Gedenken: Feldscheune Isenschnibbe Gardelegen
von Igor Netz
Magazin "der rechte rand" Ausgabe 166 - Mai 2017
Die sachsen-anhaltische Hansestadt Gardelegen liegt in der Altmark, gut 60 Kilometer nördlich der Landeshauptstadt Magdeburg. Am 13. April 1945 wurde die Feldscheune des Gutes Isenschnibbe am Rand von Gardelegen Schauplatz und Tatort der Ermordung von über 1.000 KZ-Häftlingen, die von der SS vorher auf einen Todesmarsch getrieben worden waren.
Um die Verbrechen in den Lagern zu verschleiern, begann die SS ab August 1944 mit der Räumung der Lager, die in den Frontbereich gerieten und zwang die halbverhungerten Häftlinge auf Märsche in andere Konzentrationslager im Innern des »Deutschen Reichs«. Tausende KZ-Häftlinge wurden auf diesen Märschen ermordet oder starben an Auszehrung. Mit dem Vorrücken der Front wurden die Todesmärsche immer chaotischer, teils gab es nicht einmal mehr Ziele für die so genannte ‹Evakuierung›.
Die Häftlinge, die am 12. und 13. April 1945 in der Remontesschule, einer alten Militärkaserne in Gardelegen eintrafen, kamen aus dem Neuengammer Außenlager Hannover-Stöcken und aus verschiedenen Außenlagern des KZ Mittelbau-Dora im Harz. In den Abendstunden des 13. April wurden die über 1.000 Häftlinge, auf Anordnung des örtlichen NSDAP-Kreisleiters Gerhart Thiele, gewaltsam in die gemauerte Feldscheune des Gutes Isenschnibbe getrieben. Ein SS-Mann entzündete benzingetränktes Stroh, das den Fußboden bedeckte, von außen wurde auf jene geschossen, die aus dem Gebäude zu fliehen versuchten. An dem Massaker waren Angehörige der Wehrmacht, des »Reichsarbeitsdienstes«, des »Volkssturms« und der SS beteiligt. Insgesamt wurden dabei 1.016 KZ-Häftlinge grausam ermordet. Nur etwa 25 Menschen konnten dem Morden entkommen. In den Morgenstunden des 14. April versuchten »Volkssturm«, Technische Nothilfe und Feuerwehr die Toten zu verscharren. Angesichts der Kapitulation vor der 102. Infanterie Division der U.S. Army misslang jedoch dieses Vorhaben. Die anrückenden amerikanischen Soldaten entdeckten zu ihrem Entsetzen in der Feldscheune die teils noch dampfenden Leichen.
Der Historiker Thomas Irmer weist in seinem Aufsatz »Neue Quellen zur Geschichte des Massakers in Gardelegen« im Gedenkstättenrundbrief 156 darauf hin, dass es »nicht nur in der Feldscheune, sondern auch in verschiedenen Dörfern und Wäldern der Umgebung sowie im Stadtgebiet von Gardelegen (…) zu Hetzjagden und Morden an KZ-Häftlingen« gekommen war. Nach Schätzungen kamen, so Irmer, »etwa 1500 KZ-Häftlinge in Gardelegen und dem Kreisgebiet von Gardelegen« um.
Die Verantwortlichen wurden nach der militärischen Niederlage des NS-Staates nicht belangt. Unter dem Tarnnamen Gerhard Lindemann lebte der ehemalige NSDAP-Kreisleiter Thiele bis zu seinem Tod im Jahr 1994 unbehelligt in Düsseldorf. Zwischenzeitliche Ermittlungen gegen ihn in den 1960er Jahren waren im Sande verlaufen. In der Bundesrepublik, die sich heute ihrer Aufarbeitungskultur rühmt, blieb die Verfolgung von NS-TäterInnen im Ansatz stecken. Es wird heute von 200.000 bis 250.000 TäterInnen bei der Judenvernichtung ausgegangen. Dabei sind KollaborateurInnen, die in der Mehrzahl aus Lettland, Litauen und der Ukraine stammen, nicht mitgerechnet. Von 13.952 Angeklagten wurden bis 2005 gerade einmal 6.656 verurteilt; viele davon zu kurzen Haftstrafen bis zu einem Jahr. Nur 166 Mal wurde das Urteil lebenslang verhängt.
Erinnern und Gedenken
Bereits in der DDR bestand am historischen Ort in Gardelegen eine Gedenkstätte. Sie erhielt ihre Prägung durch den staatlichen Antifaschismus im autoritären Sozialismus. Das historische Gelände wurde überformt durch zwei Flammenschalen, eine RednerInnentribüne, Fahnenmasten und »Steine der Nationen«. Die städtische Gedenkstätte war vor allem ein Ort für Großkundgebungen. Die Ermordeten wurden fälschlich alle als kommunistische WiderstandskämpferInnen heroisiert. Eine Auseinandersetzung mit der Tatbeteiligung vor Ort fand nicht statt, auch gab es keine wissenschaftliche Dokumentation des Mordens in Isenschnibbe.
