Möglichkeiten und Grenzen

von Gerd Wiegel

Magazin "der rechte rand" Ausgabe 166 - Mai 2017

Knapp 16 Monate hatte der zweite NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages Zeit, die aus Bundessicht offenen Fragen zu klären, die im ersten Ausschuss nicht umfassend behandelt werden konnten.

der rechte rand Ausgabe 166 - Mai 2017

Der VS hat mit Erfolg
geschreddert

84 Zeuginnen und Zeugen hat der Zweite Parlamentarische Untersuchungsausschuss (PUA) NSU gehört und dabei die Themen in den Mittelpunkt gestellt, die sich erst nach dem Ende des ersten PUA ergeben haben. Zentrale inhaltliche Komplexe der Arbeit waren die »Tatorte« Zwickau und Eisenach am 4. November 2011, die Frage nach Unterstützungsstrukturen der Neonaziszene an den Tatorten der NSU-Morde und -Anschläge, das Wissen der V-Leute des Bundes und der Länder zum NSU sowie die Vernichtung von Akten im Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) unmittelbar nach der Selbstenttarnung des Trios im November 2011. Zumindest für die letzten beiden Fragen hat es neue Erkenntnisse gegeben, die auch das Gesamtbild verändern.

Gerüchte um den Tod von Mundlos und Böhnhardt
Zahlreiche Gerüchte ranken sich um die »Tatorte« Eisenach und Zwickau, teils befördert durch Verschwörungstheorien, die im Netz kursieren. Beide Orte sind keine Tatorte von unmittelbaren NSU-Taten, waren für die Aufdeckung des NSU-Komplexes aber zentral. In Eisenach wurden Mundlos und Böhnhardt nach einem von ihnen verübten Banküberfall tot in ihrem Wohnmobil aufgefunden, in Zwickau befand sich die von Beate Zschäpe in die Luft gesprengte Wohnung des Trios. Von Brandermittlern über PolizistInnen bis zu EinsatzleiterInnen hat der PUA ZeugInnen zu beiden Orten gehört und dabei im Ergebnis nichts feststellen können, was die vorhandenen Gerüchte stützt: Der Brandgutachter für Eisenach konnte mit Erläuterungen zur Ausbreitung des Rauches im Wohnmobil die fehlenden Rußpartikel in der Lunge von Mundlos genauso zufriedenstellend erklären wie das mögliche Durchladen der Waffe von Mundlos durch den Aufprall aus einer bestimmten Höhe plausibel erscheint. Der Ausschuss konnte nachweisen, dass sich Mundlos im Stehen erschossen haben muss. Die Fundstelle der Ceska-Waffe in Zwickau wurde ebenfalls detailliert rekonstruiert, nachdem Gerüchte aufgekommen waren, die Waffe sei überhaupt nicht im Brandschutt gefunden worden. Selbst die Entscheidung des Eisenacher Einsatzleiters Michael Menzel, das Wohnmobil auf einen Hänger ziehen zu lassen und damit die Veränderung von Spuren im Inneren in Kauf zu nehmen, ist zumindest nachvollziehbar vor dem Hintergrund, dass die Spurenlage im Innenraum vorher fotografisch dokumentiert wurde und die Alternative in einer (dann vier Wochen dauernden) detaillierten Spurensicherung in einem belebten Wohngebiet gelegen hätte. Nicht abschließend geklärt werden konnte, wie Beate Zschäpe am 4. November vom Tod der beiden Uwes erfahren hat und wie die Tage vorher konkret verlaufen sind.

