusetzen. Und es wurde auch immer wieder klar, was alles nicht aufgeklärt wurde – nur ein Beispiel: Eberhard Reinecke stellte nach einer Analyse der Kommunikationsstrategie des NSU die These auf, der NSU habe 2011 einen großen, möglicherweise antisemitischen Anschlag geplant, was angesichts der Beweismittel durchaus plausibel ist, obwohl in diese Richtung anscheinend überhaupt nicht ermittelt wurde.

Die NSU-Überlebenden ergreifen das Wort
Sehr berührend waren die Momente, in denen die Familienmitglieder der Ermordeten und die Verletzten der Bombenanschläge selbst das Wort ergriffen, entweder persönlich im Gerichtssaal oder über ihre AnwältInnen. Sie richteten sich einerseits an das Gericht und die Bundesanwaltschaft – so zog Ay?e Yozgat ein bitteres Fazit zu ihren Hoffnungen auf Aufklärung des Mordes an ihrem Sohn Halit: »Sie waren meine letzte Hoffnung und mein Vertrauen, aber ich sehe, dass bei Ihnen auch kein Ergebnis herauskommt. Sie haben wie Bienen gearbeitet, aber keinen Honig produziert.« Gamze Kuba?ik bezog sich auf das Aufklärungsversprechen der Bundeskanzlerin und warf der Bundesanwaltschaft vor: »Sie haben vielleicht viel dafür getan, dass diese fünf hier verurteilt werden. Aber was ist mit den ganzen anderen? Ich glaube nicht daran, dass Sie noch irgendwann jemanden anderes anklagen. Für Sie ist die Sache doch hier abgeschlossen.(…) Sie haben das Versprechen gebrochen!«
Marcel Matt richtete aus, sein Mandant, ein Verletzter aus der Keupstraße, habe volles Vertrauen, dass das Gericht »für all die Traumata, die Verletzungen, die Angst und den Schrecken, dafür, dass Schwestern und Brüder plötzlich ohne ihre geliebten Geschwister waren, dafür, dass Väter und Mütter plötzlich ohne ihre geliebten Kinder leben mussten, dafür, dass geliebte Kinder plötzlich ohne ihre geliebten Väter aufwachsen mussten, für die große Trauer, das fast unendliche Leiden, das unermessliche Leid der vom sog. NSU und seiner Unterstützer Betroffenen (…) jeweils angemessenen Strafen für die Angeklagten finden« werde.
Und die Überlebenden richteten sich auch direkt an die Angeklagten, um das ihnen angetane Leid auszudrücken, aber auch, um ihnen zu sagen, der NSU sei trotz allen Leids gescheitert. Ay?e Yozgat an Zschäpe: »Können Sie einschlafen, wenn Sie Ihren Kopf auf das Kissen legen? Ich kann seit elf Jahren nicht einschlafen, denn ich vermisse meinen Sohn so sehr. Was haben Sie dadurch erreicht? (…) Gab es überhaupt Gott bei Ihnen?« Elif Kuba?ik, die Witwe von Mehmet Kuba?ik, fasste die Folgen des Mordes für sie zusammen in dem Satz »Mein Herz ist mit Mehmet begraben«. Trotzdem erteilte sie, die sich als »Kurdin, Alevitin, Dortmunderin, deutsche Staatsangehörige« vorgestellt hatte, dem NSU und seinen UnterstützerInnen am Ende die klare Ansage: »Die, die das gemacht haben, die diese Taten begangen haben, sollen nicht denken, weil sie neun Leben ausgelöscht haben, dass wir dieses Land verlassen werden. Ich lebe in diesem Land, und ich gehöre zu diesem Land. Ich habe zwei Kinder in diesem Land zur Welt gebracht, und mein Enkel Mehmet ist hier zur Welt gekommen. Wir sind ein Teil dieses Landes, und wir werden hier weiterleben.«

Björn Elberling ist Rechtsanwalt und Nebenklagevertreter im NSU-Prozess. Zusammen mit Rechtsanwalt Alexander Hoffmann betreibt er den Blog www.nsu-nebenklage.de, auf dem sie über jeden Prozesstag auf Deutsch, Türkisch und Englisch berichten.