Derzeit gibt es ein Besucherleitsystem aus dem Jahr 2013. Ein Gebäude, in dem eine Ausstellung einen Platz hätte, fehlt allerdings. Dabei zeigt der historische Tatort, wie lang die NS-»Volksgemeinschaft«, noch angesichts des verlorenen Krieges, zur Beteiligung oder Unterstützung an Morden bereit war. In Isenschnibbe ging es wohl wie an anderen Orten auch darum, mit den Häftlingen ZeugInnen der deutschen Verbrechen zu beseitigen. Als Lernort ist die Gedenkstätte zudem geeignet das Thema »Todesmärsche« zu vermitteln. In Sachsen-Anhalt hat sich bereits schon länger die Erkenntnis durchgesetzt, dass die Erweiterung um ein zeitgemäßes BesucherInnen- und Dokumentationszentrum notwendig ist. In diesem Zuge soll die alte DDR-Gedenkstätte selbst historisiert und erklärt werden.
Der Landesvorsitzende des »Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge«, Dieter Steinecke (CDU), hat sich als Landtagspräsident erfolgreich dafür eingesetzt, dass Gardelegen Isenschnibbe in die »Stiftung Gedenkstätten Sachsen-Anhalt« aufgenommen wurde. Mit der Übernahme der Gedenkstätte durch das Land beschloss der Landtag am 13. Dezember 2012 für den »Haushalt 2014 die Voraussetzungen für die Errichtung einer modernen wissenschaftlichen und pädagogischen Standards genügenden Gedenkstätte an der Feldscheune Isenschnibbe zu schaffen« (36. Sitzung zu Drucksache 6/1679).
Diskussion um die finanziellen Mittel
Bis zu diesem Beschluss scheint die Neugestaltung der Gedenkstätte in Sachsen-Anhalt eine, wenn auch ausgesprochen späte, erinnerungspolitische Erfolgsgeschichte zu sein. Mit Andreas Froese-Karow wurde 2015 ein Gedenkstättenleiter eingestellt, der auch den Umbau mitgestaltet. Den ausgelobten Wettbewerb für die Gestaltung gewann im April 2016 ein Berliner Architekturbüro. Der Entwurf wurde bereits im Rathaus von Gardelegen öffentlich ausgestellt. Am Rande des Gedenkstättengeländes soll ein Riegelbau als Dokumentations- und BesucherInnenzentrum errichtet werden, der in Sichtweite zum historischen Tatort und dem Friedhof für über 1.000 KZ-Häftlinge liegt. In dem Bau wird die geplante Ausstellung ihren Platz finden. Der Kostenrahmen für die Umgestaltung liegt bei 3,7 Millionen Euro.
Bis zum Herbst 2016 konnte davon ausgegangen werden, dass der notwendige Betrag in den Doppelhaushalt des Landes Sachsen-Anhalt 2017/18 eingestellt wird. Im ersten Entwurf für den Haushalt waren jedoch überraschenderweise keine Mittel für den Gedenkstättenausbau vorgesehen. Dies wurde auch durch den zweiten stellvertretenden Regierungssprecher der Magdeburger Staatskanzlei, Daniel Mouratidis, öffentlich bestätigt. Für die Gedenkstätte in der Altmark seien lediglich 800.000 Euro veranschlagt.
Ein Ausbleiben der Mittel hätte den Ausbau um mindestens zwei Jahre verzögert, wenn nicht gar infrage gestellt. Es ist vor allem Abgeordneten aus nahezu allen im Landtag vertretenen Parteien und dem Engagement von BürgerInnen vor Ort sowie dem Förderverein der Gedenkstätte zu verdanken, dass sich ein breiter Protest gegen die drohende Zurückstellung des Gedenkstättenausbaus regte, wobei es nahezu selbstverständlich ist, dass die »Alternative für Deutschland« (AfD) sich nicht für eine Modernisierung der Erinnerung an diesem Ort deutscher Verbrechen engagiert hat. Wie »DER SPIEGEL« vom 23. Januar dieses Jahres meldete, war bei der AfD-Fraktion ein Antrag zur Auflösung der »Stiftung Gedenkstätten Sachsen-Anhalt« in Vorbereitung, der im Anschluss an die Rede von Björn Höcke vom 17. Januar 2017 in der Versenkung verschwand. Das etwas randständige Vorhaben der AfD-Fraktion ist ein zusätzlicher Beleg dafür, dass geschichtspolitisch die Reise der Partei in Richtung Geschichtsrevisionismus und Erinnerungsabwehr geht und auf der Linie von Höcke der um »180 Grad gedrehten« Erinnerungspolitik liegt.