Unterstützungsstrukturen an den Tatorten
Die Obleute aller Fraktionen hatten sich zu Beginn des zweiten PUA dahingehend geäußert, nicht länger an die These des abgeschotteten Trios glauben zu wollen, das ohne Unterstützung vor Ort die Tatorte der Morde und Sprengstoffanschläge ausgekundschaftet habe. Insgesamt wurden sieben Gutachten zu regionalen Neonazistrukturen in Auftrag gegeben, die Anhaltspunkte für Unterstützungsstrukturen sammeln sollten. Im Ergebnis ist es dem Ausschuss nicht gelungen, harte Fakten und »Anfasser« für diese These zu finden. Zwar konnte der Ausschuss, wie schon zuvor JournalistInnen und recherchierende Antifas, zahlreiche Anhaltspunkte für mögliche Unterstützungsnetzwerke präsentieren. Belege, die einen Anfangsverdacht begründen und Ermittlungen unabweisbar machen könnten, konnten jedoch nicht gefunden werden.
Exemplarisch wurde im Ausschuss die Verbindung Dortmund–Kassel über die Neonazi-Band »Oidoxie«, die von Dortmunder und Kasseler Neonazis unterstützte »Oidoxie Streetfighting Crew« und deren Bezüge ins »Blood & Honour«-Spektrum beziehungsweise zu »Combat 18« angesprochen. In Militanz, Ideologie und Strategie offenbarten die Neonazis eine Nähe zur Ausrichtung des NSU, der Nachweis konkreter Unterstützungsleistungen erfordert jedoch mehr, worauf VertreterInnen des Bundeskriminalamts (BKA) und des Generalbundesanwalts (GBA) immer wieder hinwiesen. Allerdings stellten sich dem Ausschuss die Ermittlungen so dar, dass an dem einmal festgelegten und in der Anklageschrift formulierten Bild des Trios und weniger HelferInnen nicht gerüttelt werden sollte. Um konkrete »Anfasser« für die ErmittlerInnen zu generieren, hätte überhaupt erst einmal verstärkt im Umfeld der regionalen Neonazistrukturen ermittelt werden müssen. Das konnte der Ausschuss jedoch nicht erkennen. Die von Seiten des BKA und des GBA vorgebrachten Hinweise auf das Strukturermittlungsverfahren, in dem gegen weitere Beschuldigte aus dem NSU-Umfeld und gegen »Unbekannt« wegen möglicher Unterstützung einer terroristischen Organisation ermittelt wird, waren wenig konkret und es ist kaum vorstellbar, dass hier noch einmal eine vertiefte Umfeldaufklärung stattfindet.

BfV-V-Mann im direkten NSU-Umfeld in Zwickau
Die Rolle des V-Mannes »Primus« alias Ralf »Manole« Marschner behandelte der PUA in vier Sitzungen. Marschner war von 1992 bis 2002 V-Mann des BfV, wohnte in Zwickau und kannte nach ZeugInnenaussagen das Trio schon 1998. Marschners Bauservice diente vor allem der regionalen Neonaziszene als Arbeitsmöglichkeit. Laut eines Zeugen soll Marschner bei einem Fußballturnier in Greiz die beiden Uwes gesprochen haben, dabei soll es um das Thema Waffen gegangen sein. Weitere ZeugInnen, die auch im Ausschuss gehört wurden, gaben an, Marschner habe in seiner Baufirma Uwe Mundlos beschäftigt und Beate Zschäpe habe in den Ladengeschäften von Marschner verkehrt. Erst nachdem diese Aussagen in einer ARD-Dokumentation präsentiert wurden, sah sich das BKA zu weiteren Ermittlungen veranlasst. Während die vom BKA befragten Neonazis Mundlos nicht als Mitarbeiter gesehen haben wollen, bewertete das BKA ihre Aussagen höher als die der wenigen Nicht-Neonazis im Bauservice, die Mundlos sicher oder mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent erkannt haben wollen.
Infrage standen auch mehrere Autoanmietungen durch Marschners Baufirma an Tattagen des NSU, für die keine Anmietungen durch das Trio vorliegen. Auch hierzu verliefen die Befragungen durch das BKA ausweislich der Akten oberflächlich, führten jedoch aus Sicht des BKA zu dem Ergebnis, dass ein Verdacht gegen Marschner nicht erhärtet werden konnte. Mindestens für »Die Linke« stellt sich das Ergebnis der Befragungen zu Marschner aber so dar, dass ein Kennverhältnis zum Trio nach 1998 nicht ausgeschlossen werden kann. Nach Überzeugung von Mitgliedern des PUA wusste Marschner als wichtige Figur der regionalen Neonaziszene mit großer Wahrscheinlichkeit über die Anwesenheit der drei abgetauchten ThüringerInnen in Zwickau Bescheid, zumal er mit den aktiven UnterstützerInnen des Trios wie Thomas Starke, Jan Werner, Max Florian Burkhardt und Susann Eminger bestens bekannt war. Entweder hat Marschner das BfV und seinen V-Mann-Führer systematisch im Dunkeln gehalten oder das BfV wusste sehr viel mehr über den Aufenthaltsort des Trios als bisher bekannt.