Zurück zu den Aktivitäten für den Gedenkstättenausbau: Konrad Fuchs, der Vorsitzende des örtlichen Gedenkstätten-Fördervereins, war angesichts der schlechten Nachrichten aus Magdeburg entschlossen eine Verzögerung des Ausbaus zu verhindern und setzte darauf, Abgeordnete zu mobilisieren. In einer Resolution vom 12. Dezember 2016 forderte der Gardelegener Stadtrat die Landesregierung auf, ihre Zusagen zum Ausbau der Gedenkstätte einzuhalten. Auch der Kreistag in Salzwedel verabschiedete zeitgleich eine entsprechende Petition. Scharfer Protest kam auch von einem Verband von Überlebenden, der »Amicale Internationale KZ Neuengamme«. So heißt es in einem Schreiben der »Amicale« an die Landesregierung vom 30. Januar 2017: »Die Verschiebung der Umsetzung des Projekts ist für uns nicht hinnehmbar. In Zeiten, in denen auf politischer Bühne offen eine Abkehr von der Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen gefordert wird, muss die Politik in Sachsen-Anhalt ein deutliches Signal setzen: Die Erinnerung an die nationalsozialistische Vergangenheit muss bewahrt und eine lebendige Auseinandersetzung mit jungen Generationen aus aller Welt gefördert werden.« Schlussendlich haben BürgerInnen vor Ort am 27. Januar, dem Jahrestag der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz, für den Aus- und Umbau demonstriert. Die Landesregierung stand unter Druck, zumal auch weite Teile der schwarz-rot-grünen Koalition dem Gardelegener Vorhaben gegenüber aufgeschlossen waren. Diese Konstellation ist insofern bemerkenswert und eine Ausnahme, weil Dieter Steinecke sich als CDU-Mitglied in der eigenen Partei für die Gedenkstätte eingesetzt hat.
Anfang Februar kam schließlich eine erleichternde Nachricht. Aus dem vorherigen Haushalt des Landes seien noch Mittel vorhanden, die für Isenschnibbe Gardelegen verwendet werden könnten. Nach der Mittelverabschiedung herrschte allenthalben Erleichterung. Es ist nun zu hoffen, dass der Um- und Ausbau der Gedenkstätte Isenschnibbe Gardelegen vorangeht und die Eröffnung wie geplant im Jahr 2018 stattfinden kann.
Eine öffentliche Solidarisierung von anderen KZ-Gedenkstätten blieb im Gegensatz zum regionalen Engagement aus. Über die Gründe für diese Enthaltsamkeit kann nur spekuliert werden. Immerhin handelt es sich bei der Feldscheune Isenschnibbe um einen Erinnerungsort von bundesweiter, ja internationaler Relevanz. Der dort zu thematisierende Verbrechenskomplex der Todesmärsche wird bisher in keiner anderen Gedenkstätte prominent aufgegriffen. Der Ausbau schließt hier eine Lücke. Leider sind vor allem diejenigen KZ-Gedenkstätten, die im Zuge der Bundesgedenkstättenkonzeption gefördert werden, nicht unbedingt für ihre geschichtspolitische Streitbarkeit bekannt. Genau die wäre aber aktuell gefordert, um Relativierungen der nationalsozialistischen Verbrechen entgegenzutreten. Extrem rechte Parteien und AkteurInnen haben am Geschichtsrevisionismus ein vitales Interesse, um nationale Mythen zu (re)aktivieren. Aber auch eine totalitarismustheoretisch ausgerichtete »Waagschalenmentalität« (Salomon Korn) in der Betrachtung von Nationalsozialismus und Staatssozialismus wie sie Hubertus Knabe, Direktor der »Gedenkstätte im ehemaligen Gefängnis der Staatssicherheit Berlin-Hohenschönhausen« oder die »Stiftung Sächsische Gedenkstätten« an den Tag legen, hat für extrem rechte Geschichtsbilder mindestens eine Wegbereiterfunktion. Das Beispiel der Gedenkstätte Feldscheune Isenschnibbe zeigt, dass die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus weiterhin aktiv erstritten werden muss. Es ist zu hoffen, dass sich AntifaschistInnen neben den wichtigen Straßenmobilisierungen vermehrt geschichtspolitisch engagieren, um auch in diesem Bereich extrem rechten Bestrebungen oder auch dem allgemeinen Vergessen entgegenzutreten.