Angezogene Handbremse bei Ermittlungen zu V-Leuten
Im Juni 2015, also nach Abschluss des ersten PUA-NSU, war bekannt geworden, dass das Phantombild des mutmaßlichen Täters des Bombenanschlags in der Kölner Probsteigasse im Jahr 2001 eine frappierende Ähnlichkeit mit einem V-Mann des Landesamts für Verfassungsschutz (LfV) Nordrhein-Westfalen aufwies. Eine BfV-Mitarbeiterin hatte im Rahmen der Nachermittlungen nach dem Auffliegen des NSU Ähnlichkeiten zwischen dem Phantombild des Attentäters und einem Mitglied der Kameradschaft Walter Spangenberg aus NRW festgestellt. Dem LfV war dieses Mitglied der Kameradschaft gut bekannt, handelte es sich doch um ihren V-Mann Johann H.
Beim GBA ermittelte man zur Spur Johann H. in fragwürdiger Art und Weise. Den ZeugInnen, der Familie M. aus dem Geschäft, in dem die Bombe deponiert wurde, legte man völlig untaugliche Fotos von H. vor und nahm jeden Zweifel an der Wiedererkennung als Beleg für die Entlastung des V-Mannes. Eine Vernehmung von H. gab es nicht, dem BKA wurde von Seiten des GBA explizit untersagt, an den V-Mann heran zu treten. Das fügte sich ins Bild des Umgangs mit Neonazispitzeln im NSU-Zusammenhang.

Vertuschung im BfV
Dafür, dass es im BfV ein größeres Wissen zum NSU gegeben haben muss als bis heute eingestanden wird, sprechen auch die Aktenvernichtungen im BfV im November 2011 durch den Referatsleiter Lothar Lingen. Er ließ gezielt V-Mann-Akten aus dem Umfeld des »Thüringer Heimatschutzes« vernichten, der Ende der 1990er Jahre vom Verfassungsschutz mit V-Leuten durchsetzt gewesen war. Während dem ersten PUA-NSU von Seiten des Innenministeriums weisgemacht werden sollte, die Akten seien aus Datenschutzgründen – weil sie schon längst hätten vernichtet werden müssen – nach Durchsicht geschreddert worden, ergab die Vernehmung von Lothar Lingen inzwischen ein ganz anderes Motiv. In seiner Vernehmung beim GBA gab er an: »Mir war bereits am 10./11. November 2011 völlig klar, dass sich die Öffentlichkeit sehr für die Quellenlage des BfV in Thüringen interessieren wird. Die bloße Bezifferung der seinerzeit in Thüringen vom BfV geführten Quellen mit acht, neun oder zehn Fällen hätte zu der – ja nun auch heute noch intensiv gestellten – Frage geführt, aus welchem Grunde die Verfassungsschutzbehörden über die terroristischen Aktivitäten der Drei eigentlich nicht informiert gewesen sind. Die nackten Zahlen sprachen ja dafür, dass wir wussten, was da läuft, was aber ja nicht der Fall war. Und da habe ich mir gedacht, wenn der quantitative Aspekt, also die Anzahl unserer Quellen im Bereich des THS und in Thüringen nicht bekannt wird, dass dann die Frage, warum das BfV von nichts was gewusst hat, vielleicht gar nicht auftaucht.«
Vorsätzliches Schreddern, um das Wissen des BfV zum Trio zu vertuschen – diese Hypothese ist auch vor dem Hintergrund, wessen Akten Lingen vernichten ließ, plausibel. Die Akte »Tarif« befand sich darunter – hinter diesem Decknamen verbirgt sich der Thüringer Neonazi Michael See, der damals enge und gute Kontakte in der Szene hatte. See gab 2014 in einem Spiegel-Interview an, er sei 1998 von André Kapke nach einer möglichen Unterkunft für das Trio gefragt worden. Sein V-Mann-Führer, dem er davon berichtet haben will, habe ihm gesagt, er solle die Finger davon lassen. »Tarif« hätte dem BfV also das gesuchte Trio auf dem Silbertablett präsentieren können, das Amt habe aber abgelehnt. Von Seiten des BfV wird diese Version bestritten – nachdem man die Akten von »Tarif« geschreddert hat, lässt sich weder das Eine noch das Andere schlussendlich belegen.

Nicht blind auf dem rechten Auge
Nach zwei NSU-Untersuchungsausschüssen im Bund scheint festzustehen, dass der Verfassungsschutz nicht so blind auf dem rechten Auge war wie häufig angenommen. Die zusammengetragenen Indizien sprechen dafür, dass man im Amt mehr über Verbleib und Aufenthalt des Trios wusste, als man bisher zugab. Welche negativen Folgen hat das für den Inlandsgeheimdienst? Keine, wenn es nach der Mehrheit im PUA und im Bundestag geht. Mehrere hundert Millionen Euro zusätzlich für das BfV und ein Stellenaufwuchs in dreistelliger Höhe – das war das Ergebnis des ersten PUA-NSU. Hier zeigen sich die Grenzen parlamentarischer Aufklärung.